Demikratiebewegung: In Ägypten revoltieren junge Männer gegen alte Männer.
Vorbemerkung: 6 Stunden nachdem ich diesen Text ins Netz gestellt hatte, machte mich Sarah Horsley auf eine 2stündige Videosendung auf der Webseite "Democracy Now" aufmerksam. Etwa nach der 90. Minute wird ein außerordentliches Video abgespielt, das am 18. Januar von einer jungen Ägypterin, Asmaa Mahfouz, auf Facebook veröffentlicht wurde. Darin ruft sie alle Ägypterinnen und Ägypter auf, am 25. Januar zum Tahrir-Platz in Kairo zu kommen und für ihre Rechte zu demonstrieren. Amy Goodman von "Democracy Now" sagt, dies Video werde allgemein als Auslöser der ägyptischen Revolution angesehen, nachdem es sich wie ein Lauffeuer in Ägypten verbreitet hätte. Viele, die am 25. Januar auf den Tahrir-Platz gingen, taten es wegen Asmaa Mahfouz' Aufruf zur Revolution. Ob Asmaa Mahfouz/Machfus mit Nagib Machfus, dem ägyptischen Literaturnobelpreisträger von 1988, verwandt ist?
Hier geht es zu Asmaa Mahfouz' Aufruf. Er beginnt, wie gesagt, etwa bei der 90. Minute. Warum habe ich in den Malestream-Medien bis heute nichts von ihr gehört?
Und hier gibt es 128 Fotos von Frauen der ägyptischen Revolution, "die in den ersten Tagen übersehen/versteckt wurden von/vor den Augen der Weltöffentlichkeit!"
Hier ein offener Brief von Helke Sander an die deutschen Medien: Mehr Infos über ÄgypterINNEN, bitte! Bitte unterstützen und weit verbreiten!
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Ein Bild aus der New York Times mit der Unterschrift „Hundreds of Thousands of people packed Tahrir Square on Friday.“
Besteht „das ägyptische Volk“ nur aus Männern? Frauen sehe ich unter diesen Hunderttausenden „people = Leuten/Menschen“ nicht eine einzige. Auch auf den vielen anderen Bildern, die uns erreichen, sehen wir keine Frauen, oder nur ganz wenige. Aber alle Welt spricht von einem Aufstand, einer Revolution des ägyptischen Volkes und von einer Demokratiebewegung. Was für ein Etikettenschwindel. Demos (griech.) heißt "das Volk". Womit wir es hier zu tun haben, ist höchstens eine Demikratiebewegung (von frz. demi "halb")
Treibende Kraft der Unruhen sind junge Männer, hören wir. Männer, die keine Arbeit haben und keine Aussichten, ein lebenswertes Leben zu führen. Wenn nicht alle Mädchen abgetrieben oder umgebracht worden sind, müsste diese Aussage auf genau so viele junge Frauen zutreffen: Arbeitslos und ohne Chancen. Warum gehen die nicht auf die Straße? Die Männer, die wir in den westlichen Medien zu sehen bekommen, wurden von Frauen geboren, die ihrerseits auch Mädchen geboren haben. Wo sind all diese Frauen und Mädchen?
Das Erschütterndste aber ist, dass das eklatante Fehlen der Frauen fast niemals in den westlichen Nonstop-Berichten über die Unruhen in Ägypten thematisiert wird. Ähnlich wie ja den meisten Menschen im Westen das eklatante Fehlen der Frauen in fast allen Machtpositionen auch kaum auffällt.
Die eine Ausnahme ist, wieder mal, Alice Schwarzer. Sie macht den Mund auf und warnt, wie immer, vor blauäugiger westlicher Revolutionsseligkeit. Sie erinnert an den Iran: wie damals vor 32 Jahren auch ein verhasster Diktator vom Volk gestürzt wurde, und wie danach die Islamisten ihren hundertmal schrecklicheren Gottesstaat errichteten. Haben wir Marjane Satrapis Film „Persepolis“ alle schon wieder vergessen, der genau diese Pervertierung der iranischen Revolution zum Thema hat?
Schwarzer erinnert daran, dass die Gefahr auch jetzt wieder besteht - und verurteilt die Einäugigkeit der westlichen Berichterstattung, die von "Demokratiebewegung" spricht, obwohl die Hälfte des Volkes ihr fernbleibt oder ferngehalten wird. Aber der Etikettenschwindel hat ja Tradition. Im alten Griechenland, gern "Wiege der Demokratie" genannt, durften nur wenige privilegierte Männer wählen. Die Schweiz, die erst 1971 das Frauenwahlrecht einführte, gilt bei uns als "Mutterland der Demokratie".
Es heißt, dass die ägyptische Frau in der Öffentlichkeit unerträglichen sexuellen Belästigungen ausgesetzt ist. Vergessen wir auch nicht: Ägypterinnen sind fast zu hundert Prozent Opfer von Genitalverstümmelung. (Quelle: Wikipedia)
An der französischen Revolution von 1789 und der „friedlichen“ Revolution im Ostblock 200 Jahre später waren Frauen in gleicher Weise beteiligt wie Männer. Nach dem Erfolg dieser Revolutionen wurden die Frauen zwar an den Rand gedrängt mit „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und in "Expertenrunden", in denen ausschließlich Männer saßen - aber immerhin haben wir jetzt eine Kanzlerin aus ebendiesem ehemaligen Ostblock.
Bei der ägyptischen Demikratiebewegung hingegen sind Frauen von vornherein kaum auszumachen - wenn die Revolution erfolgreich ist, werden sie vielleicht ganz hinter den Mauern des Privatlebens verschwinden.
Die Muslim-Bruderschaft weckt mit ihrem Namen auch wenig Vertrauen. Das Militär ist eine weitere Kraft, mit der zu rechnen ist. Gibt es da Frauen? Gesehen hab ich keine.
Trotzdem: Nehmen wir uns ein Beispiel an dem Aufstand der jungen Männer in Ägypten. Wenn die den alten Mubarak stürzen können, indem ein bis zwei Millionen demonstrieren gehen - was könnten Abermillionen von Frauen weltweit nicht alles erreichen, wenn sie mal überall, auf allen Straßen der Welt, für ihre Rechte demonstrieren würden!
••••••••••••••••••••••••• Nachtrag am 9. März 2011: Ägyptische Frauen wollten zum Weltfrauentag für ihre Rechte demonstrieren und wurden von ihren Landsmännern brutal daran gehindert. Freiheit soll es wohl vorerst nur für Männer geben. Ein Bericht der neuseeländischen Journalistin Glen Johnson, die dabei war:
http://mondediplo.com/blogs/tahrir-square-8th-march-not-a-good-day-for-women
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28 Kommentare
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06.02.2011 um 18:07 Uhr Kalinka
Stimmt alles, aber es sind in Ägypten wirklich ziemlich viele Frauen dabei.
Herzlichst,
Kalinka
06.02.2011 um 17:18 Uhr Piratenweib
Wichtiger als die momentane Sichtbarkeit von Frauen auf dem Tahrir Platz ist sicher, wie es nach einem Umsturz / Regierungswechsel für die Frauen weitergeht.
Es besteht durchaus die Gefahr, dass nur eine Diktatur durch eine andere abgelöst wird. Wenn eine fundamentalistische Organisation es schafft, die Macht an sich zu reißen, wären die Folgen für die Frauen in Ägypten verheerend. Schon jetzt haben sie, wie ganz richtig oben beschrieben, so gut wie keine Rechte und werden zu ca. 98% verstümmelt. Mit einer fundamental islamistischen Regierung würde sich daran sicher nichts verändern.
Ich sehe hier eine große Verantwortung bei den westlichen Ländern, die ja eine Art von Demokratie vertreten. Sie können durchaus Einfluss nehmen auf die Entwicklung der Revolution. Klare Worte und Stellungnahmen sind gefragt (zu Zeiten Mubaraks ist es westlichen Politiker_innen ja auch nicht schwer gefallen, diesen Diktator zu unterstützen). Es wird Zeit, dass wir Diktaturen nicht mehr aus menschenverachtenden Beweggründen stützen. Menschenrechte gelten auf der ganzen Welt gleich. Deshalb dürfen wir Länder, deren Regierungen diese missachten, nicht unterstützen.
06.02.2011 um 17:15 Uhr Barbara J. Speck
Ein superguter Blog, liebe Luise. Danke!
Aber dürfen wir vergessen, wie viele Frauen gehirngewaschen und vom patriarchalen System verführt und verdorben sind, im feministischen Sinn verdorben ?
Weiter so und herzlich
Barbara
06.02.2011 um 16:35 Uhr Alison
Diese Eindruck muss mit den Deutschen Medien zusammenhaengen. Hier in den USA hoeren wir regelmaessig von Frauen der Bewegung. Sie geben Interviews, ihre Meinung wird gefragt (was, leider, auch in Iran passiert ist, und dann wurden sie beiseite geschoben) sie machen mit und machen die wichtige “Support” Arbeit - Essen bringen, Verletzten pflegen - wie frauen einer Widerstand schon immer gemacht haben. All dies wird hier berichtet - auch von Frauen, die den USA verlassen um sich an den Aufstand zu beteiligen.
Auch die politische Analysen werden von Frauen der hiessige Medien gemacht - mehr als nur 10-15%. Expertinnen kommen zu Wort, von den ich bislang selten gehoert habe, und Journalistinnen sind involviert in die Berichterstattung oder gestalten Gespraeche zum Thema (z.B. Diane Rehm).