geboren am 9. Januar 1883 in London
gestorben am 4. November 1974 in Loheland bei Fulda
deutsche Malerin, Designerin, Gymnastiklehrerin, Mitbegründerin der anthroposophischen Frauensiedlung Loheland
50. Todestag am 4. November 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Jungen Frauen eine Berufsausbildung als Gymnastiklehrerinnen ermöglichen, ihre handwerklichen und künstlerischen Talente fördern, ihnen in der Gemeinschaft von Frauen eine selbstbestimmte Lebensweise vermitteln – Beweglichkeit im körperlichen wie im geistigen Sinn lehren: das war das Lebensziel Louise Langgaards, für das sie ihre Karriere als Malerin und Zeichnerin aufgab. Als sie 1919 gemeinsam mit Hedwig von Rohden die Siedlung Loheland in der Rhön gründete, war dies der Beginn eines Projektes, das in der Geschichte der Emanzipation der Frau bis heute seinesgleichen sucht. Langgaard und von Rohden schufen mit der Frauensiedlung Loheland ein Gesamtkunstwerk auf der Basis der Reformbewegung und anthroposophischer Weltanschauung, das bis heute in seiner Gesamtheit von nationaler Bedeutung ist.
1883 – 1912 Anfänge und künstlerische Ausbildung
Louise Langgaard, genauer Ottilie Bertha Louise Langgaard, wurde als einziges Kind des Ehepaares Valerie Schür und Wilhelm Heinrich Theodor Langgaard in eine wohlhabende, gebildete und weltbürgerlich orientierte Kaufmannsfamilie geboren. Die Mutter kam aus Stettin, war Tochter eines Apothekers, der im Fach Philosophie promoviert hatte, der Vater ein vielgereister Kaufmann, Sohn eines Orthopäden mit eigener Klinik. Als Louise geboren wurde, war er jahrelang in Japan berufstätig gewesen und arbeitete nun für ein Handelsunternehmen seiner mütterlichen Familie in London. Bis zu Louises siebtem Lebensjahr blieb die Familie in London, dann übersiedelte sie anlässlich Louises Schulreife nach Stuttgart. Dort besuchte Louise ab 1890 die Schulen Olga- und Katharinenstift sowie die höhere Rothert-Privattöchterschule. Bereits aus dieser Zeit ist ein Zeichenheft von ihr mit Studien antiker Skulpturen und Schattierübungen erhalten, zum Teil auf 1897 datiert. 1899 besuchte sie für einige Monate die Gewerbeschule in Stuttgart, bevor sie im Oktober 1899 nach Dresden zog. Die Stadt war um 1900 bereits ein Zentrum der Kunst und neuer Wertvorstellungen. Louise Langgaard trat in den Frauenerwerbsverein ein und legte an dessen Gewerbezeichenschule nach absolvierter Studienzeit 1901 das Examen als staatlich geprüfte Zeichenlehrerin ab. Da Frauen ein Studium an der Kunstakademie immer noch verwehrt wurde, waren sie auf Privatschulen und –ateliers angewiesen. Louise Langgaard setzte ihre Ausbildung von 1902 bis 1905 bei dem damals renommierten Dresdener Maler Georg Lührig (1868–1957) und in München bei dem ungarischen Maler Simon Hollosy (1857–1918) fort. Im Jahr 1906 wurde sie Lehrerin an der Gewerbezeichenschule des Frauenerwerbsvereins, ihrem ehemaligen Studienort, hielt Vorträge und erteilte Unterrichtet an der Kunstschule Richter. Vermutlich behielt sie die Anstellung nur für ein Jahr, denn im Mai des desselben Jahres eröffnete sie bereits ein eigenes Atelier, ein zweites mietete sie im Herbst 1907 an und unterrichtete dort bis 1912 an der eigenen „Zeichen- und Malschule für Damen“. Zusätzlich war sie als Goldschmiedin und Töpferin tätig und fertigte Entwürfe für die eigene Handweberei „Eckhardt und Langgaard“ an. Langgaards reichhaltige akademische Ausbildung umfasste außerdem druckgrafische Techniken wie Radierung und Kupferstich, auch die Fotografie hatte sie als modernes Mittel der Dokumentation für sich entdeckt. All diese Fertigkeiten bilden den Hintergrund für die spätere Loheland-Schule.
Ihre künstlerischen und kunsthandwerklichen Tätigkeiten übte Langgard in Dresden jeweils von Oktober bis April aus, die Sommermonate verbrachte sie mit Studienreisen. Prägend waren ihre Reisen nach Polen, Rumänien und Ungarn von 1907 bis 1911, die sie mit Malerfreundinnen unternahm. Es waren ihre Lehr- und Wanderjahre, unterwegs mit Rucksack und Staffelei auf dem Rücken. Die engen Kontakte Georg Lührigs nach Rumänien und die ihres Lehrers Hollosy in dessen ungarische Heimat kamen den jungen Frauen dabei entgegen. Die Rekonstruktion der Reise von 1907 ergab eine Strecke von mehr als dreitausend Kilometern, zurückgelegt per Eisenbahn, in Fuhrwerken und zu Fuß. Die Frauen kamen durch Siebenbürgen, hielten sich u.a. in den Künstlerkolonien Nagybanja (heute Baia Mare in Rumänien) und der Sommerschule Tecsö (heute Tjavic) auf, zu deren Leitern Langgaards Lehrer Simon Hollosy gehörte. Vermutlich besuchten sie auch die in der Nähe von Budapest gelegene Künstlerkolonie Gödöllö. Aus Zeichnungen, Gemälden und erhaltenen Briefen geht hervor, wie sehr Louises Langgaard die unberührte Natur und die Natürlichkeit in den Bewegungen der Menschen beeindruckte. Die Reisefotografien zeigen Langgaard in bunten, traditionellen Kleidern der Region. Die bäuerliche Lebensweise, die traditionelle Kleidung der Menschen, die Schönheit der Alltagsgegenstände, die Architektur der Bauernhäuser - all das beeindruckte Langgaard zutiefst.
„Die Auseinandersetzung mit der autochthonen bäuerlichen Tradition hatte bei Louise Langgaard, wie auch bei ungarischen Künstlern, nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen existentiellen Charakter – wenn man ihre Suche nach einem neuen Lebensstil betrachtet. Die Wiederbelebung des durch die zunehmende Industrialisierung bedrohten traditionellen Handwerks… gehörte ebenso dazu wie das Ausbrechen der Malerei aus akademischen Regeln und die Befreiung von zivilisatorischen sittlichen Zwängen, wie etwa die Frauenemanzipation. Die Künstlersiedlungen, die in ländlicher Abgeschiedenheit entstanden, waren Orte, an denen diese künstlerischen und sozialen Experimente in reiner Form durchgeführt werden konnten“ (Dmitrieva, Marina, Der Pastorale-Blick: Künstlerkolonien im östlichen Europa, in: LuE, S.67). Die Wiederherstellung der harmonischen Einheit von Kunst und Leben, von Mensch und Natur – das war es, was auch Louise Langgard ersehnte und in den Künstlersiedlungen visionär verwirklicht sah. Es waren die ausgedehnten Wanderungen durch Osteuropa, die für Louise Langgaard zur Inspiration für die spätere Lebensreformsiedlung Loheland wurden.
Die „Lebensreform“-Bewegung war seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Beginn von Industrialisierung, Verstädterung, kapitalistischem Materialismus und weltanschaulicher Orientierungslosigkeit entstanden, die Industrialisierung und Moderne als Verfallserscheinungen der Zivilisation betrachteten und die Rückkehr zu einem naturgemäßen Leben anstrebten. Dazu zählte u.a. die Entwicklung von Siedlungen anstelle von urbanen Zentren, ökologische Landwirtschaft, Naturheilkunde und Vegetarismus. In besonderem Maße ging es um eine neue Einstellung zum Körper, wofür in erster Linie die Frauen sorgten. Sie lehnten sich auf gegen das obligatorische, körperfeindliche Korsett, der Körper sollte sich frei entfalten können – das leichte, luftige Reformkleid kam in Mode.
In Dresden-Hellerau besuchte Louise Langgaard 1912 Kurse für Rhythmische Gymnastik bei Emile Jaques-Dalcroze (1865–1950), dem Begründer der rhythmisch-musikalischen Erziehung. Es ging ihr um die Verbesserung ihrer anatomischen Kenntnisse und das Studium der Bewegung des Körpers. Im selben Jahr entschied sich Louise Langgaard zum Zweck ihrer weiteren künstlerischen Fortbildung zu einem halbjährlichen Aufenthalt in Norwegen bei Bess Mensendieck (1864–1957), einer niederländisch-amerikanischen Ärztin, die als eine der wichtigsten Begründerinnen der Atem- und Körpertherapie gilt. Louise Langggaard schloss die Ausbildung mit dem Diplom als Lehrerin des Mensendieck-Systems für das „funktionelle Frauenturnen“ ab.
1912 – 1919 Begegnung mit Hedwig von Rohden und Entwicklung der „von Rohden-Langgaard-Lehrweise“
Ihre erworbenen Kenntnisse in den Gymnastikausbildungen sollten ihrer verbesserten künstlerischen Arbeit dienen, Langgaard hatte nie vor, ihre Tätigkeit als Malerin und Kunstlehrerin aufzugeben. Wohl aus finanziellen Gründen übersiedelte sie 1912 nach Kassel, um als Gymnastiklehrerin zu arbeiten. Dort hatte im selben Jahr der evangelische Theologe und Gründer des Theologievereins Karl Zimmer ein „Seminar für klassische Gymnastik“ im Rahmen seiner „Mathilde-Zimmer-Stiftung“ gegründet. In mehreren Städten hatte Zimmer sog. Töchterheime gegründet, um jungen bürgerlichen Frauen eine Berufsausbildung und damit ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu ermöglichen – was vor dem 1. Weltkrieg einer feministischen Revolution gleichkam. Als Leiterin berief er die von Hede Kallmeyer in Rhythmischer Gymnastik und Atemtherapie ausgebildete Gymnastiklehrerin Hedwig von Rohden (1890–1987). Im Oktober 1912 kam nun auf Empfehlung Bess Mensendiecks Louise Langgaard als zweite Lehrerin ans Seminar.
Damit trafen sich zwei kreative, charismatische, vielseitig ausgebildete junge Frauen mit Weitsicht und Wagemut, die für die nächsten 25 Jahre gemeinsam arbeiten und leben würden. Imme Heiner, eine der ersten Schülerinnen, schreibt, dass hier zwei Persönlichkeiten zusammenkamen, die „berufen waren, das Wesen ‚Gymnastik‘ immer mehr zu ergründen und neu zu erschließen. Den Leib als Instrument der Seele durch sinngemäßes, unerschöpfliches Üben gefügiger und durchlässiger zu machen, um allmählich befreite, reine Bewegung des Menschen zu entfalten und in Erscheinung treten zu lassen, war das Ziel.“ (Heiner, Imme, “Erinnerungen an das Seminar für Klassische Gymnastik und Alt-Loheland”, in: 3G, S.17). Langggaard und von Rohden waren eng vernetzt mit führenden VertreterInnen der Reformbewegung wie z.B. Heinrich Vogeler aus Worpswede oder Franz Hilker, einem der führenden Vertreter der Reformpädagogik. Bildungskonzept, Menschenbild und didaktische Grundlage der Ausbildung war das anthroposophische Menschenbild.
Louise Langgaard hatte Rudolf Steiner bereits kennengelernt und trat 1913 der Anthroposophischen Gesellschaft bei. Nun begeisterte sie auch Hedwig von Rohden für die anthroposophische Bewegung. Zudem kam den beiden Frauen entgegen, dass Steiner viele der lebensreformerischen Ideen in seine anthroposophische Lehre aufgenommen hatte.
Auf der Basis dieser Ansätze entwickelten Langgaard und von Rohden ein eigenes Konzept für die Gymnastik-Ausbildung, das von nun an die „Von Rohden-Langgaard-Lehrweise“ hieß. Eigenständig und selbstständig wollten sie ihre Schule führen, was zur Trennung von der Zimmermann-Stiftung führte. Die Frauen verlagerten das Seminar zunächst von Kassel nach Potsdam, dann nach Tambach in Thüringen. 1917, mitten im 1. Weltkrieg, bot der Reformpädagoge und Gründer der Landschulheime Hermann Lietz (1868–1919) dem Seminar sein Landerziehungsheim Schloss Bieberstein in der Rhön für die Zeit der Kriegsdauer an. Hatten sie in Kassel mit vier Schülerinnen begonnen, zogen Langggaard und von Rohden nun mit 80 Schülerinnen um. Als Lietz nach Kriegsende das Schloss wieder in Anspruch nehmen wollte, wurde das Seminar heimatlos, die Schülerinnen mussten vorläufig entlassen werden. Es wuchs „...der Wunsch, ein Grundstück zu finden und Bauten zu errichten, die der gymnastischen Arbeit und dem gemeinschaftlichen Leben dienten. Eine eigene Landwirtschaft sollte die Gemeinschaft versorgen… Eigene Erfahrungen und die Zeitereignisse verstärkten den Impuls zu siedeln.“ (Hertling, Elisabeth, “Das Entstehen und das Werden der Schulsiedlung Loheland”, in: 3G, S.155). Durch Zufall, durch ein Gespräch im Gasthaus des Dorfes Dirlos bei Fulda, erfuhr Langgaard von einem 45 Hektar großen unbesiedelten Grundstück, bestehend aus Grasland, Wald, Heideland, einem Steinbruch und einigen Quellen, das zum Verkauf stand. „Dies ist der gesuchte Ort, unsere Heimat!“, soll sie begeistert geäußert haben. Gegen Hypothek wurde das Land gekauft, und es begann gewissermaßen aus dem Nichts der Aufbau der Siedlung von Frauen für Frauen. Ihr Land tauften Langgaard und von Rohden „Loheland“ – vermutlich eine Kombination der Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen: LOuise und HEdwig.
1919 - 1933 Gründung und Blütezeit der „Loheland Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk“
Bereits Ende des Jahres 1919 konnten die Schülerinnen zurückgerufen werden, die Ausbildung konnte – zunächst unter äußerst kargen Umständen – wiederaufgenommen werden. Die jungen Frauen wohnten bei Bauern in den umgebenden Dörfern, der Unterricht fand in Zelten statt. Mit Hilfe von FreundInnen und UnterstützerInnen war das erste Haus, das „Holzhaus“, in wenigen Wochen errichtet, Wolldecken dienten als Türen und Fenster, fließend Wasser- und Elektrizitätsanschlüsse sowie einen Transformatorenturm gab es erst sehr viel später. Alle mussten mit anpacken, war doch Selbstversorgung wichtiger Bestandteil des Projekts. Feldarbeit, Mitarbeit beim Bau weiterer Häuser war nicht nur selbstverständlich, sondern auch Teil der Suche nach naturgemäßer Lebensweise. Der Einfluss der lebensreformerischen Werte wurde bis in die äußere Erscheinung der Frauen sichtbar: sie trugen Reformkleidung, die Zöpfe waren abgeschnitten, androgyn wirkende Kurzhaarfrisuren waren angesagt – äußere Zeichen des Strebens nach Emanzipation und neuen weiblichen Rollenmustern.
Den lebensreformerischen, anthroposophischen Stil prägte Louise Langgaard auch in den weiteren Bauten Lohelands. Walther Baedecker (1880–1959), der mit ihr befreundete Architekt aus Hamburg und bekannt für das „Neue Bauen“, verwirklichte ihre Ideen.
Für die Gartenarchitektur zeichnete Max Karl Schwarz (1895–1963), einer der Pioniere des biologisch-dynamischen Landbaus und Mitbegründer der Siedlungsschule Worpswede. In Loheland wurde bereits ab 1926 biodynamisch angebaut - es war somit eine der ersten biodynamisch geführten Landwirtschaften Deutschlands. Bauten und Gestaltung der Fläche zeigen bis heute die einzigartige kulturelle und architekturgeschichtliche Bedeutung der Frauensiedlung, die ab 1919 als „Loheland Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk Gen.m.b.H“ gemeldet und bescheinigt war. Langgard und von Rohden ging es um ein Miteinander von Natur und Mensch, um ein „Gartenreich“, in dem Landarbeit, Kunst, Alltag und Gemeinschaft gelebt werden konnten. Ihre Bildungsstätte solle eine „Lebensschule“ sein, Gymnastik müsse eingebettet sein in einen reichen Erfahrungsraum, der den Frauen Möglichkeiten zur Entdeckung und Entwicklung ihrer individuellen Talente böte. Dann könne sich die erlangte Kompetenz, „je nach Neigung und Talent, auf künstlerischem, wissenschaftlichen oder pädagogischen Feldern niederschlagen“ (Mollenhauer-Klüber, Elisabeth, “Entwicklung Raum geben. Bauelemente Lohelansds”, in: LuE, S.51, Zitat aus einem Brief von Rohdens 1919). Langgaard und von Rohden schöpften zwar aus den Lehren Steiners und den Ideen der Lebensreform, aber ihr eigenes Körperbildungskonzept wurde selbst zu einem Impuls für beide Bewegungen.
- Gymnastikausbildung und Ausdruckstanz
Herzstück und Kernaufgabe der zunächst zweijährigen Ausbildung zur Gymnastiklehrerin war das Studium der menschlichen Bewegungen, des Körpers als Instrument der Persönlichkeitsentwicklung. „Bewegung ist ein Element des Lebens. Pflegen wir Bewegung, so pflegen wir den Menschen in einem umfassenden Sinn“, lautete das Motto der beiden Gründerinnen. „Bei gymnastischen Übungen ist Bewegung das Wesentliche und nicht die Form – nicht der Nutzen – nicht die Formel – nicht das Sichtbare -, sondern das Leben, aus dem Bewegung entspringt.“ Es handle sich um das, „was wir Bildung nennen. Sich bilden heißt sich Form geben, sich differenzierter machen, empfänglicher, sehender“ (nach Langgaard von Rohden, zitiert von Mollenhauer-Kübler, Lebensreform und Moderne – Alternativen zur technischen Zivilisation, in: L 100 S. 25). Zur Ausbildung gehörten musikalisch-rhythmische Übungen und eine von Louise Langggard entwickelte spezielle Zeichenmethode, das sog. bewegungsdynamisch-anatomische Zeichnen. Damit sollten die Schülerinnen lernen, den praktisch erfahrenen Sinnzusammenhang zwischen der Bewegung und dem anatomischen Bau des Körpers nachzuvollziehen. In Loheland ging es nicht „um ein schönes oder naturgetreues Ergebnis, sondern um die Bemühung, ... in das Kräftespiel der Bewegung einzutauchen – wahrnehmend, erlebend und formend.“ (Voegele 8 und15). Um das Knochen- und Muskelspiel genauestens studieren zu können, fand der praktische Unterricht meist unbekleidet statt. Komplexe, detaillierte Studien von Skelett, Knochen- und Gelenkbildungen, Vergleiche zwischen Mensch und Tieren sind aus dem Anatomieunterricht erhalten. Fotografien überliefern, dass Louise Langggaard in ihrem Unterricht die Bewegungen des menschlichen Körpers auch in Ton nachbilden ließ, Verständnis für Balance und Gleichgewicht weckte sie durch Statikübungen mit Holzklötzen etc. Ob es um medizinische, anatomische oder naturwissenschaftliche Inhalte ging, immer wurde Unterricht verbunden mit der Bemühung um das Erfassen des Wesens, des Typischen in der Bewegung eines Menschen ebenso wie in den Wandlungsprozessen der Natur – wie Naturbeobachtung überhaupt zur Grundlage des Einfühlens in Bewegungszusammenhänge galt.
„Die Grundlage der Zeichentechnik bildet das den Lebensvorgängen nachempfundene „Stauen“ im Verlangsamen bis zur Ruhe und das „Strömen“ im fließenden Weiterbewegen. Das Prinzip von Stauen und Strömen, Binden und Lösen, Verdichten und Auflösen, zur Ruhe und wieder in Bewegung kommen ist ein Urphänomen der Bewegung, der Entwicklung und des Wachstums. Es taucht in vielen Metamorphosen der Naturvorgänge in sich stetig wiederholender Gesetzmäßigkeit auf.“ (Voegele, S.13)
- Tanzaufführungen
Die gymnastisch besonders begabten Schülerinnen waren schon während der Zeit des Klassischen Seminars ab 1912 als Tänzerinnen ausgebildet worden. Erste fotografische Tanzaufnahmen von Louise Langgaard entstanden schon 1914, eine Serie von Tanz- und Aktaufnahmen in höchster Studioqualität erstellte sie 1920. Der Ausdruckstanz als neue Form des Tanzes hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts als Alternative zu klassischer Choreographie und Gesellschaftstanz herausgebildet und war von Langggaard und von Rohden in Verbindung mit der gymnastischen Bildung zu höchster künstlerischer Qualität entwickelt worden. Tanz sollte „sichtbare Sprache, sichtbarer Gesang“ sein - Steiner hatte bereits 1908 von einer anthroposophischen Tanz- und Bewegungskunst gesprochen (Wendt, S.193). Es war die Zeit des expressionistischen Tanzes, er sollte als freier Tanz „Lebensfreude, Gestaltungskraft und Identität erfahrbar machen, Empfindungen befreien und schulen.” (Mollenhauer-Kübler, Elisabeth, “Loheland als Objekt und Aufgabe der Denkmalinventarisation”, in: LuE, S. 36). Legendär wurde die „Glanzklasse“ mit Eva Maria Deinhardt (1896–1977), Berta Müller (1897–1992), Edith Sutor (1893–1966), Marie Therese Commichau (1885–1949) - die Namen der berühmt gewordenen Ausdruckstänzerinnen. In ihren Aufführungen waren sie in selbst hergestellte, phantasievolle, futuristische Gewänder gekleidet, bestehend aus wenig mehr als Stoffbahnen - Kostüme, die den Körper in all seiner Virtuosität als Träger der Bewegungen zeigen sollten. Die Tournee von 1919 machte Loheland in ganz Deutschland bekannt, als die Gruppe Tänze aufführte mit Titeln wie „Seltsam“, „Strömungen“, „Blind“, „Walpurgis“ zu Musikstücken von Grieg, Händel, Chopin, Hindemith und zu Kompositionen der Loheländerin Marie Therese Commichau. 1921 schrieb der Hannoversche Kurier: „Diese prachtvollen Leistungen entfließen nicht so sehr der Übung, vielmehr einer ganzen Hingabe, einem anhaltenden Zustand des Gemüts, einer Tanzfrömmigkeit… Ihr Spiel und Tanz hat seinen Schwerpunkt im Seelischen und sprach in vollen Tönen“ (Hertling, Elisabeth, ebd., in: 3G, S. 171).
Aufführungsorte aus der Saison 1921/1922 waren beispielsweise Weimar, Bremen, Erfurt, Hamburger Convent Garten, die Alte Oper Frankfurt, Göttingen, Köln und Gera, Wien und Prag. Ein Zeitungsrezensent vermerkte: „Ich stand wie ein Schüler und verstand, dass es hier einen neuen Sinn zur Bewertung der räumlich-zeitlichen Bewegung zu erschließen gilt“ (Mollenhauer-Klüber, ebd., in: LuE, S.39). 1923 hatten die Loheländerinnen ihre Tanzkunst bis zu ihrer Höhe entwickelt, als ein Brand die Lagerhalle in Loheland mit allen Requisiten und Kostümen vernichtete. Langgaard und von Rohden nahmen dies als Zeichen, die Tanzaufführungen zu beenden und sich fortan nur noch der „reinen Gymnastik“ und deren Darstellung zu widmen. Lohelands Bildungsziel war der künstlerisch empfindsame Mensch; die Tänzerinnen hatten lediglich eine der vielen weiteren Begabungen der Loheland-Schülerinnen repräsentiert.
1922 hatte auch Hedwig von Rohden Rudolf Steiner kennengelernt und ihn nach Loheland eingeladen. Vier Jahre später besuchte seine Frau Marie Steiner-von Sievers Loheland. Sie äußerte sich positiv über die Frauensiedlung, wünschte jedoch, dass eine der Leiterinnen eine Ausbildung in Eurythmie absolvieren möge. Hedwig von Rohden ließ sich daraufhin von 1926 bis 1928 in Dornach zur Eurythmikerin ausbilden. Für die höheren Klassen in Loheland konnte der Unterricht nun um Eurythmie erweitert werden, was bald zum Angebot einer dreijährigen Gymnastikausbildung führte.
Landbau
Für die Gartenarchitektur zeichnete Max Karl Schwarz (1895–1963), einer der Pioniere des biologisch-dynamischen Landbaus und Mitbegründer der Siedlungsschule Worpswede. In Loheland wurde bereits ab 1926 biodynamisch angebaut; es war damit eine der ersten biodynamisch geführten Landwirtschaften Deutschlands. Bauten und Gestaltung der Fläche zeigen bis heute die einzigartige kulturelle und architekturgeschichtliche Bedeutung der Frauensiedlung, die ab 1919 als „Loheland Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk Gen.m.b.H“ gemeldet und bescheinigt war. Langgard und von Rohden ging es um ein Miteinander von Natur und Mensch, um ein „Gartenreich“, in dem Landarbeit, Kunst, Alltag und Gemeinschaft gelebt werden konnten. Ihre Bildungsstätte solle eine „Lebensschule“ sein, Gymnastik müsse eingebettet sein in einen reichen Erfahrungsraum, der den Frauen Möglichkeiten zur Entdeckung und Entwicklung ihrer individuellen Talente böte. Dann könne sich die erlangte Kompetenz, „je nach Neigung und Talent, auf künstlerischem, wissenschaftlichen oder pädagogischen Feldern niederschlagen“ (Mollenhauer-Klüber, Elisabeth, Entwicklung Raum geben. Bauelemente Lohelansds, in: LuE, S.51, Zitat aus einem Brief von Rohdens 1919). Langgaard und von Rohden schöpften zwar aus den Lehren Steiners und den Ideen der Lebensreform, aber ihr eigenes Körperbildungskonzept wurde selbst zu einem Impuls für beide Bewegungen.
Werkstätten und Kunsthandwerk
Die Siedlung Loheland ruhte ihrem Namen entsprechend auf drei Grundpfeilern: der Körperbildung, dem Landbau und den Werkstätten. Seit Jahren hatten Langgaard und von Rohden Werkstofferfahrung in die Ausbildung integriert. Das Zusammenspiel von Gymnastik, Gemeinschaftsleben und Handwerk zielte auf eine umfassende Selbsterfahrung der Ausbildungskandidatinnen, auf die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung. Im Verlauf der 1920er Jahre entstanden zahlreiche kunstgewerbliche Werkstätten, die von den Schülerinnen, oft unter der Anleitung von Handwerksmeistern, betrieben wurden. Der rasche Erfolg der Betriebe war vor allem Louise Langgaard zu verdanken, der ihre früheren Ausbildungen und Tätigkeiten als Zeichnerin, Malerin und Kunstgewerblerin zugutekamen. 1919 entstanden als erste Produktionsstätten die Handweberei und die Korbflechterei, 1920 folgte die Schreinerei, 1924 die Drechslerei, 1925 die Lederwerkstatt, 1927 die Schneiderei, 1931 die Töpferei. Erhalten sind Zeichnungen, Entwürfe, Anweisungen für die Keramik-Prototypen von Louise Langgaard sowohl für die Möbel der Schreinerei als auch für Prototypen der der Töpferei. Wie im Gartenbau waren auch manche Werkstätten Lehrbetriebe, die eine zweijährige Ausbildung mit berufsqualifizierenden Abschlüssen anboten. Die Werkstätten erfüllten mehrere Aufgaben: der Verkauf der Produkte leistete einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung der Siedlung, lehnten doch Langgaard und von Rohden weiterhin öffentliche Fördergelder ab. Die wichtigste Funktion der handwerklichen und künstlerischen Arbeit aber bestand in der gewollten Verbindung zur gymnastischen Bildung, ging es doch dem anthroposophisch-reformerischen Konzept um die ganzheitliche Entwicklung von Fähigkeiten und Handlungsfeldern für die Frauen. „In den Werkstätten konnten die Schülerinnen das in der Gymnastikschulung im eigenen Innenraum Erlebte sichtbar in Gestaltung bringen und ihm dabei als dinghaftes Gegenüber begegnen: in der Plastik der Gefäße, dem Rhythmischen der Körbe oder den Farbklängen der Gewebe“ (BP, S.17).
Mittlerweile mangelte es nicht nur an Raum für die Werkstätten, sondern auch an finanziellen Mitteln für weitere Bauten. Baumaterial war nach den Zerstörungen des ersten Weltkrieges Mangelware, die hohe Inflation tat ein Übriges. Wiederum zeigten sich Kreativität und Unternehmergeist der Gründerinnen, als bekannt wurde, dass die Reichsbahn ausrangierte Waggons zum Verkauf anbot. Vier Waggons wurden angeschafft und aufwendig nach Loheland transportiert. Ausgeräumt, mit Holz verkleidet, einem zusätzlichen Dach versehen und auf den Namen „Waggonia“ getauft, lieferten sie Platz für die expandierende Produktion. Im Mittelpunkt des Interesses stand, „handwerklich erstklassige Qualitätsware auf den Markt zu bringen“, und das war nur in angemessener Unterbringung machbar. Kriterien für Material und Design ließen sich aus den Leitideen der Frauensiedung herleiten: Natürlichkeit, Reduktion auf Funktionalität und Form, die Verwendung natürlicher Materialien wie Wolle, Seide, Leinen, Stroh, Bast, Holz fanden Verwendung in den Herstellungsprozessen. Wie in der Gymnastikausbildung galt auch für die Produkte der Grundsatz, sich von allem „Geschraubten und Unnatürlichen zu entkleiden.“
Hier drängt sich der Vergleich mit dem ebenfalls 1919 entstandenen Bauhaus und seinen Werkstätten auf, das wie Loheland lebensreformerische Ideen zu verwirklichen trachtete. Neben zahlreichen Parallelen zum Bauhaus – außer bei den Hausentwürfen glich sich das Design der Produkte - wies Loheland wesentliche Unterschiede auf: z. B. waren die „Meister“ des Bauhauses alles Männer – die Frauen wurden in die Textilabteilung „abgeschoben“ – während in Loheland die Frauen das Heft in der Hand behielten. Außerdem sollten die Produkte keinesfalls wie beim Bauhaus vorbereitend für eine industrielle Produktion sein, sondern ihre einzigartige loheländische Identität als Einzelstücke behalten.
Die Erzeugnisse der Loheländerinnen wurden über die Leipziger Messe (Grassi-Museum) und deren Düsseldorfer Vertretung an Einrichtungshäuser, Innenarchitekten etc. vertrieben. Eigene Geschäftshäuser wurden in Hamburg, Berlin und Wuppertal eröffnet, so dass die Loheland-Produkte den Kunden direkt zur Verfügung standen. Seit 1924/25 Mitglied im Deutschen Werkbund, konnte Loheland an großen Ausstellungen z.B. in Stuttgart und Paris teilnehmen.
Zur werbewirksamen Strategie Langgaards und von Rohdens gehörten die Fotos aus der Lichtbildwerkstatt Valerie Wizlsbergers (1890–1975). Nicht nur die Fotos der Loheländer Erzeugnisse imponierten, sondern auch die auf das Wesentliche reduzierte Darstellungsweise. Ihre Arbeiten stehen qualitativ gleichwertig neben den Werken der Fotografen Albert Renger-Patzsch (1897–1966) und Hans Finsler (1891-1972), beide Vertreter der neusachlichen Fotografie.
Zu höchster künstlerischer und ästhetischer Qualität gelangten auch die Fotogramme Bertha Günthers, die bis 1926 in Loheland wirkte. Ihre transparenten, ornamentalen Arbeiten, meist Blüten- und Blätterkompositionen, werden in der Kunstgeschichte mittlerweile den Fotogrammen von Laszlo Moholy-Nagy (1895–1946) und Man Ray (1880–1976) gleichgestellt.
Internationale Erfolge gelangen auch Hedwig von Rohdens Doggenzucht. Von Rohden errang erste Preise auf Ausstellungen; die Tiere wurden zu märchenhaften Preisen bis in die USA verkauft. Die Doggen waren so wertvoll, dass Überfahrt und Aufenthalt einer Begleitperson bis zur Eingewöhnung der Tiere im Preis enthalten war. Sogar der New Yorker Bürgermeister besaß eine Loheland-Dogge - bis heute ist der Name „Loheland-Dogge“ ein Markenzeichen. Auf der Hunde-Weltausstellung 1935 besiegte von Rohden mit ihren drei gelben Doggen sämtliche Zuchtgruppen aller Rassen und Länder und gewann den ersten Preis. Die Zucht lieferte einen wertvollen finanziellen Beitrag, in ihren Erinnerungen schreibt Imme Heiner: „Es (das Tier) brachte uns einen phantastischen Geldbetrag ein, mit dem wir unseren Stall erweitern und einen gebrauchten Lieferwagen – ja, wahrhaftig, ein Auto! – erwerben konnten“ (Heiner, Imme, ebd. in: 3G, S 125).
Einen wesentlichen Teil des Loheland-Lebens machte die rituelle Abfolge von Festen und Feiern des Jahreskreislaufs aus. Tanz-, Singabende, Geburtstagsfeste, Kostüm- und Maskenspiele stärkten das Gemeinschaftsgefühl und die musischen Kompetenzen der Schülerinnen. Loheland verfügte über ein eigenes Orchester, Einführung in die Grundlagen der Kompositionslehre gehörte schon seit 1914 ins Ausbildungsprogramm. Musikalische Begleitung war nicht nur bei Tänzen, sondern in allen gymnastischen Ausbildungsphasen unverzichtbares Element.
Ende 1932 hatte das Gesamtkonzept Lohelands seine Vollendung erreicht, die „Loheland Werkstätten GmbH“ und die Genossenschaft Loheland wurden verbunden unter dem Namen „Loheland Schule für Gymnastik, Landbau und Handwerk GmbH“. Die Gemeinnützigkeit wurde anerkannt, als Gesellschafterinnen fungierten ausschließlich Loheland-Mitarbeiterinnen. „Eine neue Generation Weib muss geschaffen werden“, hatten Langgaard und von Rohden am Beginn ihres Engagements ausgerufen. Dieses Ziel, eine „neue Frau“ – selbstbestimmt, gleichgestellt, frei und beweglich - auszubilden und sie zu befähigen, als Lehrerinnen das Erlernte weiterzugeben, hatten sie längst erreicht. Wurden im ersten Loheland-Prospekt 1920 in 63 deutschen Städten sowie in Wien und in Sao Paulo Gymnastiklehrerinnen aus der Loheland-Schule genannt, waren es 1928 bereits 273 Loheländerinnen, vertreten in 188 Orten – 14 im europäischen Ausland, dazu insgesamt vier in den USA, Brasilien und Indien.
1933–1945 Taktische Anpassung an den Nationalsozialismus und Kriegsjahre
Loheland hatte während der Weimarer Republik seine Blütezeit erreicht, als die Machtübernahme der Nazis 1933 tiefgreifende Veränderungen mit sich brachte. Laut Verfügung der Preußischen Geheimen Staatspolizei wurde „die im Gebiet des Deutschen Reiches bestehende Anthroposophische Gesellschaft“ aufgelöst. „Das anthroposophische Menschenbild, in dem Begriffe wie Individualität, Lebenslauf, Erfahrung, Schicksal eine wesentliche Rolle spielen, wurde von den nationalsozialistischen Machthabern nicht nur abgelehnt, sondern für gefährlich erklärt. Genau wie die anthroposophische Bewegung, welcher Internationalismus, Individualismus und Pazifismus vorgeworfen wurde“ (Wendt, S. 230). In Loheland wurden alle Personalakten vernichtet, was vor allem dem Schutz der jüdischen Schülerinnen dienen sollte. Ehemalige Loheländerinnen aus ganz Deutschland brachten ihre Kinder nach Loheland, um sie vor Bombenangriffen zu schützen. Loheland wurde zu einem Zufluchtsort für Menschen, die aus politischer Überzeugung, wegen ihrer Herkunft oder aufgrund von Behinderungen verfolgt wurden.
Um die Schließung zu verhindern, entschloss sich Louise Langgaard zu einer taktischen Anpassung an die Nazis. „Da beschlossen wir so etwas Ähnliches zu machen wie in die Haut der Schlange zu kriechen. Wir wollten auf keinen Fall, ...dass unsere Schülerinnen fremde Mädels als Führerinnen bekamen; so übernahmen wir selbst die Führung beim ‚Jungvolk‘, dem BDM (Bund Deutscher Mädchen) und der ‚Frauenschaft‘.“ (Heiner, Imme, ebd., in: 3G, S. 130). In Loheland wurden fortan junge Frauen des Reichsarbeitsdienstes ausgebildet. Die Loheländerin Lies Körbitz erinnert sich, dass die Frauen vom Reichsarbeitsdienst in kleinen Gruppen eine kurze Ausbildung von Louise Langgaard erhielten. „Diese Gruppe sei von Langgaard selbst mit großer Vorsicht betreut worden und habe bei der Lehrerinnen- und Schülerschaft einen besonderen Status gehabt…. Bücher seien vor ihnen verborgen worden und Gespräche seien unauffällig zu Ende gegangen, wenn sie dazu kamen.“ (3G, S. 213)
Langgaards Entscheidung führte zu heftigen Spannungen mit Hedwig von Rohden. Nachdem weitere Verordnungen der Nazis das Schulprogramm veränderten, verließ Hedwig von Rohden 1937 Loheland. In einer Korrespondenz mit Loheländerinnen schrieb Louise Langgaard von ihrem „tiefen Schmerz“ und bat gleichzeitig die Adressatinnen um Respekt vor der Bitte von Rohdens, Stillschweigen über die Gründe der Trennung zu wahren. Die beiden Gründerinnen sahen sich nie wieder, Hedwig von Rohden kehrte erst nach dem Tod Louise Langgaards nach Loheland zurück. Erhaltene Texte von Loheländerinnen aus dieser Zeit sind „bemerkenswerterweise von jeglichen rassistischen, antihumanen Äußerungen frei“ (Mollenhauer-Klüber/ Siebenbrodt, Michael, Lohelands Entwicklung und seine Vernetzung in der Moderne, in: L100, S. 17).
Im Juni 1941 war die Existenz Lohelands akut bedroht, als die Gestapo die sofortige Schließung verfügte. Es war Louise Langgaards Geistesgegenwart und ihren Verbindungen zum Kultusministerium als höchster Verwaltungsinstanz zu verdanken, dass die Auflösung Lohelands abgewendet werden konnte. Ab 1943 kam die Gymnastikausbildung nach und nach zum Erliegen, Louise Langgaard gründete eine „Kinderschule“ für die in Loheland lebenden geretteten Kinder.
Fortan, von 1937 bis 1971, leitete Louise Langgaard die Frauensiedlung allein.
1945 – 1974 Nachkriegsjahre und Neuorientierung
Nach dem Krieg wurde 1948 die Kinderschule offiziell genehmigt, ebenfalls durfte Louise Langgaard die Gymnastikausbildung wiederaufnehmen. Ab 1951 fanden wieder Gymnastikvorführungen statt – mit großem Erfolg auf nationaler und internationaler Bühne. Allein 1951/52 leitete Louise Langgaard zwei Tourneen in 30 deutsche Städte, 1952 und 1953 nahm Loheland an internationalen Kongressen in Tampere, Finnland, und Paris teil. Es folgten jährliche Auftritte der Schülerinnen unter Louise Langgards Leitung.
1958 eröffnete als neues Bauwerk das „Wiesenhaus“ als Müttergenesungswerk; heute wird das Haus als Tagungshotel genutzt.
Louise Langgaard hatte die Neuorientierung Lohelands nach dem zweiten Weltkrieg geschafft.
1958 wurde ihr die Goethe-Plakette des Landes Hessen verliehen, 1963 wurde sie für ihre Verdienste als Gründerin und Leiterin der Loheland-Schule mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
„Die Loheländische Körperschulung war nicht nur stilbildend, sondern wegen ihrer Universalität eminent politisch. Die Frauen unterwarfen sich keiner verschriftlichten Ideologie, sondern ihr Leben sollte als Beispiel dienen, das sich immer neu zu beweisen hatte. Die angestrebten Ideale waren… die souveräne Beherrschung des eigenen (weiblichen) Körpers, die Verrichtung der Arbeit zum eigenen Nutzen, die Entfaltung von Kreativität zur Erzeugung einer nicht korrumpierten Bilderwelt (auch als Thema der freien Meinungsäußerung) und überhaupt das als intensiv und menschlich empfundene alltägliche Leben. Damit standen die Ideale der Loheländerinnen im Widerspruch zur Lebensrealität der Industriegesellschaft ihrer Zeit.“ (Sören Wolf, Zusammenfassung und Abschlussdiskussion, in: LuE, S.137f).
1971 – 1987 Gründung der Loheland-Stiftung und letzte Jahre Louise Langgaards
1971 richtete Louise Langggard mit dem materiellen und immateriellen Vermögen Lohelands die „Loheland-Stiftung“ ein und übergab der Stiftung die Leitung von Schule und Siedlung. Stifter waren der Lohelandbund e.V. und die Loheland-Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk GmbH als Betreiber der Schule. Ganzheitliche Bildung, orientiert an der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners, stehen im Stiftungstext weiterhin an erster Stelle des Leitbildes: „Wir bilden auf Grundlage der Anthroposophie. Wir arbeiten im Sinne der Waldorfpädagogik, die wir dynamisch und zukunftsorientiert weiterentwickeln“, heißt es im § 1 des Leitbildes.
1974 verstarb Louise Langgard in Loheland und wurde auf dem dortigen Friedhof beigesetzt. In ihrem Nachlass finden sich Gemälde, Handzeichnungen, Grafiken, Naturstudien mit Pflanzen, Landschaften und Porträts und Aktzeichnungen. In einer im Jahr 2010 geöffneten „vergessenen“ Truhe fanden sich allein 800 Werke Langgaards – ein posthumer Beweis für die umfangreiche akademische Ausbildung Louise Langgaards und für ihre großartige Kreativität und Kompetenz.
Hedwig von Rohden kehrte 1982 nach Loheland zurück, verstarb 1987 hochbetagt als 97Jährige und wurde auf dem Friedhof Lohelands beigesetzt.
Louise Langgaards Vermächtnis - Loheland heute
2019 feierte die anthroposophische „Loheland-Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk“ ihr 100jähriges Bestehen. Heute umfasst Loheland einen Waldorfkindergarten, die als UNESCO-Projekt anerkannte Rudolf-Steiner-Schule, eine Schreinerei und die Demeter-Landwirtschaft. 17 der insgesamt 40 Gebäude umfassenden Siedlung sind denkmalgeschützt und befinden sich teilweise in Restauration.
Louise Langggard und Hedwig von Rohden schufen ein einzigartiges Projekt der Emanzipation von Frauen für Frauen, einen „Amazonenstaat in der Rhön“, wie der Verleger Eugen Diederichs (1867–1930) einmal gesagt hatte. Loheland ist heute die wohl älteste anthroposophische Reformsiedlung Deutschlands.
Das Wissen um dieses bemerkenswerte Projekt der Moderne schien lange vergessen; Publikationen und Ausstellungen gibt es erst seit einigen Jahren, Arbeiten der Werkstätten wurden zum ersten Mal 2019 in Ausstellungen vorgestellt – anders als zum Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin. Die Erforschung des Archivs von Loheland hat erst vor wenigen Jahren begonnen und ist der Pionierarbeit der Archivarinnen zu verdanken.
„Es ist alles aus nichts anderem entstanden als aus der Liebe zum Menschen und der eifrigen Bemühung, sich dem Geheimnis der Menschengestalt, ... des Menschen Freiheitsbewusstsein und Geistesverbundenheit zu nähern“ – Louise Langgaard (zitiert nach Hertling, Elisabeth ebd., in: 3G, S. 200).
Der Geist der genialen Gründerinnen lebt bis heute in Loheland fort.
(Text von 2024)
Verfasserin: Christa Matenaar
Zitate
Der M e n s c h bewegt sich und nicht der Körper allein.
Bewegung ist ein Element des Lebens. Pflegen wir Bewegung, so pflegen wir den Menschen in einem umfassenden Sinn.
Also, wir müssen unseren konkreten Weg vollenden, indem wir abstrakte Gedankenformen wieder in konkrete Bewegungserlebnisse umwandeln lernen.
Wenn wir uns nun gewöhnen, nicht zuerst auf den Stoff – also auf den äußeren Übungsablauf zu achten, sondern auf das, was mit u n s geschieht, wenn wir beginnen, einer Bewegung innerlich zu folgen, so müssen wir in einer ganz anderen Weise tätig sein, als wir es bisher gewohnt waren.
...nicht die Form einer Übung ist wichtig – sondern das Entstehen einer Bewegung. Das Werden und wieder Vergehen, das Formbilden und das Formentlassen, das natürliche Verwandeln des Vorherigen.
Bewegungsentfaltung betrifft eine andere Sphäre als jene der körperlichen Leistungssteigerung allgemeiner Art, egal welchen Namens.
Bei gymnastischen Übungen ist Bewegung das Erstliche und nicht die Form – nicht der Nutzen – nicht die Formel – nicht das Sichtbare -, sondern das L e b e n, aus dem die Bewegung entspringt. Was wir dennoch wahrnehmen, ist das Ergebnis einer straffen Geschlossenheit in Anschauung und Übungsweise.
Liebe ist eine innerlebendig lichthafte Erfahrung. Die Ausübung von Bewegung ohne Liebe - ohne Licht – ist tragisch – ein dunkles sinnlos anmutendes Geschlenker. Das Erscheinenlassen von Bewegung sollte ein vollmenschlich ichhaftes Erlebnis sein.
(alle Zitate aus: Bewegungsentfaltung: Gesammelte Aufsätze von L. Langgaard, Loheland-Rhön)
Links
https://www.loheland.de/willkommen
Eine neue Generation Weib – Die mutigen Frauen aus Loheland:
https://www.youtube.com/watch?v=zwGMtRYU9yM
Loheland/Rhön – Spaziergang durch Loheland: https://www.youtube.com/watch?v=jqi23RpcFb0&t=9s
https://www.spiegel.de/geschichte/frauensiedlung-loheland-amazonenstaat-in-der-rhoen-a-1274191.html - mit Fotostrecke
The Loheland Movement Revolution 1925 https://www.youtube.com/watch?v=N2meqSAMFEg
Eine Reise in ein anderes Land? https://www.youtube.com/watch?v=-srbrbCi6ag
Video zu den Fotogrammen von Bertha Günther sowie zur Lichtbildwerkstatt von Valerie Wizlsberger:
https://www.youtube.com/watch?v=a9uRED3bzMc
Literatur & Quellen
Die Frauensiedlung Loheland in der Rhön und das Erbe der europäischen Lebensreform – Beiträge zur Fachtagung a, 29./30. Mai 2015 und zum „Waggonia“-workshop am 8. Oktober 2015, Arbeitsheft des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen, Band 28, Wiesbaden 2016 (LuE)
Fischer, Iris und Köhn, Eckhardt (Hrsg.), Lichtbildwerkstatt Loheland – Fotografien 1919 – 1939, Katalog zur Ausstellung, Vonderau Museum Fulda 2004(LLO)
Langgaard, Louise, Bewegungsentfaltung - Gesammelte Aufsätze, Loheland (LL)
Loheland-Stiftung (Hrsg.), Drei Frauen – Drei Geschichten, Schriftenreihe der Loheland-Stiftung, 2012 (3G)
Mollenhauer-Klüber, Elisabeth und Siebenbrodt, Michael, Loheland 100 – Gelebte Visionen für eine neue Welt, Katalog zur Ausstellung, Vonderau Museum Fulda 2020 (L100)
Mollenhauer-Klüber, Elisabeth und Siebenbrodt, Michael, Bauhaus–Parallelen, Weimar/Künzell 2012 (BP)
Mollenhauer-Klüber, Elisabeth und Heil, Elisabeth (Hrsg.), Suche nach dem neuen Künstlerfrauentypus – Louise Langgaards Frühwerk 1899-1911, Wegstationen zur Gründung Lohelands; Katalog zur Ausstellung “Louise Langgaard - Loheland: Leben ist Bewegung” in der Kunststation Kleinsassen Loheland-Stiftung 2012
Schipper, Dörte, Das Dorf der Frauen – In Loheland suchten sie die Freiheit und fanden ihr Glück. München 2022
Voegele, Margarethe, Von der Bewegung zur Form – Das bewegungsdynamisch-anatomische Zeichnen, Gymnastikseminar Loheland, Künzell 2021 (Voegele)
Wendt, Gunna, Ita und Marie – Ita Wegmann und Marie Steiner, Schicksalsgefährtinnen und Konkurrentinnen um Rudolf Steiner (Wendt)
Herzlichster Dank gebührt der Loheland-Archivarin Frau Anett Matl für die großzügige Bereitstellung von Dokumenten aus der Loheland-Geschichte und die angenehmen, hilfreichen und informativen Gespräche. Nähere Informationen zum Archiv der Loheland-Stiftung:
https://www.loheland.de/willkommen/archiv
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