(Nettie Maria Stevens, Ph.D.)
geboren am 7. Juli 1861 in Cavendish, Vermont (USA)
gestorben am 4. Mai 1912 in Baltimore, Maryland (USA)
US-amerikanische Molekularbiologin und Genetikerin
110. Todestag am 4. Mai 2022
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Nettie Stevens kommt nicht vor. Ob in biographischen Nachschlagewerken oder Porträtsammlungen – selbst wenn sie sich auf Frauen oder speziell (Natur-)Wissenschaftlerinnen beschränken – in der deutschsprachigen Literatur findet sich kein Hinweis auf die Genetikerin Nettie Stevens und ihre Anfang des 20. Jahrhunderts bahnbrechenden Forschungen zur Vererbung des Geschlechts. Dass sie überhaupt aus dem Dunkel des Vergessens wieder ans Tageslicht befördert wurde, ist einem Google Doodle anlässlich ihres 155. Geburtstages zu verdanken. Der Google Doodle ist das Logo der Suchmaschine Google, das je nach Tagesereignis thematisch und gestalterisch verändert wird:
Dabei war Nettie Stevens mit ihren Erkenntnissen auf der Höhe der damaligen Forschungen. Nein, sie ging ihr sogar voraus, und das war letztlich die Crux: Zu ihren Lebzeiten waren ihre Forschungsergebnisse noch umstritten und wurden in ihrer Bedeutung nicht erkannt. Die Lorbeeren heimste knapp drei Jahrzehnte später ein anderer ein: Thomas Hunt Morgan erhielt den Nobelpreis für Medizin für seine Forschungen an Chromosomen, auf die er ohne die grundlegenden Arbeiten Stevens‘ wohl kaum gekommen wäre.
Nettie Maria Stevens ist das dritte von vier Kindern einer alteingesessenen Familie aus New England. Die beiden älteren Brüder Netties sterben schon im Kindesalter. Die Mutter Julia (Adams) Stevens stirbt 1863, sechs Monate nach der Geburt der jüngsten Tochter Emma; Nettie ist gerade zwei Jahre alt. Der Vater Ephraim Stevens, ein Zimmermann, heiratet 1865 erneut und zieht mit seiner Familie nach Westport, Massachusetts. Mit seinem Handwerksbetrieb ist er finanziell so erfolgreich, dass er seinen beiden Töchtern unbedingt eine gute Schulbildung ermöglichen will.
Nach der Public School geht Nettie auf die Westport Academy, die sie 1880 mit Erfolg beendet. Nach ihrem Abschluss arbeitet Nettie Stevens zunächst als Lehrerin für Englisch, Latein, Mathematik und Biologie an der High School von Lebanon, New Hampshire. Doch sie ist neugierig, will Neues lernen und nicht nur Altbekanntes unterrichten. 1881-83 besucht sie die pädagogische Hochschule Westfield Normal School (heute: Westfield State College), wo sie die Fächer Physik, Chemie, Astronomie, Geographie, Geologie, Mineralogie, Botanik, Zoologie und Physiologie belegt und als exzellente Schülerin gilt. Nebenbei nimmt sie an den studentischen Debatten teil und widmet sich dem Klavierspiel. Ihre Kurse schließt sie in Rekordzeit mit der höchsten Punktzahl unter ihren 30 KommilitonInnen ab.
Von 1883 bis 1896 arbeitet sie in Massachusetts als Lehrerin an den städtischen Schulen in Westford, Chelmsford und Billerica sowie in Chelmsford auch als Bibliothekarin. Erst 1896 hat sie so viel Geld zusammengespart, dass sie diese Tätigkeiten aufgeben und sich an der Stanford University in Kalifornien für Biologie einschreiben kann. Ihr Schwerpunkt ist die Zytologie (Zellenlehre), eine noch junge Wissenschaft, die mikroskopisch das Erscheinungsbild und die Struktur von Zellen untersucht. Während ihres Studiums verbringt sie vier Sommer am Hopkins Seaside Laboratory in Pacific Grove. Ihr Studium in Stanford schließt sie 1899 mit dem Bachelor, ein Jahr später mit dem Master ab. Daraufhin kehrt sie in den Osten der USA zurück.
Als nächste Etappe strebt Nettie Stevens den Doktorinnentitel an und entscheidet sich für die Privathochschule Bryn Mawr in Pennsylvania, der sie für den Rest ihres Lebens verbunden bleiben wird. Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass sie als ambitionierte Naturwissenschaftlerin sich ausgerechnet für ein kleines Frauencollege entscheidet, doch hier forschen und lehren zwei der renommiertesten amerikanischen Zellbiologen: Edmund Beecher Wilson und Thomas Hunt Morgan, die zu den Herausgebern des Journal of Experimental Zoology gehören und einflussreiche Mitglieder des wissenschaftlichen Establishments sind. Somit bleibt Nettie Stevens stets in Tuchfühlung mit den neuesten Erkenntnissen in den sich rasch entwickelnden Forschungsrichtungen der Genetik, Zytologie und Embryologie.
Nettie Stevens‘ herausragende Leistungen bringen ihr ein Stipendium ein, das es ihr ermöglicht, ihr zweites Studienjahr (1901/02) in Übersee zu verbringen. Zunächst arbeitet sie an der Zoologischen Station Neapel, die zu den ältesten biowissenschaftlichen Forschungseinrichtungen der Welt zählt; anschließend forscht sie im Labor von Theodor Boveri am Zoologischen Institut der Universität Würzburg. Theodor Boveri ist zu jener Zeit einer der bedeutendsten Zoologen, der mit Kreuzungsexperimenten die Mendelschen Gesetze bestätigt und die Chromosomentheorie der Vererbung aufstellt.
Ab 1856 hatte der Augustinermönch Gregor Mendel in seinem Klostergarten systematische Kreuzungsexperimente an Erbsen durchgeführt und schließlich Regelhaftigkeiten beim Erbgang bestimmter äußerer Merkmale festgestellt und dabei konstante Zahlenverhältnisse dieser Merkmale erkannt. Als er 1865 seine Forschungsergebnisse veröffentlichte, wurden sie allerdings in ihrer Bedeutung nicht erkannt und bald vergessen. Erst um 1900 wurden die Mendelschen Regeln in den sich rasch entwickelnden Naturwissenschaften wiederentdeckt. Theodor Boveri knüpfte hier an und stellt nach Untersuchungen an Seeigeln fest, dass zur normalen Entwicklung eines Tieres mindestens ein Exemplar von jedem Chromosom vorhanden sein muss. Nettie Stevens begeistert sich für das junge Forschungsgebiet der Chromosomen, das sie bis zum Lebensende nicht mehr loslässt. 1908-09 wird sie noch einmal nach Würzburg zurückkehren.
1903 schließt Nettie Stevens ihre zoologische Dissertation „Further Studies on the Ciliate Infusoria, Linophora and Boveria“ in Bryn Mawr ab und erhält damit ihren Doktorinnentitel. Bis zu ihrer Promotion hat die vielversprechende Nachwuchswissenschaftlerin bereits neun Fachbeiträge veröffentlicht und damit Preise gewonnen. Nun werden ihr von der Carnegie Institution in Washington bis 1905 Fördergelder bewilligt, so dass sie ihre Forschungen fortsetzen kann. Sie hatte das Stipendium mit der Absicht beantragt, den Zusammenhang zwischen den Mendelschen Regeln und der Vererbung erforschen zu wollen. Dies sind die entscheidenden Jahre, in denen sie die Geschlechtschromosomen entdeckt.
Zu jener Zeit ist das Wissen über Genetik noch sehr bescheiden. Chromosomen werden zwar schon seit Längerem mikroskopisch beobachtet; es ist auch bekannt, dass jedes Lebewesen eine spezifische Anzahl von Chromosomen aufweist, wobei ein neues Individuum die durch Zellteilung entstandene eine Hälfte der mütterlichen und eine Hälfte der väterlichen Chromosomen besitzt – aber die eigentliche Funktion und Aufgabe von Chromosomen ist noch weitgehend unbekannt.
Einen ersten Zusammenhang zwischen Chromosomen und Geschlechtsbestimmung stellt der Zoologe Clarence Erwin McClung her, der davon ausgeht, dass das männliche Geschlecht durch ein zusätzliches Chromosom bestimmt wird. Der Zusammenhang von Chromosomen und der Vererbung des Geschlechts ist jedoch höchst umstritten; auch Stevens‘ Kollegen Wilson und Morgan bestreiten dies. Sie sind wie die meisten anderen Biologen der Ansicht, dass externe Faktoren das Geschlecht bestimmen, wie z.B. die Temperatur des befruchteten Eies oder seine Versorgung mit Nährstoffen, Stress bei der Befruchtung oder während der Tragezeit/Schwangerschaft – zumindest jedenfalls der „Einfluss“ der Mutter.
Bis 1905 erforscht Nettie Stevens die Geschlechtsbestimmung beim Mehlwurm Tenebrio molitor, ein ihrerzeit gängiges Versuchstier, und stellt fest, dass der Chromosomensatz im Zellkern eines Eies stets zehn große Chromosomen umfasst und der Chromosomensatz im Zellkern einer Spermienzelle immer 9 große und ein kleines Chromosom. Der Chromosomensatz eines „fertigen“ Individuums hingegen umfasst immer 20 große Chromosomen bei einem weiblichen sowie 19 große und ein kleines Chromosom bei einem männlichen Tier.
Zur Bestätigung dieser Beobachtung untersucht sie nun verschiedene Insektenarten und führt damit en passant die Fruchtfliege Drosophila melanogaster als „Paradetier“ in die genetische Forschung ein. Drosophila eignet sich nicht nur wegen ihrer raschen Generationenfolge als Versuchsobjekt, sondern ihre Chromosomen sind besonders gut mit dem Lichtmikroskop erkennbar. Werden diese eingefärbt, lassen sich die Chromosomen unmittelbar bei der Zellteilung beobachten. Noch heute ist Drosophila in der Genetik das Versuchstier erster Wahl, aber dass ihre „Entdeckung“ auf Nettie Stevens zurückgeht, ist kaum bekannt, sondern wird meist Thomas Hunt Morgan zugeschrieben, der erst durch Stevens überhaupt auf dieses Tier aufmerksam wurde.
Bei jedem ihrer Versuche erzielt Nettie Stevens das gleiche Ergebnis: weibliche Tiere weisen zwei gleich große Geschlechtschromosomen auf – heute als X-Chromosomen bezeichnet – und männliche ein großes und ein kleines – also ein X- und ein Y-Chromosom – wobei auf letzterem die typisch männlichen Merkmale festgelegt sind. Demzufolge sind nur männliche Lebewesen für männliche Nachkommen „verantwortlich“. Hiermit weist Stevens zugleich erstmals nach, dass sich körperliche Unterschiede – hier: das Geschlecht – über Chromosomen (von einzelnen Genen ist noch nichts bekannt) weitervererben und eine Eigenschaft direkt einem Chromosom zugeordnet werden kann.
Edmund B. Wilson, der mittlerweile an der gleichen Fragestellung forscht, befindet sich zur selben Zeit auf dem Holzweg, denn er beschränkt sich in seinen Untersuchungen auf Spermien. Auch ist er wie McClung der Auffassung, weibliche Lebewesen hätten ein Chromosom mehr als männliche. Erst als Nettie Stevens ihre Untersuchungsergebnisse als Fachaufsatz bei ihm einreicht, erkennt er seinen Fehler und schwenkt um. Die Veröffentlichung von Stevens‘ Ergebnissen wird hinausgezögert, so dass Wilson ihr mit seiner Veröffentlichung um drei Monate zuvorkommt. In der biologischen Literatur werden zumeist er und Thomas Hunt Morgan, der auf den Ergebnissen Stevens‘ aufbaut, nach ihrem Vorbild anfängt, ebenfalls an Drosophila zu forschen und später die Aneinanderreihung der Gene auf den Chromosomen entdeckt, als Pioniere der Chromosomentheorie der Vererbung gefeiert.
Nettie Stevens weitet ihre Forschungen aus und verfasst zwischen 1901 und 1912 insgesamt 38 Fachpublikationen zur Zytologie und experimentellen Physiologie, aber eine etablierte Wissenschaftlerin ist sie deswegen noch lange nicht. Unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen in Bryn Mawr, spielt sie 1910 mit dem Gedanken, einen Job in Cold Spring Harbor anzunehmen. Da sie sich stets selbst durchbringen muss und keine Unterstützung von außen erhält, ist sie ständig mit finanziellen Problemen konfrontiert. Ansonsten ist über ihr Privatleben nichts bekannt, außer dass sie unverheiratet bleibt.
Schließlich kann man(n) sich in Bryn Mawr dazu durchringen, für sie eine Forscherinnenstelle ohne Lehrverpflichtungen einzurichten, doch das Angebot kommt zu spät: im Mai 1912 stirbt Nettie Stevens an Brustkrebs, sie wird nicht einmal 51 Jahre alt. Ihre Erkenntnisse kommen für den Nobelpreis zu früh. Wie viel hätte sie noch über die Vererbung herausfinden können! Thomas Hunt Morgan würdigt sie in einem Nachruf als fleißige Arbeiterin, die den „Spezialisten“ allerdings lediglich zuarbeitete. Dabei stützte er sich auf ihre Ergebnisse, baute auf diesen auf und erhielt schließlich hierfür 1933 den Nobelpreis für Medizin.
Zumindest heutige ForscherInnen stufen Nettie Stevens‘ Beitrag deutlich höher ein.
Und ungezählte Frauen auf der Welt können sich entlastet fühlen, wenn ihnen vorgeworfen wird, nicht den gewünschten „Stammhalter“ geboren zu haben.
Verfasserin: Christine Schmidt
Links
http://www.dnaftb.org/9/bio.html
http://www.sueddeutsche.de/wissen/google-doodle-nettie-stevens-entdeckerin-von-x-und-y-1.3067646
Literatur & Quellen
Brush, Stephen G.: Nettie Stevens and the Discovery of Sex Determination by Chromosomes. In: Kohlstedt, Sally Gregory (Hg.): History of Women in the Sciences. Readings from ISIS. Chicago/London 1999, S. 336–346 (The University of Chicago Press)
Durand-Vallot, Angeline: Nettie Stevens et la découverte de la détermination chromosomique du sexe. In: Gargam, Adeline (Hg.): Femmes de sciences de l’Antiquité au XIXe siècle. Réalités et représentations. Dijon 2014, S. 263–274 (Editions Universitaires de Dijon, Collection „Histoire et philosophie des sciences“)
Hausmann, Rudolf: …und wollten versuchen, das Leben zu verstehen. Betrachtungen zur Geschichte der Molekularbiologie. Darmstadt 1995 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
Ogilvie, Marilyn Bailey: Nettie Maria Stevens (1861 – 1912). In: Grinstein, Louise S. et al. (Hg.): Women in the Biological Sciences. A Bibliographic Sourcebook. Westport, CT/London 1997, S. 517–523 (Greenwood Press) mit ausführlicher Bibliographie
Reynolds, Moira Davison (Hg.): Nettie Stevens. Researcher in Cytology. In: American Women Scientists: 23 Inspiring Biographies, 1900 –2000. Jefferson, NC 1999, S. 9–12 (McFarland & Co.)
Stevens, Nettie M.: Studies in Spermatogenesis. With especial reference to the “Accessory Chromosome”. Washington, DC 1905 (Carnegie Institute)
Stevens, Nettie M.: Studies in Spermatogenesis. A comparative study of the heterochromosomes in certain species of Coleoptera, Hemiptera and Lepidoptera, with especial reference to sex determination. Washington, DC 1906 (Carnegie Institute)
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