Miegel und Seidel
Eine alte Freundin ist kürzlich im Alter von 89 Jahren gestorben; sie unterstützte unseren Verein FemBio Frauenbiographieforschung als zahlendes Mitglied und auch ideell durch lebhaftes Interesse und Staunen über all die großartigen Frauen, die FemBio ausgegraben hat und im Internet bekanntmacht.
Ihre Mutter war eine bekannte Rezitatorin gewesen, und so war Helga mit den großen Balladen aufgewachsen. Zwei Jahre vor ihrem Tod gab sie für ihre zahlreichen Freundinnen und Freunde selbst noch einen Balladenabend - eine bewundernswerte Interpretations- und Gedächtnisleistung. Zu diesem Abend kamen wir vom FemBio-Verein zu Dritt und überreichten eine Flasche Himbeergeist (sie mochte geistige Getränke). Angebunden war ein kleines Kärtchen “Von Ihren Fembio-Freundinnen”. Das Wort “Freundinnen” rührte sie so sehr, dass sie uns bald darauf das Du anbot. Wir kannten uns da schon 13 Jahre - aber sie gehörte einer anderen Generation an, die es mit dem Siezen und Duzen ernst und genau nahm.
Nun arbeite ich seit ihrem Tod an einer Biografie der Balladendichterin Agnes Miegel für die FemBio-Webseite. Mindestens zehn Bücher hat Joey für mich aus der Widener-Bibiothek der Harvard-University angeschleppt. Seit Jahrzehnten schon war keines der bestellten Bücher ausgeliehen worden - offenbar interessiert sich niemand mehr für Agnes Miegel.
Das schmerzte eben auch unsere alte Freundin Helga, und deshalb wiederholte sie des öfteren: “Ihr müsst aber bald auch mal ein Porträt von Agnes Miegel bringen!” Ich habe mich gedrückt, aus Zeitmangel und auch, weil ich von Agnes Miegel nicht mehr wusste, als dass sie umstritten ist. Da war die große Gemeinde von AnhängerInnen der “Mutter Ostpreußen”, die 1945 als 66jährige aus ihrer Heimat fliehen musste und schließlich über ein Flüchtlingslager in Dänemark nach Bad Nenndorf in Niedersachsen kam, wo sie ihren Lebensabend verbrachte. Da waren auf der anderen Seite die GegnerInnen, die dafür kämpften, dass Agnes-Miegel-Straßen und Agnes-Miegel-Schulen umbenannt wurden, weil die Miegel eine Nazidichterin gewesen sei, so hoch geschätzt von den Nazis, dass sie auf deren “Gottbegnadetenliste” landete, wie auch Furtwängler, Richard Strauß, Elisabeth Flickenschildt, Ina Seidel, Gerhart Hauptmann und viele andere.
Ich kann nicht sagen, dass ich in Werk und Leben der Dichterin bisher allzu tief eindringen konnte, und kann also nicht gut mitreden. Aber es ist mir verdächtig, dass so viele männliche Nazis nach dem Krieg ihre hohen Funktionen als Juristen, Chefärzte, Wissenschaftler, Verwaltungsbeamte weiter unbehindert und hochgeachtet ausüben konnten, während Agnes Miegel von einem Literaturbetrieb, der sich mit Gottfried Benns Nazi-Affinität nicht lange aufhielt, als Aussätzige behandelt wurde. Es erinnerte mich ungut an den Medienterror gegen Christa Wolf nach der Wende. Frauen eignen sich anscheinend besonders gut als Schuldabladeplatz.
Wie dem auch sei, ich arbeite noch daran, zu einem eigenen Urteil zu finden. Der “hohe Ton” der Miegel macht es mir nicht leicht, ich lese ihre Sachen bisher nicht allzu gerne. Sie wirken irgendwie verstaubt. Sie redet gern von “ihrem Schaffen”, wo doch schon “mein Werk” oder “meine Werke” heute zu hochtrabend klingt.
Ich bin aber bei meinen Recherchen als Frauensozialhistorikerin und feministische Linguistin fündig geworden, und das ist der eigentliche Anlass meiner heutigen Glosse. Da ist zum einen die hochinteressante “kleine Familie” der Miegel, bestehend aus zunächst zwei, dann drei Freundinnen: Agnes, Elise und Heimgart. Elise Schmidt (später Schmidt-Miegel) fand nach dem ersten Weltkrieg mit 22 Jahren zu der 40-jährigen Miegel und kümmerte sich bis zu Miegels Lebensende um sie und den gemeinsamen Haushalt. Agnes und Elise wichen nicht voneinander, weder während der Flucht noch im Flüchtlingslager. Nach dem zweiten Weltkrieg stieß die wiederum 22-jährige Heimgart von Hingst dazu und ergänzte das Frauenpaar zu einem Trio. Sie bewohnten schließlich eine bescheidene Dreizimmerwohnung in Bad Nenndorf, das auch ein Wohnzimmer hatte. Folglich verteilten sich die drei Frauen auf - vermutlich - zwei Schlafzimmer. Wie die Verteilung aussah, konnte ich bisher nicht herausfinden. Agnes nannte Elise und Heimgart “ihre Getreuen”. Die getreue Elise wurde schließlich von Agnes adoptiert - es erinnert an ähnliche Adoptionen, z.B. die von Peter Gorski durch Gustaf Gründgens.
Wie dem auch sei - die “kleine Familie” der Miegel war jedenfalls völlig anders als die normale “Kleinfamilie” ihrer Zeit und verdient sicher eine nähere Betrachtung. Sie war nahezu revolutionär und wurde dabei anscheinend als Selbstverständlichkeit gelebt, nach außen vertreten und auch akzeptiert. Drei Frauengenerationen unter einem Dach, wie Großmutter, Mutter und (erwachsenes) Kind/Tochter - nur waren die Generationen nicht verwandt, sondern “nur” befreundet.
Soweit also das ungewöhnliche Familienleben im Hause Miegel.
Nun zu den Sprachfunden. Ab 1920 arbeitete Miegel, die sich und ihre Getreuen zeitlebens und recht kümmerlich von ihrem Schreiben ernähren musste, als Berichterstatterin und schließlich Schriftleiterin für die Ostpreußische Zeitung in Königsberg. Ab 1923 schrieb sie ein wöchentliches Feuilleton “Spaziergänge einer Ostpreußin”, von denen 1985 eine Auswahl veröffentlicht wurde. Diese Ostpreußin liebte anscheinend feminine Bezeichnungen für Frauen und nimmt sich die dichterische Freiheit, von einer “Jemandin” zu sprechen und von “weißen Räbinnen” - und wer weiß, was ich sonst noch entdecke, wenn ich weiterlese.
Den interessantesten Fund machte ich aber bei meiner “Lektüre rund um die Miegel” in einem Huldigungsgedicht von Ina Seidel an ihre Freundin Agnes, kurz nachdem sie sich 1913 kennengelernt hatten.
Da heißt es:
Wer war’s, die das Brot gebrochen hat,
Mit mir unter einem Dach?
Wer war’s, die zu mir gesprochen hat -
Ich träumte und war doch wach.
Ich erinnere mich, wie wir Feministinnen stolz waren auf unsere Erfindungen und gezielten Regelverletzungen zur Feminisierung der Sprache:
Kennst du jemand, die mir helfen kann?
Hier fühlt frau sich sauwohl.
Wer hat ihren Lippenstift im Bad liegen gelassen?
Ganz offenbar fand schon Ina Seidel im Jahre 1913, also 60 Jahre vor unserer ”feministischen Sprachrevolution”, das Maskulinum für ihre neue Freundin Agnes mehr als unpassend und schrieb statt “Wer war’s, der …”, wie es korrekt gewesen wäre, einfach “Wer war’s, die…”
Es lohnt sich, den tief empfundenen Empfehlungen alter Freundinnen nachzugehen. Frau findet dann vielleicht nicht das Gemeinte, sie mag auch mit dem Urteil der alten Freundin nicht übereinstimmen, aber sie kann trotzdem aufregende Entdeckungen machen.
Nachtrag: Im Juni 2023 schreib mir Sebastian Bubner über die drei Freundinnen, "dass die Aufteilung der Schlafplätze im Hause Miegel so war, dass Agnes Miegel und Elise Schmidt-Miegel im Schlafzimmer nächtigten und Heimgart von Hingst auf dem Sofa im Wohnzimmer. Zu den Finanzen im Drei-Frauen-Haushalt wäre zu ergänzen / korrigieren, dass Elise Schmidt-Miegel als Haushälterin und Heimgart von Hingst als Schulsekretärin und als Nahrungs-Organisiererin auf dem Fahrrad (dies besonders in der hungrigen Anfangszeit der Dreier-Konstellation in Apelern) Agnes Miegels Dichterinnentum finanzierten und ermöglichten. Die Erkenntnisse stammen aus einer Hausführung durch Annemete von Vogel und aus Publikationen der Agnes-Miegel-Gesellschaft e.V.."
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