
geboren am 30. Mai 1926 in Breslau
deutsche Schriftstellerin
99. Geburtstag am 30. Mai 2026
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Die jungen Filmemacherinnen, die 2021 zu ihrem 95. Geburtstag ein Filmporträt über sie drehten, hätten sich sehr beeilt, erzählte Dagmar Nick lachend. Sie hätten wohl Angst gehabt, ihre Protagonistin könnte vor Abschluss der Dreharbeiten sterben. Dabei war Eile nicht nötig. Die Dichterin fand zwar: „95 Jahre zu werden ist schon eine Zumutung“, präsentierte sich aber in bewundernswert guter Verfassung, erzählte lebhaft und las mit ihrer ausdrucksstarken Lesestimme aus ihren Gedichten. Beim Rundgang durch ihre Münchner Wohnung zeigte sie dem Filmteam: die von ihr verfassten Bücher füllen ein riesiges Regal zusammen mit Hunderten von Anthologien und Schulbüchern, in denen einzelne ihrer Gedichte veröffentlicht wurden. Dagmar Nick gilt, auch wenn sie weniger bekannt ist als z.B. Rose Ausländer oder Hilde Domin, als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts und wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Die Ehrungen zu ihrem 95. waren voller Bewunderung für ihr großes Lebenswerk, das neben Lyrik auch zahlreiche Prosabände und Hörspiele umfasst. Der letzte Gedichtband Getaktete Eile war gerade erst erschienen.
Dagmar Nick hatte sich, so erzählt sie, schon mit vier Jahren die ersten Gedichte ausgedacht, es musste sich reimen, kurz sein und Spaß machen. Als sie in die Schule kam, lernte sie, dass Spaß und Witze nur noch zu Hause stattfinden durften, in der Öffentlichkeit galt es, „den Mund zu halten“. Ihr Vater Edmund Nick, Komponist und Musikkritiker, verlor direkt nach der Machtergreifung der Nazis seine Stellung am Breslauer Rundfunk. Ihre Mutter, die Konzertsängerin Käte Nick-Jaenicke, durfte als „Halbjüdin“ nicht mehr auftreten. Die Familie zog von Schlesien nach Berlin, wo Dagmar Nick das Gymnasium besuchte, bis bei ihr eine offene Tuberkulose festgestellt wurde und sie viele Monate in Krankenhäusern und Sanatorien verbringen musste. 1943 wurde die Familie ausgebombt, kam bei Verwandten in Böhmen unter. Im Februar 1945 konnte sie von dort mit dem letzten Zug nach Bayern fliehen.
Flüchtlingstrecks, ausgebombte Städte, Ruinen – die junge Dichterin verarbeitete das Leiden, die Angst und die Verzweiflung dieser Zeit in ihren Versen, die auch grausam-realistisch sein konnten. „Weiter, weiter. Drüben schreit ein Kind./Laß es liegen, es ist halb zerrissen./“, heißt es in ihrem berühmten Gedicht „Flucht“. Erich Kästner, Feuilletonchef der Münchner Neuen Zeitung, veröffentlichte es im Oktober 1945, Auflage zwei Millionen. Für ihn war Dagmar Nick, obwohl erst 19 Jahre alt, bereits eine wichtige Stimme der deutschen Nachkriegslyrik, „ein Zeichen der Hoffnung“. 1947 erschien ihr erster Gedichtband Märtyrer, „geschrieben für jene, die die Konzentrationslager erlebten“, gefolgt von zahlreichen anderen, in denen sie aus einer zutiefst humanistischen Einstellung heraus vor Krieg und Wiederbewaffnung warnte: „Eigentlich dachte ich, Frieden sei Glück/und nicht bloß eine Vokabel./Doch immer kehren die Tauben zurück/ohne den Ölzweig im Schnabel.“
Neben diesen „Zeitgedichten“, entstanden auch Naturlyrik und sehr intime Liebesgedichte voller Höhenflügen und Abstürzen, weil sie „immer irgendwie verliebt war“, u.a. in den Dramaturgen und Übersetzer Robert Schnorr, der ihr erster Ehemann wurde.
Obwohl Dagmar Nick evangelisch getauft und, wie sie betonte, nicht gläubig war, fühlte sie sich eng verbunden mit dem Judentum und erforschte intensiv die Geschichte ihrer mütterlichen Vorfahren. Von 1959 bis 1963 wurde Israel zu ihrer emotionalen Wahlheimat. Sie besuchte das Land auf ausgedehnten Reisen, die sie zu ihrem sehr erfolgreichen Reisebuch „Einladung nach Israel“ anregten, heiratete den israelischen Arzt David Peterson und übersiedelte, wie sie meinte, endgültig, in „das Land ohne Winter“. Doch einmal dort, spürte sie, dass die Inspirationsquelle versiegte, ihr fehlte die deutsche Kultur und Sprache. Sie wandte sich wieder zurück nach Europa, unternahm in den folgenden Jahren Reisen nach Rhodos, Sizilien und auf die Ägäischen Inseln, woraus jedes Mal ein neues Buch entstand. Diese Reisebücher, illustriert mit den Fotografien von Kurt Braun, ihrem dritten Ehemann, mit dem sie seit 1967 wieder in München lebte, waren eine ganz besondere Mischung aus „Mythos und Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart, subjektiven Eindrücken und objektiven Fakten“ (Sabine Friedrich).
Aus griechischer Mythologie und jüdischer Überlieferung speisten sich auch die großen Prosamonologe, in denen sie drei Frauengestalten zum Sprechen brachte: Medea, ein Monolog (1988), Lilith, eine Metamorphose (1992) und Penelope, eine Erfahrung (2000). Es geht um Liebe, Tod und Einsamkeit, wie in Dagmar Nicks Leben. 1982 hatte Kurt Braun einen Schlaganfall erlitten, von dem er gelähmt zurückgeblieben war. Fünfzehn Jahre lang, bis zu seinem Tod, pflegte Dagmar Nick ihren Ehemann. Ihre Gedichte dieser Zeit trugen Titel wie „Auf Abruf“ und „Gezählte Tage“. Eigentlich dachte sie, sie könnte nach diesem Verlust nicht mehr schreiben. Sie fand dann aber doch die Kraft, mit ihrer ganz eigenen unsentimentalen Ehrlichkeit Bilanz zu ziehen: „meine unausgekosteten Lebenslieben, sie ziehen an mir vorüber“, und sich den Beschwerden des Alterns zu stellen: von einem „zum Sterben entschlossenen Herzen“ ist in den späten Gedichten die Rede, aber auch von der Wissbegier, die sie immer noch wach hält. Am 30. Mai 2026 wird die Dichterin 100!
(Text von 2025)
Verfasserin: Andrea Schweers
Zitate
Ich kann nicht behaupten, dass das Alter milde und weise macht… mich nicht.
Dagmar Nick, 2021
Es ist kein Tag, den ich verschenke.
Dagmar Nick, 2021
Die Schultern sind schwerer
geworden. Aber ich habe noch
eine leichte. Auf die nehm ich
was hart macht.Dagmar Nick
Links
Literatur & Quellen
Friedrich, Sabine. (1990) Traditionsbewußtsein als Lebensbewältigung: Zu Leben und Werk der Dagmar Nick. Peter Lang. Europäische Hochschulschriften. Frankfurt a.M.
Nick, Dagmar. (2000) Penelope: Eine Erfahrung. Eremiten-Presse. Düsseldorf.
Nick, Dagmar. (2015) Eingefangene Schatten: Mein jüdisches Familienbuch. C.H.Beck. München.
Nick, Dagmar. (1992) Gezählte Tage: Gedichte. Rimbaud. Aachen.
Nick, Dagmar. (2021) Getaktete Eile: Gedichte. Rimbaud. Aachen.
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