Delethalisierung im Alltag
Die anglo-amerikanische Flugzeug- und Autoindustrie hat uns ein neues Wort beschert: to delethalize "to make nonlethal" „nicht/weniger tödlich machen“.
Auf Deutsch delethalisieren oder deletalisieren. Aber auf Deutsch gibt es das Wort noch nicht. Google meldet: Fehlanzeige.
Aber es wird es bald geben, da bin ich mir sicher.
Die Flugzeugindustrie arbeitet mit Hochdruck daran, die Sitzbezüge weiter zu delethalisieren, also weniger brennbar zu machen.
Die Autoindustrie ist dabei, die Innenräume der Autos allseitig mit Airbags auszustaffieren und somit immer mehr zu delethalisieren. Kindersicherung haben sie alle schon längst. Babys und Kleinkinder dürfen nur in Kindersitzen im Auto transportiert werden. Demnächst bekommen wir die totale Delethalisierung, wenn die lethale Komponente Mensch aus dem Transportwesen ausgeschaltet wird und intelligente Computer und Sensoren die Steuerung übernehmen.
Vor hundert Jahren begann der erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der zweite. Sogar die Kriege werden heute delethalisiert. Neuerdings liefern die USA gerne "non-lethal military aid" in die Kriegsgebiete, z.B. nach Syrien und in die Ukraine. Sie werden es nicht glauben angesichts der Gräuel in Gaza, in der Ukraine, in Syrien, Nigeria, Afghanistan, im Kongo und im Irak und überall sonst, wo gerade Terror und Krieg herrscht. Aber die beiden Weltkriege mit rund 17 Millionen bzw. mit 55-60 Millionen Toten übertrafen die heutigen Kriege an Lethalität um ein Vielfaches.
Das Wort delethalisieren entstand aus einem kühlen Blick auf die Tatsachen (wer macht sich schon klar, dass ein Sitzkissen tödlich sein kann?). Deshalb werden wir es in der Werbesprache nicht finden - dazu ist es einfach zu ehrlich und zu düster - sondern derzeit vor allem in der Fachsprache des Design. Autos sind nicht nur Verkehrsmittel oder Statussymbole, sondern potentiell tödlich, genau wie Flugzeuge. Das Leben überhaupt ist tödlich. Den einen trifft es früher, die andere später. Was können wir tun, damit es uns erst später trifft? Richtig: Vorbeugen! Delethalisieren!
Die Kleidung für uns Alte wird auch delethalisiert. Unterhosen werden delethalisiert, d.h mit Polstern ausgestattet, um Stürze abzumildern. Im Winter werden die Straßen enteist bzw. delethalisiert.
Während die Nahrungsindustrie unsere Nahrung immer perfekter lethalisiert und uns übergewichtig und zuckerkrank macht, arbeiten wir selber tapfer daran, die Nahrung wieder zu delethalisieren - mit dem löblichen Nebeneffekt, dass auch unser Umgang mit dem sogenannten Nutzvieh ein wenig delethalisiert wird.
Unsere Wohnungen sollten, besonders für Alte, durchgreifend delethalisiert werden: Keine Teppiche, auf denen frau ausrutschen kann, keine Treppen, auf denen sie stürzen kann, Anti-Rutsch-Matten in die Dusche und/oder Badewanne. Ich sehe einen neuen Beruf entstehen: Delethalisierungsexpertin.
Je älter wir werden, umso mehr Delethalisierung brauchen wir, das ist mal klar.
Und: Je weiblicher wir sind, auch umso mehr. Für Kinder und Alte ist es mehr die Umwelt allgemein, die höchst lethal ist, in jugendlichem bis mittlerem Alter ist es oft der Partner, der lethal auf die Frau einwirkt. Solange Männer als solche nicht gründlich delethalisiert werden, obliegt es der Frau, ihre Nahrung und Umwelt selbst umfassend zu delethalisieren, d.h. auf Zucker, Alkohol, Nikotin, harte Drogen, tierische Fette, auf den Partner und rutschige Teppiche weitgehend zu verzichten.
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2 Kommentare
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04.08.2014 um 20:28 Uhr Amy
Interessante Glosse und eine gute Idee mit der `Delethalisierungsexpertin`. Mit Verhaltensvorschlägen zum Älterwerden ohne Risiko werden wir Alten ja regelrecht bombardiert. Positive Einstellung zum Altern soll ja lebensverlängernd sein. Einsamkeit oder Singledasein kann tödlich sein, wird uns suggeriert. Die Lebenserwartung steigt , so dass sie für spätere Generationen zum Problem werden kann, so wird uns dauernd prophezeit und damit ein Stück Lebensfreude genommen. In den USA gibt es für gut betuchte `Senioren` (lt. Presse) das Modell Sun City , eine Anlage mit Entertainment, Sport- und Unterhaltungsprogrammen.
Dennoch, das Glück eine `Freie` zu sein, wirkt auf mich jedesmal `delethalisierend`, vitalisierend. Eine Empfehlung an viele Frauen, lieber frühzeitig die Situation nutzen und sich mit Frauen verbinden/verbünden , als sich der typ. Wunschnorm entsprechend ein Leben lang hinter `lethalen` Männern `herzudackeln`. Wir sollten mehr Fraulenzen :) Oh, wie ich das liebe, liebe Luise!
http://www.luisepusch.de/buecher/luise-pusch-glosse-fraulenzen.php
04.08.2014 um 13:25 Uhr Lena Vandrey
Die Idee mit Polstern in Unterhöschen ist reizend!Zusammen mit Windeln gegen Inkontinenz-nur für Frauen gedacht-ergibt das einen Look wie die Michelin-Puppe, nach der Niki de St-Phalle ihre Nanas geschaffen hat. Ab welchem Alter sollen wir über altersgerechte Wohnungen nachdenken? Alles für den Rollstuhl vorbereiten, das teure elektrische Klosett einrichten? Und sind wir bettlägerig, können wir dort gar nicht hin?! Ein bezauberndes Badezimmer zu zertrümmern, um einer Dusche willen, wobei menschliche Assistenz trotzdem nötig ist. Diverse Treppchen, um leichter in die Wanne zu können, sind wacklig und gefährlicher als das eigene Bein zu schwingen. Und was das alles kostet!
Kaffee und Kuchen sind ebenfalls Drogen, und sehr viele liebe Freundinnen sind verschwunden, die weder rauchten noch tranken und vegetarisch lebten. Freudlos und vorsichtig, alles auf ein hundertjähriges Dasein ausgerichtet, wo wir nicht mehr merken, dass Lethe lautlos heranschleicht und uns die Gurgel krallt.
1000 Km Stau dieser Tage in Frankreich für die Ferien der Massen, überall Kriege und Katatrophen, aber was macht das? Der Lindwurm schiebt sich vorwärts.
Hier, wo ich schreibe, schaue ich mir die Stufen an. Das muss betoniert werden! Übrigens gibt es kostenlos einen Klo-Stuhl mit Eimer, aber wiederum ist die menschliche Hilfe zur Nutzung nötig.
Ich denke an meine Generation: Den Kriegskindern wurden Kindheit und Jugend gestohlen, die Frauen-Bewegung forderte viel mehr Opfer als bekannt, über rasende Arbeit sich einen Ort erobert zu haben und ihn kaputt zu machen, um das Alter zu leben? Das ist kein Leben!
Manchmal denke ich, es wäre schön, ein wenig auszufahren, Flüsse, Wälder und Berge zu betrachten, allein da ist der miserable, gewalttätige Geschlechts-Verkehr, Gebrülle und Gefahren. Warum sich unter die Feinde mischen? Leben ist gefährlich genug-so wie es ist!
Die Tücke der Dinge wäre zu delethalisieren und die sogenannten Menschen wach zu rütteln!
Wer kann DAS?!