geboren am 7. März 1956 in London
gestorben am 14. Februar 2019 in London
britische Schriftstellerin
5. Todestag am 14. Februar 2024
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Sie wurde erst mit Mitte dreißig und durch eine eher unangenehme Erfahrung zur Schriftstellerin: Bei einem Workshop über Rassismus sollten sich die Teilnehmer:nnen gemäß ihrer Hauptfarbe in zwei Gruppen aufteilen - und sie, die sich bis dahin als Weiße gesehen hatte, wurde aufgefordert, sich der schwarzen Gruppe anzuschließen.
Tatsächlich kam ihre Familie aus Jamaika, wo 300 Jahre Sklaverei eine Kreolisierung der Bevölkerung zur Folge hatten: Die englischen Plantagenbesitzer dort hatten die wenigen schwarzen Sklavinnen oft und gerne in außereheliche Liebschaften gelockt oder gezwungen, aus denen mixed-race-Kinder hervorgingen. Andrea Levy hatte, wie sie später herausfand, sowohl afrikanische als auch schottische und jüdische Vorfahren.
Levys Eltern waren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus der verarmten Kolonie nach Großbritannien eingewandert, nachdem der Vater dem kolonialen Mutterland als Soldat gedient hatte. Für den Wiederaufbau des Landes waren zusätzliche Arbeitskräfte dringend erwünscht; aber diejenigen, die kamen, wurden eher unfreundlich empfangen. Die Eltern ebenso wie ihre im London der 50er Jahre geborenen Kinder taten viel dafür, als Einheimische wahrgenommen und von der weißen Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden.
Andrea, 1956 geboren, wuchs in in einem weißen Arbeiterviertel im Norden Londons auf, besuchte ein renommiertes Gymnasium und studierte Textildesign. Anschließend arbeitete sie als Designerin, als Kostümassistentin und als Rezeptionistin. Ihre Einstellung beschrieb sie später so: „Ich schämte mich für meine Familie, es war mir peinlich, dass sie aus der Karibik kamen. In meinem Bemühen, so britisch zu sein wie möglich, war mir Jamaika vollkommen gleichgültig.“
Nach dem Rassismus-Workshop ließ sich diese Einstellung nicht länger durchhalten. Levy begann, sich mit ihrer Herkunft und mit ihren Erfahrungen als Tochter von Einwander:nnen zu beschäftigen, und sie verwandelte diese Beschäftigung in Romane, die die immer nur prekäre Zugehörigkeit migrantischer Familien zur Mehrheitsgesellschaft zum Thema hatten. Ihre ersten Bücher „Every Light in the House Burnin’“, „Never Far from Nowhere“ und „Fruit of the Lemon“ wurden von der Kritik positiv aufgenommen, waren aber keine Publikumserfolge.
Das änderte sich 2004 mit dem Roman „Small Island“ (dt. „Eine englische Art von Glück“, 2007), der von der Ankunft ihrer Eltern in Großbritannien inspiriert ist. Dabei wird das Geschehen aus vier unterschiedlichen Perspektiven erzählt: Da ist der jamaikanische Ex-Soldat Gilbert, der 1948 auf der „Windrush“ nach England reist (dem Schiff, mit dem das Empire seinen ehemaligen Kolonialsoldaten die Einreise ins Mutterland ermöglichte). Seine Ehefrau Hortense hat Gilbert in einem gewagten Manöver ihrer Freundin ausgespannt, um über ihn Zugang zu einem besseren Leben in Großbritannien zu erhalten. Dort angekommen, muss sie jedoch erfahren, dass ihre auf Jamaika erworbene Qualifikation zur Lehrerin, auf die sie so stolz ist, in Großbritannien nicht anerkannt wird. Die Londonerin Queenie vermietet in ihrem schäbigen Haus Zimmer an schwarze Einwanderer und hat mit einem von ihnen eine Affäre. Ihren rassistischen Ehemann Bernard, der verspätet aus dem Krieg zurückkehrt, lassen seine traumatischen Erfahrungen nicht los.
Vor dem Hintergrund des halb zerstörten London kommt es zu erwartbaren Konflikten unter den Hauptfiguren, aber auch zu Momenten eines unerwarteten Verständnisses füreinander. Levy stellt deren unterschiedliche Sichtweisen raffiniert nebeneinander, und es gelingt ihr, Sympathie für jede einzelne ihrer Figuren zu wecken. Der Roman wurde ein großer Erfolg, gewann drei wichtige Literaturpreise und wurde von der BBC verfilmt. 2015 wählten 82 Internationale Literaturwissenschaftler:nnen und Kritiker:nnen das Buch zu einem der bedeutendsten britischen Romane.
Den Höhepunkt ihrer literarischen Entwicklung erreichte Levy in der Folge mit ihrem historischen Roman „The Long Song“ (2010; dt. „Das lange Lied eines Lebens“, 2011), der mit der Geschichte der Sklavin July die karibische Sklaverei und den Kampf um deren Beendigung zum Thema hat. Als Tochter einer Feldsklavin, die von einem weißen Aufseher vergewaltigt wurde, kommt July im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Welt, wird ihrer Mutter aber schon als Kleinkind von der weißen Gutsherrin weggenommen und zur „Lieblingszofe“ gemacht. Aus dieser Position heraus gewinnt sie Einblick in unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche der Zuckerkolonie, die sie mit dem Scharfblick einer Außenseiterin auf lakonische und zuweilen satirische Weise schildert.
So werden wir Zeug:nnen, wie die Plantagenbesitzer und ihre Ehefrauen, bei aller Macht, die ihnen ihr Status gibt, als Personen eher lächerlich daherkommen; dass ihre Sklav:nnen, bei aller Gewalt und Rechtlosigkeit, der sie ausgesetzt sind, immer neue Gelegenheiten finden, mehr oder weniger versteckt Rache an ihren Herr:innen zu üben. Daneben gestalten sie unter schwierigsten Bedingungen einen Alltag, der kleine Freuden ermöglicht und zuweilen sogar Glücksmomente bereithält. In diesen Alltag ragen die großen geschichtlichen Umwälzungen hinein, der Weihnachtsaufstand, der sogenannte Baptistenkrieg, das vom Mutterland erzwungene Ende der Sklaverei und die prekäre „Freiheit“, die die Sklav:nnen in den folgenden Jahren erwartet.
July erzählt ihr Leben als alte Frau, die im Haushalt ihres Sohnes Thomas lebt und von ihm aufgefordert wird, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie hat inzwischen Abstand von ihren Erlebnissen unter der Sklaverei gewonnen, dennoch ist sie nicht immer eine verlässliche Erzählerin. Zuweilen widerspricht sie sich, an vielen Stellen muss sie sich auf die ebenfalls höchst subjektiven Berichte anderer verlassen, und die bittere Armut, in der sie nach dem Ende der Sklaverei lebte, möchte sie am liebsten mit einer erfundenen Erfolgsgeschichte überdecken. Daran wird sie zwar von Thomas gehindert, der als Herausgeber und Verleger ihres Buches seinen Einfluss geltend macht. Umgekehrt ist jedoch auch Thomas kein Garant für eine wahrheitsgemäße Erzählung, jedenfalls dann nicht, wenn es um seine eigenen Niederlagen geht. Das Ringen der beiden um die Gestaltung von Julys Bericht ist auch ein Kampf zwischen den Geschlechtern und zwischen einer Geschichtsschreibung von „unten“ oder „oben“.
In Levys 2014 publizierten Sammlung von sechs Erzählungen und einem Essay beeindruckt vor allem die Geschichte „Loose Change“ („Kleingeld“), in der eine migrantische, jedoch in der britischen Gesellschaft bereits etablierte Erzählerin sich vornimmt, einer obdachlosen Geflüchteten aus Taschkent, Laylor, zu helfen, indem sie sie bei sich aufnimmt. Aber dann flieht sie vor ihrem eigenen Anspruch und der unausgesprochenen Bitte Laylors und überlässt die Geflüchtete ihrem Schicksal.
Ihre letzten beiden Bücher schrieb Andrea Levy bereits unter dem Schatten des Todes. Sie starb 2019 im Alter von nur 62 Jahren an einer Krebserkrankung, an der sie seit 2004 gelitten hatte. Die Literatur verlor mit ihr eine herausragende Schriftstellerin, deren imaginative Kraft und sprachliche Kunst ihresgleichen suchen.
(Text von 2023)
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.
Verfasserin: Renate Kraft
Literatur & Quellen
Andrea Levy: Every Light in the House Burnin’, London 1994
Andrea Levy: Never Far from Nowhere, London 1996, dt. Niemals weit von Nirgendwo (Salt and Pepper), übers. v. Bernhard Robben, Frankfurt/M. 1998
Andrea Levy: Fruit of the Lemon, London 2000.
Andrea Levy: Small Island, London 2004, dt. Eine englische Art von Glück, übers. v. Bernhard Robben, Frankfurt/M. 2007
Andrea Levy: The Long Song, London 2010, dt. Das lange Lied eines Lebens, übers. v. Hans- Christian Oeser, München 2011
Andrea Levy: Six Stories and an Essay, London 2014
Stefan Fuchs: Zusammenprall zweier Welten, Deutschlandfunk 17.08.2007
Ruth Scurr: The Long Song by Andrea Levy, The Times 06.02.2010
Kate Kellaway: The Long Song by Andrea Levy, The Guardian 07.02.2010
John Mullan: Small Island by Andrea Levy, The Guardian 08.01.2011
Alison Flood: The best British novel of all time: have international critics found it? The Guardian 08.12.2015
Alex Marshall: Andrea Levy, Author Who Spoke for a Generation of Immigrants, Dies at 62, The New York Times 15.02.2019
Richard Lea: Andrea Levy, chronicler of the Windrush generation, Dies age 62, The Guardian 15.02.2019
Jeannette Baxter/David James (ed.): Andrea Levy. Contemporary Critical Perspectives, London 2014
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.