Conchita Wurst und die Sprache
Am 10. Mai geriet ich beim Zappen in den Eurovision Song Contest. 12 Songs waren schon vergangen, 15 sollten noch kommen, und tatsächlich hielt ich durch bis zum Schluss und vergab dann meine Stimme an Sängerinnen aus Slowenien, Aserbeidschan und Österreich, obwohl ich Conchita Wursts „Rise like a Phoenix“ gar nicht live erlebt hatte, sondern nur die kurzen Ausschnitte, die während der Abstimmzeit als Gedächtnishilfe abgespielt wurden. Aber ich dachte, sie verdient schon allein wegen ihres Muts, als Frau mit einem Vollbart aufzutreten, sei er nun echt oder aufgemalt, jede Unterstützung.
Es stellte sich bald heraus, dass ich mich doppelt geirrt hatte: Erstens brauchte die strahlende Gewinnerin meine Unterstützung nicht, und zweitens war sie keine Frau. Dass sie in Wirklichkeit Tom Neuwirth heißt und ein schwuler Travestiekünstler ist, erfuhr ich erst, als ich nach der Sendung Wikipedia befragte. Bis dahin dachte ich, vor allem wegen der überzeugend weiblichen Stimme, Conchita Wurst wäre eine Frau, die sich einen Bart angeklebt hat, um richtig schön zu provozieren, was im Showbiz bekanntlich schon die halbe Miete ist. 2006 war das letzte Mal, dass ich einen ESC durchstand; es gewann die finnische Gruppe Lordi mit dem Song „Hard Rock Halleluja“. Ich erinnere mich nur noch an abscheuliche Monsterkostüme und einen Höllenlärm - damals offenbar genau die richtige Siegesmixtur. Da ging es diesmal damenhafter und gepflegter zu.
Ob Thomas Neuwirth etwas mit Olga Neuwirth, der bedeutenden österreichischen Komponistin, zu tun hat, konnte ich bisher nicht herausfinden. Vom Alter her könnte die 1968 Geborene knapp seine Mutter sein, und musikalisch und rebellisch sind sie beide, das käme auch hin. Andererseits las ich irgendwo, dass Tom Neuwirths Eltern eine Gastwirtschaft haben.
Es wird wohl so sein, dass Österreich nun zwei international berühmte Musikerinnen hat, die zufällig denselben Namen tragen - wie schön!
Frauen mit Bart sind ja keine Seltenheit, je älter wir werden, umso nachhaltiger sprießt er - nur mögen die meisten sich damit nicht sehen lassen und entfernen die ungeliebten Haare im Gesicht sorgfältig. Auch Mann-zu-Frau-Transsexuelle haben endlosen Ärger mit der verhassten Gesichtsbehaarung und unterziehen sich peinvollster Epilation. Ich hoffe, dass Conchita Wurst hier stilbildend oder wenigstens entkrampfend wirkt. Ihre Botschaft: „Ihr könnt tun was ihr wollt und aussehen wie ihr wollt, solange ihr niemanden verletzt“. Bis jetzt haben die Frauen mit Bart sich immer nur selbst verletzt…
Wie die jesusähnlich gestylte Conchita die ESC-Gemeinde im Sturm eroberte, war ein denkwürdiges und erhebendes Ereignis. Ich war geradezu ergriffen. Das hätte ich Europa, das z.Zt. immer mehr nach rechts abdriftet, nie zugetraut. Ein wirklicher Durchbruch ist dieser Frau mit dem Bart gelungen, die es ersichtlich selbst kaum fassen konnte, als aus so vielen Ländern wieder und wieder gemeldet wurde: „Und 12 Punkte (die Höchstwertung) geben wir an Österreich!“ Es waren auch 1969 in der New Yorker Christopher Street die Drag Queens, die verachteststen der Verachteten, die den Stein ins Rollen brachten.
Trotz des Riesenfortschritts in Sachen Gerechtigkeit und Respekt (das Wort „Toleranz“ mag ich nicht) für Schwule, Transpersonen und Frauen mit Bart hätte ich das Thema hier wohl nicht aufgegriffen, wenn es nicht auch spannende sprachliche Aspekte hätte.
Conchita Wurst erzählt, den Nachnamen hätte sie sich ausgewählt, um zu signalisieren, dass das Geschlecht und das Aussehen wurst seien. Und den Vornamen habe ihr eine kubanische Freundin geflüstert. Sehr passend für eine Drag Queen, diese Kombi aus „kleine Muschel / Muschi“ (Conchita) und Wurst. Ins Gastronomische übersetzt wird fast eine Paella daraus…
Trotz dieser hübschen Zweideutigkeiten möchte wohl niemand im Ernst mit Nachnamen Wurst heißen. Auch da hat Tom Neuwirth Mut zur Hässlichkeit bewiesen und sich zielsicher volle Aufmerksamkeit verschafft.
Während in den vergangenen Monaten und Wochen die sprachpolitischen Lager sich eifrig stritten, ob das Maskulinum (wie bisher) oder das Femininum (seit Leipzig) für beide Geschlechter stehen können solle, erleben wir jetzt, wie die Leute und die Medien willig den Vorgaben Neuwirths folgen und für ihn und seine „Kunstfigur“ bzw. sein Alter Ego Conchita Wurst mal das Femininum, mal das Maskulinum benutzen. Und zwar offenbar völlig mühelos. Für/Seit Thomas Neuwirth bzw. Conchita Wurst gilt nicht mehr das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-Als auch. Und zwar mit Nachdruck:
weder Name noch Aussehen sind ein schwerer Schicksalsschlag, sondern frei gewählt. Im privaten Leben heißt die Sängerin Thomas Neuwirth. Als solcher tritt er bei der ORF-Castingshow "Starmania" 2007 zum ersten Mal auf. Quelle: hier
Das Thema Toleranz, unter das Conchita Wurst ihre Performance gestellt habe, ist nach den Worten des Kardinals "ein reales, ein großes Thema". Menschen wie er müssten viel Spott, Gemeinheit und Intoleranz erfahren. Quelle: hier
Wenn wir diese Wurstigkeit auf den allgemeinen Sprachgebrauch übertragen, heißt das, dass wir für beide Geschlechter sowohl das Femininum als auch das Maskulinum verwenden können. Ist ja eh völlig wurscht. Na denn. Sag ich doch. Alle Menschen werden Schwestern. „Und ich bin die Oberschwester“, rief mein schwuler Freund Jürgen triumphierend, als er den Titel meines Buches 1990 zum ersten Mal hörte.
Neuwirth & Wurst haben wahrscheinlich mehr für die Aufweichung und Überwindung rigider Geschlechtsnormen erreicht als ganze Bibliotheken gendertheoretischer Werke. Am Anfang war die Tat. •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
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14 Kommentare
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19.05.2014 um 16:10 Uhr lfp
und noch früher war da Königin Hatschepsut mit ihrem Zeremonialbart (Ägypten, 15. Jh. v.u.Z.)
19.05.2014 um 14:34 Uhr Amy
Die Idee gehört den Frauen, wobei Bärte für den Feminismus der franz. Feministinnengruppe `La Barbe` heute in Vergessenheit geraten sind. Diese Frauen mit Bärten demonstrierten 2007 über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und gegen den Sexismus. Dazu gingen die Aktivistinnen gezielt an Orte männlicher Macht. Ihr zentrales Symbol , um die Ungleichheit zwischen Mann und Frau aufzuzeigen, war ein umgehängter Bart, sinngemäß: `Es reicht`.
http://frauengegensexuellegewalt.wordpress.com/2013/03/24/montagsbild-action-la-barbe/
19.05.2014 um 13:41 Uhr anne
liebe Luise - die message zur optik `du kannst so aussehen , wie du willst`, auch als frau mit bart oder als mann im kleid, rock ist in ordnung - die botschaft bedeutet aber auch, sowohl der barbie-traum kann belassen bleiben. alles ist so hinzunehmen, wie es letztlich gefällt , angefangen von Heidi Klums modell-show bis zur barbiemäßigen ver-/kleidung . bin gespannt, ob ab heute die ersten frauen ihren Eigenen frauenbart öffentlich zeigen . ich will das ja nicht mehr komplizieren, aber etliche fragen fallen mir dazu ein - und nur feministinnen hatten bisher den mut , sich überhaupt einmal kritisch zum thema totalrasur zu äußern; denn die meisten - bestimmt auch T.W.s begeisterte - lehnen von der schulter abwärts jegliche körperbehaarung ab und rasieren, rasieren, rasieren. vielleicht ändert sich das ja jetzt endlich?
`es ist wurst wie man aussieht, man soll nur sein leben toll gestalten` (Chonchita) . ob er als schwuler mensch mit künstlichem bart und kleid im showbiz überhaupt an den Frauenbart gedacht hat?
wäre ja prima, wenn sich jetzt männer und frauen sowohl gegen die (intim-)rasur als auch für das generische femininum überzeugen ließen.
19.05.2014 um 11:38 Uhr lfp
@anne: Du fragst: “Was unternimmt Conchita gegen den jugend- und schönheitswahn, etc?” Sie unternimmt allerlei, finde ich. Bis zu ihrem Auftritt galt eine Frau mit Bart als unmöglich. Transsexuelle und Transvestiten taten alles, um eine “perfekte (also sexistische, künstliche, barbiemäßige) Weiblichkeit” darzustellen. Diese Vorschrift hat Conchita Wurst kühn ignoriert und verkündet durch ihr Beispiel und mit Worten: “Du kannst so aussehen, wie du willst.”
19.05.2014 um 11:29 Uhr Oliver Gassner
Und ich hätte drauf gewettet, dass genau diese Beobachtung kommt. Das war mir nämlich auch aufgefallen, dass hier plötzlich jede Zuordenbarkeit des “grammatischen Geschlechts” verschwimmt und die “andgenommene Rolle” dominiert.
Danke ;)
19.05.2014 um 11:24 Uhr anne
am anfang war die tat - genau - und die taten und worte gingen von frauen aus, von feministinnen, emanzen, lesbischen frauen. die untaten der männer in ihrer gewünschten maskulinität voller gewalt und misogynie sind ja hinlänglich bekannt. jetzt betritt ein mann die bühne und erreicht angeblich mit seiner tat mehr? daran kann ich so gar nicht glauben, dass uns ein mann ,ausgerechnet im showbiz als `befreier` in jesus-gestalt erlösen soll.
ich bin voller leidenschaft auch für die gerechte sprache und vor allem für die worte, die analyse und ideen, die dem fantastischen weiblichen geist entspringen . werden sie erst dann mit einem aha-erlebnis respektiert, wenn mann die bühne als chonchita betritt? wer erinnert sich später an den ideenreichtum, den kampf von feministinnen , an die feministischen theoretikerinnen?
was unternimmt der Chonchita gegen den jugend- und schönheitswahn, gegen die sexistische werbung, von der vor allem frauen, mädchen betroffen sind, von der sexistischen modulation weibl. menschen auf dem laufsteg , gegen das sexistische barbie-image, das schon mädchen zum gefallen anderer in den hungerwahn und ins bühnen-abseits treibt? der laufsteg gehört den schwulen männern…
letztlich sind mir worte und gedanken überaus wichtiger als eine klischeehafte geschlechter-performance im showbiz. darüber können mich auch ein bart oder eine sexy ausstrahlung in high heels nicht hinwegtäuschen.
alle menschen werden schwestern? ob Chonchita das je lesen wird?