Krake im Bauch
Gestern waren wir mit Christiane in dem Film “Water Lilies” von Céline Sciamma, französisches Original mit englischen Untertiteln. Eigentlich wollten wir einen anderen Film sehen, der lief aber schon nicht mehr. Wir einigten uns dann auf diesen Film, von dem wir alle noch nie gehört hatten, weil seine Anfangszeit uns noch ein wenig Zeit für das Dinner ließ, weil er von einer Frau ist und von drei 15jährigen Mädchen/Frauen handelt, die alle etwas mit Synchronschwimmen zu tun haben. Ich liebe das Synchronschwimmen - einen ulkigeren Sport gibt es wohl nicht.
In der Anfangsszene schwimmen die “Water Lilies” synchron zum “Dies irae” aus Verdis Requiem. Sehr komisch, um nicht zu sagen camp, aber dann wird es ernst:
Das Synchronschwimmen hat die fünfzehnjährige Marie in ihren [sic] Bann gezogen – oder ist es vielmehr der hinreißende Star der Gruppe, die schöne Floriane? Diese wiederum gilt unter den Jugendlichen als ‘femme fatale’, die jeden Jungen um den Finger wickeln kann. Dritte im Bund der liebesdurstigen Jugendlichen im Vorstadtmilieu ist Maries beste Freundin Anne, dringend auf der Suche nach dem ersten Mal. (film-zeit.de)
Im Original heißt der Film “Naissance des pieuvres” (Geburt der Kraken), in Deutschland läuft er unter seinem englischen Titel “Water Lilies”.
“Water Lilies” heißt in der englischsprachigen Welt der berühmte monumentale Gemäldezyklus “Nymphéas” (Seerosen) des späten Monet. Und von Nymphéas ist es nicht weit zu Lolita und anderen “Nymphchen” (nymphets).
"Water Lilies" ist als Titel nicht schlecht, aber er trifft nur die Oberfläche des Films, und mit dem Originaltitel hat er nichts zu tun. Der ist keine voyeuristische Anspielung auf grazile junge Badenixen, sondern zielt kompromißlos auf ein - nicht selten verzehrendes und verheerendes - Gefühl.
Die Regisseurin antwortete auf die Frage, was es mit dem mysteriösen Titel “Geburt der Kraken” denn auf sich habe, folgendes:
Der Titel war da von Anfang an. Er ist quasi das erste, was ich geschrieben habe. Die Krake ist für mich die Manifestation der Gefühle, das vielarmige Monster, das im Bauch wohnt. Die Eifersucht, die Begierde… Wenn wir uns das erste Mal verlieben, das ist die Geburt der Krake in uns … Und dann, etwas einfacher, ist die Krake ein weibliches Wasserwesen. Anmutig im Wasser, in ihrer Stärke und Geschmeidigkeit. Sie hat Ähnlichkeit mit den Körpern Heranwachsender. [Françoise] Dolto spricht vom Hummerkomplex, um die Adoleszenz zu beschreiben. Und bei mir ist es der Krakenkomplex…
(Quelle; Übersetzung von mir, LFP)
Céline Sciamma ist 28 Jahre alt - die Zeit des Krakenkomplexes liegt bei ihr noch nicht so weit zurück, daß sie vergessen hätte, welche Qualen die Krake bereiten kann.
Wo andere liebliche Bilder von Blumen und Schmetterlingen bemühen, um die Pubertät zu beschreiben ("Schmetterlinge im Bauch", “Im Schatten junger Mädchenblüte” (Proust), "Water Lilies"), vermittelt Sciamma uns die authentische Innensicht und spricht von einem vielarmigen Monster.
Erwachsene kommen in dem Film kaum vor. Er ist aus der Perspektive von Marie gedreht; sie ist die zentrale Figur. Sie ist in Floriane verliebt, aber das darf natürlich niemand merken. Ihre Krake muß, anders als die von Floriane und Anne, im Versteck bleiben und tobt dort umso wüster.
Die Kraken von Anne und Floriane haben sozusagen freien Auslauf, dürfen hohe Wellen schlagen und theatralische Wirkung entfalten. Dafür wurden beide Darstellerinnen (Louise Blachère und Adèle Haenel) zu Recht preisgekrönt. Die Darstellerin der Marie (Pauline Acquart) ging leider leer aus. Marie tut auch meist nicht mehr, als zu beobachten, zu schweigen, in der Ecke zu stehen und stundenlang zu warten. Auf der Tanzfläche steht sie steif da, während ihre Angebetete einen lasziven Tanz um sie aufführt.
In dem berühmten Film “Brokeback Mountain” über zwei schwule Cowboys geht es auch die meiste Zeit nur um die brutale Unterdrückung der Kraken. Aber in zwei Liebes-Szenen dürfen sie sich doch intensiv ausleben. Nicht so Maries Krake. Die bleibt die ganze Zeit unter Verschluß.
Als wir das Kino verließen, fragte mich Christiane: “Welche war denn nun die Lesbe?” Im Vorschautext war von “Schwärmereien” (crushes) die Rede gewesen, “sowohl heterosexuellen als auch gleichgeschlechtlichen”.
Die Frage hat mich sehr verblüfft. Die Krake zerreißt Marie fast, aber das merken vielleicht nur die, die den Zustand kennen. Regisseurin Céline Sciamma kennt sich aus, bestens.
Links: Die ersten 6 Minuten des Films inklusive "Dies irae" als Schwimmoper. Dort auch weitere Infos, u.a. ein schönes Interview mit Céline Sciamma.
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