Biographien Muschelkalk Ringelnatz
(geb. Leonharda Pieper, später Leonharda Gescher)
geboren am 6. November 1898 in Rastenburg (Ostpreußen, heute Kętryn)
gestorben am 26. Februar 1977 in Berlin
Ehefrau von Joachim Ringelnatz, Verwalterin seines Nachlasses, nach 1945 Übersetzerin englisch- und französischsprachiger Gegenwartsliteratur ins Deutsche
125. Geburtstag am 6. November 2023
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Die Weichen für das Leben von Leonharda Pieper sind in dem Moment gestellt, als sie sich nach Abschluss der höheren Töchterschule (= mittlere Reife) in Rastenburg für die Ausbildung zur Sprachlehrerin für Englisch und Französisch im entfernten Eisenach ab 1916 entscheidet. Denn dort begegnet sie zum einen dem 15 Jahre älteren Joachim Ringelnatz, und zum anderen legt sie mit den Fremdsprachen die Grundlage für ihre spätere Tätigkeit als literarische Übersetzerin. Für kurze Zeit ist sie zunächst als Sprachlehrerin in Rastenburg und dann in Godesberg bei Bonn tätig.
Sie und Ringelnatz heiraten 1920 und leben zunächst in München. Er hat ihr den Namen Muschelkalk gegeben, den auch die zahlreichen Freunde und Bekannten benutzen. Auch sie selbst nennt sich so. In der Schwabinger Bohème fühlt sie sich sehr wohl, sie genießt die zahlreichen Kontakte, so z. B. zu der berühmten Stummfilm-Schauspielerin Asta Nielsen und zur Bildhauerin Renée Sintenis. Ringelnatz verdient den gemeinsamen Lebensunterhalt durch seine Auftritte als Kuttel Daddeldu auf den zahlreichen Kabarettbühnen der Zeit und ist dafür oft wochenlang unterwegs. Dann führen die beiden einen umfangreichen Briefwechsel. Muschelkalk erledigt die anfallende Korrespondenz, schreibt seine Gedichte ab und verschickt diese sowie weitere Manuskripte, liest Korrektur der Bücher von Ringelnatz, die zur Veröffentlichung anstehen, und kümmert sich um weitere Engagements ihres Mannes. Selten kann sie ihn an seinen Auftrittsorten besuchen, denn ständig sind die beiden in Geldnot, zudem müssen sie die schwierige Inflationszeit überstehen. Durch Sprachstundengeben und Aushilfsjobs verdient Muschelkalk etwas dazu, wann immer es geht. Im Übrigen kümmert sie sich um Wohnung und Wäsche, eine „richtige“ Hausfrau ist sie aber nicht.
1930 ziehen die beiden nach Berlin wie viele andere, denen das braun gewordene München nicht mehr passt. Wirtschaftlich geht es ihnen für einige Zeit ganz gut. Sie wohnen im Stadtteil Neu-Westend, in dem manche Prominente ihre Nachbarn sind, so Paul Hindemith, Max Schmeling und Anny Ondra, Veit Harlan und seine Frau, die Schauspielerin Hilde Körber und andere. Bald dürfen einige der Ringelnatz-Gedichte aus vorwiegend moralischen Gründen nicht mehr veröffentlicht werden, und Auftritte werden ihm verboten. 1934 stirbt Ringelnatz an Tuberkulose, die wohl nicht verursacht, aber verschlimmert wurde durch die Repressalien der Politik. Muschelkalk ist gerade 36 Jahre alt. Sie stellt zunächst noch unveröffentlichte Texte von Ringelnatz zusammen, die bei Rowohlt als „Der Nachlaß“ erscheinen. Dann gibt sie das Buch „In memoriam Joachim Ringelnatz“ heraus, das – finanziert durch einen Mäzen – erst nur eine Bibliografie werden soll, das sie dann aber ergänzt um Texte von und über Ringelnatz, und das so eine erste aussagekräftige Darstellung seines Lebens und Wirkens wird.
Muschelkalk ist jetzt oft zusammen mit einem gemeinsamen Freund aus Münchner Tagen, dem Augenarzt Dr. Julius Gescher, der vor einigen Jahren auch nach Berlin gezogen und schon lange in Muschelkalk verliebt ist. Norbert, der Sohn aus dieser Beziehung, kommt im November 1938 zur Welt. Zunächst zögert Muschelkalk noch, Gescher zu heiraten – sie möchte niemandem zur Last fallen –, geht aber doch einige Monate später mit ihm die Ehe ein. Er ist gut bekannt mit Gottfried Benn, und das Ehepaar Gescher trifft sich öfter mit dem Dichter und seiner Frau. Nach schweren Bombenangriffen auf Berlin 1943 weicht Muschelkalk mit ihrem Sohn nach Traben-Trarbach aus, wo die Mutter von Gescher wohnt, der in einem Berliner Lazarett als Augenarzt dienstverpflichtet ist. An der Mosel erreicht sie im Herbst 1945 die Nachricht, dass ihr Mann bereits Anfang Mai (!) 1945 an einer Infektion gestorben ist, die er sich bei einer von ihm durchgeführten Augenoperation an einem Soldaten zugezogen hat. Muschelkalk ist zu dieser Zeit als Dolmetscherin bei den Alliierten tätig.
Mutter und Kind kehren erst einige Zeit nach Kriegsende nach Berlin zurück. Die zweifache Witwe Muschelkalk arbeitet als Lektorin im Verlag Henssel, der dem Werk von Ringelnatz sehr zugetan ist. Sie stellt verschiedene Sammlungen seiner Gedichte für diesen Verlag zusammen und sorgt so dafür, dass er in der Nachkriegszeit gleich wieder präsent ist. Außerdem etabliert sie einen Ringelnatz-Stammtisch in der Berliner „Westend-Klause“, der sich einmal im Monat trifft. Auf Drängen des Verlegers Henssel gibt sie einen Teil der Briefe, die Ringelnatz ihr geschrieben hat, mit dem Titel „Briefe an M.“ heraus und verfasst dazu erläuternde Zwischentexte. Als „M“ nimmt sie sich in schon ärgerlich übertriebener Weise sehr zurück.
Daneben beginnt sie mit Übersetzungen der damaligen Gegenwartsliteratur aus dem Englischen und Französischen. Die Sprachen-Ausbildung damals in Eisenach war zwar relativ kurz (nur etwa 2 Jahre), aber Muschelkalk hat ihr Leben lang Bücher in den beiden Fremdsprachen gelesen, gelegentlich auch kleinere Übersetzungen für Firmen und Verlage gemacht und die Sprachen gesprochen, wann immer es ging. Außerdem hat sie noch zu Lebzeiten von Ringelnatz englische und amerikanische Literatur für Rowohlt dahingehend begutachtet, ob sie für eine Übersetzung ins Deutsche geeignet wären. Insgesamt übersetzt sie in der Nachkriegszeit 19 Bücher. Um zu dokumentieren, dass sie nicht nur die Witwe von Ringelnatz ist, sondern durchaus etwas Eigenes schaffen kann, verwendet sie für die Übersetzungen stets den Namen Leonharda Gescher. Dagegen tritt sie in allen Fällen, die mit dem Werk von Ringelnatz zu tun haben, stets als Muschelkalk Ringelnatz auf. Das heißt, diese kreative Frau benutzt unterschiedliche Namen, um jeder ihrer verschiedenen Lebenssituationen ihr Recht zu lassen.
Ihre Urne wird in Berlin auf dem Friedhof an der Heerstraße im Grab von Julius Gescher beigesetzt, denn das dort sich in Sichtweite befindende Grab von Ringelnatz soll – so hat sie verfügt - nicht angerührt werden.
(Text von 2016)
Verfasserin: Barbara Hartlage-Laufenberg
Links
www.ringelnatzmuseum.de
www.ringelnatz-verein.de/ringelnatz-in-wurzen/ausstellung/
Literatur & Quellen
Pape, Walter (Hrsg.): Joachim Ringelnatz. Briefe. Berlin 1988
Reichel, Maria: “Leonharda Pieper – Muschelkalk Ringelnatz”, in: Jung, Sabine/Stadt Wurzen (Hrsg.): Die Frauen um Ringelnatz, 2. Auflage Wurzen 2014 (Ausstellungskatalog), S. 116 – 129
Werke
Als Herausgeberin (neben verschiedenen Zusammenstellungen von Ringelnatz-Gedichten):
In memoriam Joachim Ringelnatz. Eine Bibliographie, eingefügt in biographische Notizen, unveröffentlichte Gedichte und Erinnerungen der Freunde. Leipzig 1937. Neu herausgegeben von Frank Möbus. Göttingen 2010
Reisebriefe am M. Berlin 1964
Als Übersetzerin
Aus dem Englischen:
Cyril Connolly, Das Grab ohne Frieden (Suhrkamp 1952)
Christy Brown, Mein linker Fuß (Henssel 1956)
Randolph Stow, Wir sind erst achtzehn, doch alt wie Berge (Henssel 1957)
Randolph Stow, Zu jenen Inseln (Henssel 1959)
Laurens van der Post, Die verlorene Welt der Kalahari (Henssel 1959)
Joseph William Long, Friedliche Wildnis (Henssel 1959)
Laurens van der Post, Das Herz des kleinen Jägers (Henssel 1962)
Eilis Dillon, Die singende Höhle (Schaffstein 1962)
James Baldwin, Schwarz und weiß oder Was es heißt, ein Amerikaner zu sein (Rowohlt 1963)
Aus dem Französischen:
Charles F. Ramuz, Erinnerungen an Igor Strawinsky (Suhrkamp 1953)
Monique Saint-Hélier, Der Eisvogel (Suhrkamp 1954)
Monique Saint-Hélier, Quick (Suhrkamp 1955)
Monique Saint-Hélier, Die rote Gießkanne (Suhrkamp 1956)
Michel Del Castillo, Elegie der Nacht (Hoffmann & Campe 1958)
Marguerite Duras, Moderato Cantabile (Suhrkamp 1959)
Marianne Monestier, Kawanga, das Eskimomädchen (Schaffstein 1960)
Gisele Prassinos, Die Abreise (Christian Wegner 1961)
Bernard Clavel, Der Fremde im Weinberg (Christian Wegner 1961)
Michel Del Castillo, Manege Espagnol (Hoffmann & Campe 1962)
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