geboren am 19. Dezember 1879 in Genf
gestorben am 4. Januar 1946 in Genf
Schweizer Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin
145. Geburtstag am 19. Dezember 2024
Biografie
Emilie Gourds Name evoziert in der Schweiz Erinnerungen an eine Pionierin und Kämpferin für die Rechte der Frauen sowie die Gründerin der Zeitschrift „Femmes en Mouvement“ (Frauen in Bewegung). Vergessen wird dagegen Gourds Einsatz für Arbeiterinnen. Gourd richtete Nähstuben für arbeitslose Frauen ein. Sie engagierte sich für die Einrichtung eines Krankenversicherungssystems, sie forderte geregelte Arbeitszeiten und predigte „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“. Für die Pazifistin und Internationalistin Gourd war Erlangung der staatsbürgerlichen Rechte ebenso wichtig wie die Ausmerzung sozialen Ungleichheiten. Warum wissen wir eigentlich nichts von ihrem sozialen Engagement?
Kindheit und Ausbildung. Emilie Gourd wird 1879 in der Genfer Gemeinde Pregny geboren. Ihr Vater Jean-Jacques stammt aus der Dordogne in Frankreich und lehrt Philosophie und Theologie an der Universität Genf. Marguerite Bert, ihre Mutter, gehört einer gutbürgerlichen Genfer Familie an. Das Kind beherrscht, angespornt von den Eltern, schon mit drei Jahren das Alphabet. Emilie liest fließend mit fünf und beginnt im zarten Alter von sieben Jahren mit dem Deutschlernen. Emilies Mutter übernimmt den Primarschulunterricht und bereitet ihre Tochter für die höhere Töchterschule vor.
Ende des 19. Jahrhunderts wird die Mädchenerziehung in bürgerlichen Kreisen aufgewertet. Diese erhoffen sich von einer Mittelschulbildung, dass die Mädchen bessere Hausfrauen würden und ihre Kinder kompetenter erzögen. Emilie interessiert sich überhaupt nicht für mondänen Gesellschaftsanlässe, an denen sie junge Leute ihres Milieus kennen lernen soll. Ihre Passion ist das Lesen. Unter mehreren Zeitschriften hat sie auch „La Fronde“ (der Aufstand) abonniert, ein revolutionäres Blatt, von der Redaktion bis zum Druck ausschließlich von Frauen hergestellt.
Mit 18 Jahren träumt die junge Frau davon, Historikerin und Philosophin zu werden wie ihr Vater. Die höhere Töchterschule ist eine der ersten Mittelschulen für Mädchen in der Schweiz. Aber da dort kein Latein unterrichtet wird, kann Emilie den Vorlesungen an der Universität nur als Hörerin folgen, was sie auch tut. Doch ohne Staatsexamen wird sie in der Folge nur an Privatschulen unterrichten können.
Die Aktivistin. Emilies Vater gibt ihr sein Interesse an intellektueller Arbeit mit, und ihre Mutter weiht sie sehr früh in kämpferische Aktionen ein. Emilie begleitet ihre Mutter, wenn sie mit Freundinnen selbstgebackenen Kuchen verkauft, und beteiligt sich danach an der Aktion militanter Frauen „Goutte de Lait“ (Milchtropfen) gegen die hohe Baby-Sterblichkeit, wenn die Arbeiterinnen nicht stillen können. Sie bringen den Arbeiterinnen bei, wie frau eine Babymahlzeit hygienisch zubereitet: das Gefäß sterilisieren, das Milchpulver dosieren und Wasser kochen. Die Noch-Mittelschülerin Emilie entpuppt sich als ausgezeichnete Animatorin. In ebendieser Gruppe begegnet sie auch Marguerite Champendal, einer herausragenden Persönlichkeit, die Emilie stark beeinflussen wird.
Protestantische Kreise organisieren „les cours d’évangélisation populaire“ (Kurse für die Volksevangelisation) und tragen viel zur intellektuellen Ausbildung der jungen Frau bei. Im Gespräch über de Bibel werden diese Begegnungen zu Dskussionsgelegenheiten, wo junge Leute sich über aktuelle Probleme informieren können. Emilie lernt Gleichgesinnte kennen und auch Militante des Bundes Schweizerischer Frauenorganisationen (BSF), insbesondere Camille Vidart. Der BSF ist damals Avantgarde: er spricht von den Lebensbedingungen der Frauen und fordert für sie einen anderen Status als den einer Familienmutter. Damals haben Frauen noch nicht einmal das Stimmrecht in den Kirchgemeindeversammlungen.
Verantwortung. Emilie arbeitet mit Begeisterung im BSF mit, dessen Generalsekretärin sie 1904 mit knapp 25 Jahren wird. In der Folge nimmt sie die „Union des Femmes“ auf, eine Vorläuferin der heutigen Frauenzentrale. 1909 lernt sie Auguste de Morsier, kennen, den Gründer und Präsidenten der Genfer Vereinigung für das Frauenstimmrecht. 1914 wird Emilie selbst Präsidentin ebendieser Vereinigung und wird es 14 Jahre lang bleiben.
Auguste de Morsier erkennt das ungewöhnliche Schreibtalent, die pädagogischen Fähigkeiten und das große politische Wissen der jungen Frau . Er ermutigt sie, eine feministische Zeitschrift zu gründen. 1912 erscheint die erste Nummer von „Femmes en mouvement“ (Frauen in Bewegung). Die Zeitschrift richtet sich nicht nur an überzeugte FeministInnen, sondern will sowohl erziehen als auch ein Propaganda-Instrument sein und alle aktuellen Themen behandeln. Ein Sprachrohr der laufenden Kämpfe und führend in den noch zu schlagenden Schlachten - dies ist das Programm der Zeitschrift. Emilie kreiert eine Rubrik, in der sie regelmäßig über den Stand der Kämpfe im Ausland berichtet. Von einflussreichen Männern unterstützt, arbeitet die Gruppe der Redakteurinnen mit Feuereifer für die Erlangung der staatsbürgerlichen Rechte.
Und wirklich – Gourds Anstrengungen beginnen Früchte zu tragen: „Fräulein Gourds“ Engagement für die Jugendlichen bringt ihr internationale Anerkennung. 1929 wird sie beim Völkerbund Assesseur au Comité de protection de l’Enfance et de la Jeunesse, Beisitzerin im Komitee zum Schutz von Kindheit und Jugend. Die Frauen können nun auf Kantonsebene wählen und sind auch seit 1930 ans Arbeitsgericht wählbar.
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Emilie Gourd kämpft gleichzeitig für die politischen und sozialen Rechte, die damals noch quasi inexistent sind. Entrüstet über die extreme Ausbeutung der Heimarbeiterinnen, die von frühmorgens bis spät abends schuften, schreibt Emilie in den 30er Jahren Berichte an die kantonalen und die Bundesbehörden, in denen sie gesetzgeberische Bestimmungen für die maximale Arbeitsdauer fordert. Man(n) hört sie nicht. Doch einige Jahre später entsteht das Bundesgesetz über die Arbeit, das sich auch zu diesem Thema äußert.
Gourd ist kaum 40 Jahre alt, als sie die kantonale Ausstellung zur Frauenarbeit vorbereitet, die dann im Frühling 1925 in Genf stattfindet. Ihr Ziel ist es, „einen Überblick über die Frau im Berufsleben zu geben und den Wert der Frauenarbeit publik zu machen und ihrem Wert entsprechend anerkennen zu lassen“. Frauen mit einer vollständigen universitären Ausbildung, aber ohne Staatsexamen wie Emilie selbst, werden schlechter bezahlt als die Männer, die für dieselbe Arbeit angestellt sind. Auf Grund dieser Tatsache lanciert Emilie den Slogan „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.
1928 koordiniert Gourd den Genfer Beitrag zur SAFFA, der nationalen schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit. Diese offizielle und in den Medien besprochene Veranstaltung ist für die damalige Frauenbewegung eine traumhafte Gelegenheit, ihre Forderungen öffentlich zu machen. Emilie Gourd und ihre welschen feministischen Freundinnen fahren mit einer Riesenschnecke nach Bern, dem Symbol helvetischer Langsamkeit in Sachen Frauenstimmrecht.
Die Internationalistin. Emilie Gourd reist viel. Um in „Femmes en mouvement“, aber auch für ihre Organisation „Électrices pour l’Égalité, la Liberté et la Paix“, die späteren Frauen für den Frieden, zu schreiben, bereitet sie Berichte vor. Sie wird für ihre Kompetenz in Sachen Frauenarbeit geschätzt und vom BIT (Bureau International du Travail – Internat. Arbeitsamt in Genf) zur Teilnahme an der Studienkommission eingeladen.
Zu Beginn des 1. Weltkrieges 1914-18, als Väter und Ehemänner ihre Arbeit verlieren oder in die Armee eingezogen werden, gründet Emilie „L’ouvroir de l’Union des femmes“ (Nähstube der Frauenzentrale), um die Frauen vor der Verarmung zu bewahren. In den 30er Jahren ist sie beschäftigt mit der aufkommenden Ideologie des Faschismus und des Nazi-Unwesens, dem totalen Gegenteil ihres Ideals vom Respekt der Menschenrechte. Als Antwort auf diese bleierne Zeit gründet Emilie die Genfer Sektion von „Frau und Demokratie“.
Von Krankheit geschwächt, starb Emilie Gourd 1946. An ihrer Beerdigung ehrten ihre Freundinnen sie und dankten ihr bewegt „für ihre fruchtbaren Bemühungen um internationales Einvernehmen, für die Bemühungen auch um den feministischen Fortschritt in der Welt“.
(aus dem Französischen von Barbara J. Speck)
Anmerkungen: 1.) „La Fronde“ - eine französische, feministische Zeitschrift, 1897 von Marguerite Durand (1864-1937), Schauspielerin und Journalistin, gegründet.
2.) Marie Champendal (1870-1928), Genfer Ärztin, eine der ersten an der Uni Genf für das Medizinstudium immatrikulierten Frauen, Gründerin der „Goutte de Lait“ nach französischen und kanadischen Vorbildern. Marie Champendal richtet auch die „Pouponnière“ ein, eine Krippe, die kranke Kinder aufnimmt und pflegt. Später gründet sie die Ecole d’infirmières (Pflegerinnenschule) „Le Bon Secours“ (die gute Hilfe).
3.) Auguste de Morsier (1864-1923), Ingenieur, Journalist, religiös-sozialer Genfer Grossrat, engagiert sich für das Frauenstimmrecht zu einer Zeit, als die Bewegung der Frauenrechtlerinnen in derselben Frage gespalten ist. 1909 gründet er den Schweizerischen Verband für das Frauenstimmrecht SVF.
Verfasserin: Anna Spillmann
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