Männlichkeiten
In den 90er Jahren war der Dekonstruktivismus im Volk angekommen; wir lernten, daß es nicht nur DIE Literatur gibt, sondern VIELE Literaturen. Die Feministinnen sprachen nicht mehr nur von Männlichkeit, sondern von verschiedenen Männlichkeiten, “masculinities”. Die Männlichkeit von Hooligans unterscheidet sich z.B. erheblich von derjenigen buddhistischer Mönche.
Ich hatte in den letzten Tagen reichlich Gelegenheit, zwei sehr unterschiedliche Männlichkeiten zu studieren.
Zum einen gab es in Boston, wo ich mich gerade aufhalte, massives Getöse wegen der sogenannten World Series (was trotz des weltumspannenden Namens nur “(nord)amerikanische Baseball-Meisterschaft” bedeutet): Die Boston Red Sox hatten es wieder bis in die Endspiel-Serie gebracht.
Baseball hat mich nie interessiert; ohne Kenntnis der Regeln ist das Zuschauen langweilig bis eklig, und zum Erlernen der Regeln habe ich mir nie die Zeit genommen.
Diesmal aber hatte ich Zeit, denn meine amerikanische Familie wollte die Spiele sehen und beantwortete geduldig alle meine Fragen, auch die dümmsten.
Es gefiel mir, daß der Jugendwahn sich beim Baseball in Grenzen hält; die Spieler waren gestandene Männer. Spannend auch, daß fast alle Spieler mehrere Funktionen haben und entsprechende Fertigkeiten pflegen müssen, als Schläger, Fänger, Läufer, Mittelfeldspieler usw..
Eigentlich ein schönes Spiel - wenn die Männer nur nicht spucken würden wie die Lamas, andauernd und in Großaufnahme. Entweder mahlten sie den Kautabak stoischen Blicks zwischen ihren gewaltigen Kinnladen hin und her, oder sie spuckten um sich, und die Kamera folgte der Spucke, als wäre sie ein besonders geschickt geworfener Baseball. Fußballspieler sind ja auch berüchtigt für ihre Spuckerei, aber im Vergleich zu dem, was die Baseballspieler aus sich herausholen, ist das nur ein sanftes Nieseln.
Übrigens ist mir kein Sport bekannt, bei dem Frauen wild um sich spucken. Vielleicht kommt der Frauen-Baseball nicht recht voran, weil die Frauen das baseballgerechte Spucken nicht über sich bringen.
Schon Charles Dickens hat auf seiner Amerikareise 1842 mit Ausdauer und Abscheu darüber Buch geführt, wie die amerikanischen Männer alles mit schwarzer Kautabak-Soße überziehen. Einmal erzählt er von einem “perfect storm”, einem Spuck-Hurrikan, dem sein Mantel zum Opfer fiel. In geschlossenen Räumen müsse man durch einen schwarzen Schleim waten, in dem man leicht ausrutsche…
Die Amerikaner finden, Dickens habe mächtig übertrieben, aber wenn ich die eklige Spuckerei der Baseball-Helden der Nation sehe, kommen mir seine Schilderungen irgendwie plausibel vor, denn das Publikum scheint mit diesem Benehmen einverstanden zu sein.
Die Red Sox gewannen in Denver, und Boston bereitete ihnen zur Heimkehr einen tosenden Empfang. Es gab eine Parade, Ansprachen des Bürgermeisters, undsoweiter.
Während des Begrüßungsrummels waren Joey und ich gerade in der Orthopädie des Brigham & Women’s Hospital zwecks Nachsorge für ihr gebrochenes Handgelenk. Wir wurden in den Cast Room geschickt, wo die Verbände von zwei behutsamen Krankenpflegern angelegt oder abgenommen werden, dann in die Röntgenabteilung, und zum Schluß hatten wir eine Audienz bei der Chirurgin. In den diversen Warteräumen lief leise der Fernseher und zeigte die triumphale Rückkehr der millionenschweren Baseball-Helden - aber niemand kümmerte sich darum. Die Leute hier hatten andere Sorgen. Ich aber schaute hin und wieder hin - das Spucken hatte aufgehört, und einen der Spieler sah ich sogar lächeln; er war kaum wiederzuerkennen.
Mir gefiel die Atmosphäre im Krankenhaus, besonders die ganz andere Männlichkeit, die dort zu erleben war. Die Männer kamen hereingehumpelt und ließen sich lammfromm von den Krankenschwestern hin und herschicken, ganz wie Joey und ich. Als hilfreiche Begleiter warteten sie geduldig mit ihren alten Müttern, frisch operierten Partnerinnen oder kleinen Kindern, bis auch deren Zeit mit der Chirurgin gekommen war. Diese war tüchtig und freundlich, aber bestimmt. Ihre Sprechstundenhilfe war ein etwas ungeschickter junger Mann.
Diese Männlichkeit unterschied sich kaum von Weiblichkeit. Kein Mann spuckte schwarze Soße in den Raum.
Es heißt, daß über kurz oder lang jeder Baseballspieler in der Orthopädie landet. DIE Gelegenheit, eine andere Männlichkeit zu praktizieren.
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8 Kommentare
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19.04.2008 um 22:57 Uhr Anne
WDR 5 (Venus_fm) brachte am 16.1o.2004 eine Sendung über “Das Spucken zum Beispiel - Symbole, Bedeutungen und Machtworte aus der Sicht der Frauen”
“Nach einem ägyptischen Schöpfungsmythos sind die ersten Geschöpfe aus einem Speichelwurf entstanden. Aus dem Mund also, so wie das Wort. Nach einer anderen Version des Mythos, durch die Masturbation. Spucke und Sperma haben demnach die gleiche Funktion, sie sind Zeichen von Virilität, von männlicher Kraft. Es könnte also kein Zufall sein, wenn die Fußballspieler die Notwendigkeit sehen, immer öfter zu spucken. Thomas Alkemeyer ist Soziologe und lehrt historische Anthropologie des Körpers und der Bewegung an der Universität von Oldenburg.
O-Ton Alkemeyer - Fußball ist ein Spiel, in dem es auch um die Einübung von kulturellen Mustern v. Männlichkeit geht ....., und zu diesen männl. Ritualen gehört das Spucken, gewissermassen ein territoriales Verhalten, ein markieren des Territoriums, als ein demonstrieren von Unabhängigkeit, von Autonomie allen Konventionen gegenüber, denn man kann sogar auf das Taschentuch verzichten und spuckt auf den Boden.
Das Verhalten der Fußballspieler zeigt also Ähnlichkeiten m.d. ägyptischen Schöpfungswesen Atum, der das erste Zwillingspaar durch seine Spucke gezeugt hat.
Dieses demonstrativ männl. Spucken ist zweifellos eine Geste der Macht, Stärke .... Es gibt psychologische Theorien, die behaupten, daß das auch eine Art von Befruchtung und Besamung des Rasens wäre, wenn der Mann auf dem Rasen speicheln würde.”
Und so verspucken nicht nur Fußball- und Baseballspieler ihren Spermaersatz vor laufender Kamera , um damit protzend ihr imaginäres Fortpflanzungspotenzial in allen Lebenslagen zu demonstrieren. Pfui deibel!
13.04.2008 um 18:02 Uhr P. Redvoort
.. ich habe im Internet sogar schon ein “Museum der Männlichkeiten” gefunden - interessantes Projekt:
http://www.masculinities.org .
LG P.R.
10.11.2007 um 18:07 Uhr Evelyn Thriene
Zu den so “angenehmen” Männlichkeiten gehört auch das allseits bekannte Grölen, sei es im Fußballstadion wie auch des nachts auf der Straße, wenn die Kneipen schließen ... auf jeden Fall, wenn viele Menschen schon schlafen möchten. Dies tritt immer gemeinsam mit dem männlichen Hordentrieb auf. Es scheint einfach nicht ohne zu gehen - je primitiver, umso “besser”, wie lautstark zu hören ist.
09.11.2007 um 18:30 Uhr Anne
Auch Janet hat es gut auf den Punkt gebracht, was viele Männer unter Männlichkeit verstehen. Und wie wir Frauen angefeindet oder als frustrierte Alte u. drgl. mehr beschrieben werden, sobald unsere berechtigte Kritik mal in Richtung `Mann` geht, habe ich häufig und bis heute verbal zu spüren bekommen.
Ich sehe was, was du nicht siehst - welcher betroffene Spucker ohne Benehmen sieht, erkennt und übt Selbstkritik - geschweige denn verändert sich?
Und wie sieht es bei unseren spuckenden Vierbeinern - den Lamas - aus: Nur wenn sie wütend oder eifersüchtig sind oder sich bedroht fühlen, spucken sie um die Wette und das bis zu 5 m je nach körperlicher Verfassung und Aufgeregtheit.
Und warum spucken die Chinesen ständig auf den Boden und auch als Touristen im Ausland, so daß eine Kampagne gegen schlechtes Benehmen Abhilfe schaffen soll. Hier wurde nun erkannt, daß durch das ungehobelte Benehmen das internationale Ansehen Chinas schwer beeinträchtigt ist.
Welche Wege nun eingegangen werden sollen, um eine andere Männlichkeit praktizieren zu können?
Wer sich nicht helfen lässt, dem soll auch nicht geholfen werden. Aber Frau kann auch ganz selbstbewußt sein und sagen, laßt sie doch so wie sie sind, wendet euch mit Freude ab, denn auch Mütter haben schöne Töchter. :-)
Liebe Luise, da hast Du wieder ein originelles Werk vollbracht - ich war happy und ganz Ohr. Wer hat schon den Mut, dieses Thema so humorvoll verpackt anzusprechen.
09.11.2007 um 11:09 Uhr Joachim
Hallo,
da ich die Vorurteile, die man – vor allem im Westen, aber nicht nur dort — vom Buddhismus hat, kenne, verstehe ich ungefähr, was mit dem Satz „Die Männlichkeit von Hooligans unterscheidet sich z.B. (sic) erheblich von derjenigen buddhistischer Mönche.“ gemeint ist.
Gautama Buddha warnte vor den Frauen: schaut sie nicht an, und falls ihr es doch tut, dann seid auf der Hut; ihn störte besonders die materielle Weltgebundenheit der Frauen.
Buddhistische Mönche bildete man in vergangenen Zeiten zu Kriegern aus, in Japan mußten Millionen im Namen des heiligen Buddha sterben. In Tibet hielt man vor ca. 1950 Leibeigene, denen man bei den kleinsten Fehlern die Augen ausstach, Zunge herrausriß, Haut abzog und Gliedmaßen abtrennte – Frauen hielt man sich als Sexsklaven. Der Einmarsch der Chinesen ist eher ein Fortschritt. Auch Christen wurden verfolgt und abgeschlachtet, besonders frauenfeindlich ist der Lamaismus (Tantrismus).
Aber das sei hier nur kurz angemerkt; Lektüre zu diesem Thema gibt es genügend. Eine kritischere Umgangsweise in den Medien mit dem Buddhismus vermisse ich schmerzlich, besonders unkritisch war hier das letzte SPIEGEL-Spezial über den derzeitigen Dalai Lama.
Mit freundlichem Gruß
Joachim
05.11.2007 um 13:23 Uhr Jacqueline
wunderschön, ich könnte mich ausschütten. Das hat meinen Montagmorgen sehr erheitert. DANKE liebe Luise!
04.11.2007 um 22:52 Uhr Soozie
Vielen Dank! Hab laut lachen muessen, und die Glosse hat mich am mueden Sonntagabend aufgeheitert.
03.11.2007 um 08:29 Uhr janet
liebe luise,
diese beschreibung ist nicht übertrieben. ich freue mich endlich mal eine frau zu “lesen” die diese form der “männlichkeit” zum thema macht.
wenn ich mir vorstelle, sämtliche frauen würden sich in aller öffentlichkeit vorn an der hose etwas zurecht rücken oder sich des öfteren am busen herum grabbeln, noch dazu ganz wichtig durch die gegend spucken und zu allem überfluss den nächsten baum ansteuern, zum demonstrativen “wasserlassen”... ich vermute das es einen aufschrei in der gesellschaft gäbe.
oder frau stelle sich einmal vor, überall demonstrativ wie es “spuckende lamas” und andere “männlichkeiten” meist zu tun pflegen, breitbeinig in öffentlichen orten zu sitzen, wohl wissend das es unsozial/respektlos anderen gegenüber ist…
einst fragte ich einen dieser männlichkeitsvertreter in der u-bahn , ob er eine schlimme entzündung hat oder ein anderes leiden am hoden, das ihn dazu bringe so sitzen zu müssen. schwubs waren die beine zusammen und ich hatte platz zum sitzen.
seltsam nur das dieses verhalten bei vertretern dieser “männlichkeiten” (nicht nur im sport sondern im alltäglichen leben) keinen öffentlichen anstoss findet. seltsam auch das diese “männlichkeiten” partnerinnen finden, die dieses verhalten mit tragen.
...grks