geboren am 6. August 1963 in Meran (Italien)
Südtiroler Schriftstellerin und Dichterin
60. Geburtstag am 6. August 2023
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen • Bildquellen
Biografie
Einfach ist es nicht, in den 1960er und 1970er Jahren in Südtirol aufzuwachsen: die deutsch- und die italienischsprachige Kultur sind voneinander getrennt, die politischen Fronten zwischen deutsch- und italienischsprachigen SüdtirolerInnen verhärtet. Die die Region regierende (deutschsprachige) Südtiroler Volkspartei tritt für eine Apartheid zwischen der »deutschen« Volksgruppe und den ItalienerInnen ein – eine Reaktion auf die faschistische Italienisierungspolitik seit den 1920er Jahren. In diese Atmosphäre wird Sabine Gruber 1963 als ältere von zwei Töchtern einer Hausfrau und eines gelernten Schriftsetzers hineingeboren.
Aber die Eltern sind nicht so: Sie haben keine Berührungsängste vor der italienischen Kultur und versuchen, ihre Töchter von den gängigen Vorurteilen gegen ItalienerInnen fernzuhalten – ganz im Gegenteil: Die Mädchen müssen mit Zurechtweisung rechnen, wenn sie die ItalienerInnen als »Walsche« bezeichnen. Familiäre Beziehungen zu italienischen FreundInnen fördern die Suche nach Verbindendem zwischen den beiden Volksgruppen: Schon die dreijährige Sabine wird renitent, als sie im Kindergarten von ihrem gleichaltrigen italienischen Spielkameraden getrennt werden soll und setzt durch, dass sie ebenfalls in die italienische Kindergruppe gehen darf. Später, im humanistischen Gymnasium, gibt es keine Ausnahmen mehr – deutsch- und italienischsprachige SchülerInnen sind strikt getrennt und begegnen sich nicht mal während der Pausen.
Sabine ist eine Leseratte. Das ergibt sich fast von selbst, denn sie darf nur selten fernsehen. Die Kinder, die ins Haus kommen, sind ihr zu langweilig. Die Lektüre indessen bietet Anlass, die Geschichten weiterzuspinnen, die Charaktere weiterzuentwickeln. Auf den Papierabfällen aus der Druckerei des Großvaters entstehen daraus neue Geschichten.
Ein Hausbau bringt die Familie in finanzielle Bedrängnis; statt Reisen nach Rimini, Rom oder Jugoslawien empfängt sie nun selbst deutsche TouristInnen als Pensionsgäste. Während die meisten SchulfreundInnen in den Sommerferien reisen, Sprachkurse oder Festspiele besuchen, arbeitet Sabine als Zimmermädchen, in einem Supermarkt, am Fließband, in einer Großküche, einem Altersheim. Ihr Berufswunsch: Schriftstellerin oder Journalistin.
Nach der Matura studiert Sabine Gruber Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck und Wien. Trotz eines Begabtenstipendiums muss sie in den Semesterferien weiterjobben. Bereits während des Studiums veröffentlicht sie ihre ersten Gedichte, Essays und Erzählungen in Literaturzeitschriften. Von 1988 bis 1992 arbeitet sie an der Universität Venedig als Lektorin für Deutsch. Sie hält Sprach- und Literaturkurse, schreibt nebenbei Kurzgeschichten und Artikel für eine italienische Tageszeitung.
Nicht nur die hierarchischen Strukturen an der Universität und die Vorliebe für das Schreiben, sondern vor allem gesundheitliche Gründe treiben Sabine Gruber zurück nach Wien, wo sie noch heute lebt. Sie bezieht eine Wohnung in der Leopoldstadt und unterrichtet Deutsch als Fremdsprache. 1994 muss sie sich einer Nierentransplantation unterziehen; die Niere spendet ihr ihre Mutter.
Trotz aller Widrigkeiten und Einschränkungen erscheint 1996 ihr erster Roman Aushäusige, die Geschichte eines Geschwisterpaares, das die Südtiroler Heimat – mit unterschiedlichem Erfolg – verlässt. Häufig wechselnde Perspektiven lassen hierbei die Zusammenhänge der beiden Lebensgeschichten und der auftretenden Figuren erst nach und nach deutlich werden.
Auch in den folgenden Romanen Die Zumutung (2003) und Über Nacht (2007) werden die Perspektiven gewechselt: In ersterem sind Realität und Vorstellungswelt der Ich-Erzählerin miteinander verschlungen, in letzterem die Lebensgeschichten zweier Frauen. Erst zum Schluss kommt heraus, dass die eine Frau nur eine Fiktion der anderen ist. Über Nacht schafft es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2007 und wird mit mehreren Preisen bedacht.
Der (vorerst) letzte Roman Stillbach oder Die Sehnsucht (2011) erzählt von drei Südtiroler Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten aus verschiedenen Gründen ihre Heimat verlassen haben. Die Geschichte spielt 1938, 1978 und in der Gegenwart, wobei Personen und historische Begebenheiten eng verflochten sind und dazu einladen, sich mit der Südtiroler Geschichte einerseits und der italienischen und deutschen Geschichte andererseits über einen Zeitraum von 70 Jahren auseinanderzusetzen.
Verschiedene Figuren treten in mehreren Romanen – wieder aus unterschiedlicher Perspektive – auf, ohne dass die einzelnen Romane inhaltlich miteinander verwoben sind, geschweige denn eine Fortsetzung bilden. Vielmehr handelt es sich um einen Gesamtkosmos, in dem mal das eine oder andere Thema oder eine Figur aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Obgleich Themen und Handlungsorte der Erfahrungswelt Sabine Grubers nahestehen, wehrt sie sich gegen die Interpretation, ihre Romane seien autobiographisch gefärbt.
Nachdem Sabine Gruber zunächst noch »nebenberuflich« halbtags im Büro der »Grazer Autorinnen Autoren Versammlung« mit Sitz in Wien arbeitete, lebt sie seit 2000 als freie Autorin. Dies ist nicht zuletzt möglich geworden durch die zahlreichen Preise und Stipendien, die sie für ihre Arbeiten erhalten hat (u.a. Förderpreis der Stadt Wien, Reinhard-Priessnitz-Preis, Förderpreis zum österreichischen Staatspreis für Literatur, Heinrich-Heine-Stipendium der Stadt Lüneburg, Stipendium auf Schloß Solitude Stuttgart, Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien, Walther von der Vogelweide-Förderpreis). Während ihr in den deutschsprachigen Ländern viel Aufmerksamkeit zuteil wird, wird sie in ihrem eigentlichen Heimatland Italien ignoriert: Weder wurden ihre Romane bisher ins Italienische übersetzt, noch werden die Originalausgaben in der Biblioteca nazionale centrale di Roma archiviert.
Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit verwaltet Sabine Gruber gemeinsam mit Renate Mumelter den Nachlass der Südtiroler Autorin Anita Pichler. Einige Titel zu deren Werk haben die beiden bereits herausgegeben.
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Verfasserin: Christine Schmidt
Zitate
Die Heimat darf nicht beschrieben, sie muss bearbeitet werden.
Schreiben ist meine Art zu atmen.
Wer sich vor dem Versagen fürchtet, wird bald nichts mehr zu sagen haben.
Als Schriftstellerin stelle ich kein Dienstleistungsunternehmen für die Leserschaft dar, meine Motive für das Schreiben sind daher auch nicht altruistischer, sondern vor allem privater Art.
Schreiben ist auch der Versuch, der medialen Bilderflut etwas entgegenzusetzen, durch das sich erzählerische Sinnzusammenhänge stiften lassen, die in unserer fragmentierten Welt immer mehr verloren gehen.
Literatur ist eine Art Einverleibung des Fremden.
Wissenschaftliche Neuerungen und Entdeckungen stoßen anfänglich immer auf Ablehnung. Die Kirche hat fünf Jahrhunderte gebraucht, bis sie Kopernikus' Weltbild anerkannte. Die Hirntoddefinition ist gerade mal 40 Jahre alt. Es ist schwer, etwas anzuerkennen, was man selbst nicht sieht. Eine innere Enthauptung – und nichts anderes ist der Hirntod – kann man nicht sehen.
Man kann sich auf den Zufall verlassen.
Wer einen durchlässigen Körper hat, braucht einen dicken Schädel.
Es wäre schön, wenn sich Enden so ergeben würden wie Anfänge.
All die gängigen Fluchtwege und Ablenkungen sind im Grunde verzweifelte Unterfangen gegen die Leere in uns selbst.
Links
Sabine Gruber. Offizielle Webseite. Kurzbiografie, ausführliche Angaben zum Werk mit Leseproben, Termine usw.
Online verfügbar unter http://www.sabinegruber.at/, zuletzt geprüft am 25.07.2023.
Eder, Christa (2011): Sabine Grubers Kunst-Figuren. Fiktive Personen mit Eigenleben. Mit Audiobeitrag, 7:27 min. oe1.ORF.at.
Online verfügbar unter http://oe1.orf.at/artikel/281424, zuletzt geprüft am 25.07.2023.
Holzner, Birgit (2007): Sabine Gruber, Über Nacht. Rezension. Universität Innsbruck.
Online verfügbar unter http://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/literatur/tirol/rez_07/holznerb_ueber.html, zuletzt geprüft am 25.07.2023.
Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: Sabine Gruber. Bücher und Medien.
Online verfügbar unter http://d-nb.info/gnd/121340775, zuletzt geprüft am 25.07.2023.
Kilb, Andreas (2007): Die eine spinnt den Lebensfaden, die andere schneidet ihn ab. Rezension. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 71, 24.03.2007, Seite Z7. Nur mit Account erreichbar.
Online verfügbar unter http://www.faz.net/artikel/C30347/die-eine-spinnt-den-lebensfaden-die-andere-schneidet-ihn-ab-30011967.html, zuletzt geprüft am 25.07.2023.
Literaturport.de: Lexikon - Sabine Gruber.
Online verfügbar unter http://www.literaturport.de/Sabine.Gruber/, zuletzt geprüft am 25.07.2023.
Pisa, Peter (2011): Sabine Gruber: Priebke geht in Rom spazieren. Kurier, 22.07.2011. kurier.at bzw. KURIER.
Online verfügbar unter https://kurier.at/kultur/sabine-gruber-priebke-geht-in-rom-spazieren/716.837, zuletzt geprüft am 25.07.2023.
Literatur & Quellen
Ganglbauer, Petra und Kernmayer, Hildegard (Hg.) (2010): Schreibweisen – Poetologien 2. Zeitgenössische österreichische Literatur von Frauen. Wien. Milena-Verl. (2) ISBN 978-3-85286-192-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (Hg.) (1993): Reisende auf Abwegen. Fünf Erzählungen aus Spanien. Innsbruck. Ed. Löwenzahn. ISBN 3-900521-21-2. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (Hg.) (1998): Es wird nie mehr Vogelbeersommer sein … In memoriam Anita Pichler (1948-1997). Wien, Bozen. Folio. ISBN 3-85256-088-8. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (1999): Aushäusige. Roman. Ungekürzte Ausg. München. Dt. Taschenbuch-Verl. (dtv, 12673) ISBN 3-423-12673-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (Hg.) (2002): Das Herz, das ich meine. Essays zu Anita Pichler. Wien, Bozen. Folio-Verl. (Transfer, 41) ISBN 3-85256-206-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (2002): Fang oder Schweigen. Gedichte. Klagenfurt, Wien, Ljubljana, Sarajevo. Wieser. ISBN 3-85129-380-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (2003): Die Zumutung. Roman. München. Beck. ISBN 3-406-50264-4. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (2004): Schreiben ist meine Art zu atmen. In: Brigitte Kultur, 2. S. 75.
Gruber, Sabine (2007): Die Zumutung. Roman. München. Dt. Taschenbuch-Verl. (dtv, 13552) ISBN 3-423-13552-2. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (2007): Über Nacht. Roman. 1. Aufl. München. Beck. ISBN 3-406-55612-4. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (2008): Am Anfang war die Langeweile. In: Der Standard, 6./7. September 2008. S. 9.
Gruber, Sabine (2009): Über Nacht. Roman. München. Dt. Taschenbuch-Verl. (dtv, 13791) ISBN 978-3-423-13791-1. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (2010): Der Karren steckt im Dreck, dennoch. In: Kolik – Zeitschrift für Literatur, Nr. 50. S. 17–22.
Gruber, Sabine (2010): Die Neuerfindung des Privaten. In: Ganglbauer, Petra; Kernmayer, Hildegard (Hg.): Schreibweisen – Poetologien 2. Zeitgenössische österreichische Literatur von Frauen. Wien. Milena-Verl (2). ISBN 978-3-85286-192-0 S. 379–392.
Gruber, Sabine (2010): Durchbrochene Grenzlinien. In: Mitteilungen aus dem Brennerarchiv, Nr. 29. S. 47–62.
Gruber, Sabine (2011): Aushäusige. [Roman]. Ungekürzte Taschenbuchausg., 1. Innsbruck ; Wien. Haymon-Verl. (Haymon-Taschenbuch, 69) ISBN 978-3-85218-869-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gruber, Sabine (2011): Stillbach oder Die Sehnsucht. Roman. München. Beck. ISBN 978-3-406-62166-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Strohmaier, Alexandra (2010): Kontingenz und Reflexion. Zur narrativen Poetik Sabine Grubers. In: Ganglbauer, Petra; Kernmayer, Hildegard (Hg.): Schreibweisen – Poetologien 2. Zeitgenössische österreichische Literatur von Frauen. Wien. Milena-Verl (2). ISBN 978-3-85286-192-0 S. 393–411.
Winkels, Hubert (2010): Kann man Bücher lieben? Vom Umgang mit neuer Literatur. Köln. Kiepenheuer & Witsch. ISBN 978-3-462-04237-5. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Winkels, Hubert (2010): Sabine Gruber »Über Nacht«. In: Winkels, Hubert: Kann man Bücher lieben? Vom Umgang mit neuer Literatur. 1 Aufl. Köln. Kiepenheuer & Witsch. ISBN 978-3-462-04237-5 S. 250–254.
Bildquellen
sabinegruber.at – alle Fotos: Karl-Heinz Ströhle
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