Historisches Museum Bielefeld
(Johanne Sophie Charlotte Crüwell / Cruvelli, verh. Vicomtesse Vigier)
geboren am 12. März 1826 in Bielefeld
gestorben am 6. November 1907 in Monte Carlo
deutsch-französische Opernsängerin
115. Todestag am 6. November 2022
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Mit 28 Jahren stand Sophie Crüwell im Zenit ihrer kometenhaften kurzen Karriere: Sie galt als eine der populärsten Sopranistinnen Europas, als Lieblingssängerin von Kaiser Napoleon III. und als Muse von Giuseppe Verdi. Entsprechend gewaltige Wellen schlug der Theaterskandal, als sie am 9. Oktober 1854 nicht zu ihrem Auftritt als Valentine in Giacomo Meyerbeers „Die Hugenotten“ in der Grand Opéra erschienen war. Die Vorstellung musste abgesagt werden, und sie blieb scheinbar spurlos verschwunden. Inzwischen ist bekannt, dass es sich damals um einen frühen Fall von „#Me too“ handelte, gegen den sich die Opernsängerin selbstbewusst, unbekümmert und schließlich sehr erfolgreich wehrte. In Zeiten, in denen es allgemein üblich und meist stillschweigend akzeptiert war, dass sich einflussreiche Männer gegenüber vermeintlich leichtlebigen Künstlerinnen alles erlaubten, was ihnen in den Sinn kam, erschütterte diese Verweigerung die auf Sensationen erpichten Gemüter.
Bis vor einiger Zeit blieb der wahre Grund der überstürzten Flucht der „Cruvelli“, wie sie als Sängerin genannt wurde, im imperial-autokratischen Frankreich Gerüchten überlassen. Meist wurde vermutet, sie sei pflichtvergessen einem amourösen Abenteuer gefolgt. Was wohl wirklich geschah, schildert präzise erst Hiltrud Böcker-Lönnendonker in ihrer 2020 erschienenen ersten umfassenden, akribisch recherchierten und lesenswerten Biografie der „Königin der Pariser Oper“: Offenbar hatte Achille Fould, Napoléons Staatsminister und Opern-Administrator, die Sängerin in sein Amtszimmer gebeten und war zudringlich geworden. Ihr Widerstand stachelte ihn weiter an, bis Sophie Crüwell ihn so heftig ohrfeigte, dass angeblich sein Gebiss ins Wackeln kam.
Die Folgen dieses Übergriffs ließen an Dramatik nichts zu wünschen übrig. Während sich das Opfer im heimischen Westfalen von seinen Geschwistern trösten ließ, pfändete der beleidigte Staatsminister ihr Eigentum und ihr Bankkonto und drohte eine Strafe in Höhe einer Jahresgage an. Guiseppe Verdi, der gerade in Paris die Uraufführung seiner für die Stimme der Cruvelli in der Rolle der Widerstandskämpferin Hélène komponierte Oper „Les vêpres siciliennes“ (Die sizilianische Vesper) vorbereitete, brach die Proben ab. Der Direktor der (stark verschuldeten) Opéra wurde entlassen. Die Schlagzeilen und Spekulationen der Presse stellten den gerade tobenden Krimkrieg in den Schatten. In London wurde gar eine eilig verfasste Farce namens „Where’s Cruvelli?“ aufgeführt. Die enttäuschten Fans planten, sich bei nächster Gelegenheit an der vermeintlich Ungetreuen zu rächen.
Aber „die Cruvelli“ triumphierte über alle Gegner. Mithilfe von verfänglichen Briefen ihres übergriffigen Vorgesetzten wie auch der Fürsprache von Achille Foulds Ehefrau und deren Freundin, der sittenstrengen Kaiserin Eugénie, brachte sie den Staatsminister dazu, alle Strafen zurückzuziehen. Sechs Wochen nach ihrem Verschwinden feierte sie als Valentine nach einigen Irritationen den größten Erfolg ihrer Karriere und sorgte fortan für ausverkaufte Vorstellungen.
Sophie Crüwell stammte aus Bielefeld. Als sechstes Kind und jüngste Tochter eines Tabakfabrikanten wurde sie 1826 in eine alteingesessene großbürgerliche, sehr musikalische Familie geboren, an die noch das spätgotische Crüwell-Haus im Zentrum der Altstadt erinnert. Sie besuchte die erste Mädchenschule der Stadt. Schon früh fiel das Gesangstalent von Sophie und ihrer älteren Schwester Marie auf. Ihre früh verwitwete Mutter war so überzeugt von ihren Aussichten, dass sie Anfang 1844 mit ihnen per Postkutsche nach Paris fuhr, um sie zu Opernsängerinnen ausbilden zu lassen.
Nach zwei kostspieligen Lehrjahren zeigte sich ihr Lehrer so begeistert von den beiden, dass er die Mädchen weiter nach Mailand schickte, damit sie ihr Studium dort fortsetzten. Offensichtlich mit Erfolg: Im April 1847 trat „Sofia Cruvelli“ in Venedig ihr erstes Opernengagement an. Am heutigen Teatro Goldoni debütierte sie als Räuberbraut Elvira in Verdis „Ernani“. Verdis Sopranpartien erwiesen sich in den folgenden neun Jahren ihrer Karriere als besonders geeignet, ihre stimmlichen und dramatischen Fähigkeiten zur Geltung zu bringen.
Sophie Crüwell war 21 Jahre alt und hatte es auf Anhieb geschafft, als Opernsängerin international gefragt zu sein. Folgt man den von Hiltrud Böcker-Lönnendonker zahlreich aus der zeitgenössischen Presse dokumentierten Lobeshymnen über ihre Auftritte, wird neben den Gründen für ihre herausragenden Erfolge auch deutlich, wie europäisch ihre Karriere und deren Rezeption schon damals waren. Enorm gefragt von den bedeutendsten Opernhäusern ihrer Zeit wurde „die Cruvelli“ offenbar aufgrund der seltenen Verbindung ihrer schönen, kräftigen und ausdrucksstarken Stimme mit ihren mitreißenden schauspielerischen Gaben, ihrer außergewöhnlichen jugendlichen Schönheit - und ihren vielbewunderten Kostümen. Sie sang viel zu oft, bis zur Erschöpfung und arbeitete kontinuierlich hart an ihrer Vervollkommnung – was die Kritiken wohlwollend vermerkten. In ihrer Person, so jubelte die „Musical World“ 1851, sei „Stimme, Kraft, Energie, Impulsivität, Hingabe, Intensität und Gefühl“ vereint. Manchmal stellte auch das Lob ihrer Schönheit die Würdigung ihrer Stimme in den Schatten …
Trotz der noch sehr beschwerlichen Verkehrsmittel ihrer Zeit und der mangelnden Kommunikationstechnik nahm sie Angebote aus Italien und Frankreich wahr, aber auch aus England und Deutschland. Die Kritiken über ihre Auftritte erschienen öfters auch im jeweiligen Ausland - sogar in den USA - und wurden teilweise übersetzt nachgedruckt.
Auf Venedig folgte eine Tour durch Oberitalien, dann begeisterte sie für eine Saison die Londoner im international renommierten „Her Majesty’s Theatre“ – unter anderem als Gräfin in Mozarts „Figaros Hochzeit“ und als böse Babylonierin Abigaille in Verdis „Nabucco“. Die Berliner „Staatsoper Unter den Linden“ stellte sie als „Norma“ vor. Nach Triest, Frankfurt und Darmstadt eroberte sie auch den Gipfel der italienischen Opernkunst, die Mailänder Scala. „Mit gereiften Kräften“ kehrte sie nach Paris zurück, ins Théâtre Italien. Zur ersten Weltausstellung 1851 triumphierte sie in London als Leonore in Beethovens „Fidelio“, bewundert auch von Queen Victoria. Paris und London blieben auch weiterhin im Wechsel die Schauplätze ihrer rauschenden Erfolge.
Ende 1852, als die Ära von Kaiser Napoléon III. begann und er Paris als „Kulturhauptstadt der westlichen Welt“ etablieren wollte, war Sophie Crüwell zunächst wieder im Théâtre Italien dabei, als Desdemona in Gioachino Rossinis „Otello“ und als Donna Anna in Mozarts „Don Giovanni“. In der folgenden Saison rief die nun kaiserliche Grand Opéra, der künstlerische wie gesellschaftliche Mittelpunkt des europäischen Operngeschehens, nach der gefeierten Sängerin. Sie handelte die höchste jemals an diesem Hause gezahlte Gage aus – viermal mehr als der Operndirektor verdiente. Das Zweite Kaiserreich feierte die „große“ französische Oper und ihren aus Brandenburg stammenden Meisters Giacomo Meyerbeer – und bald auch „die Cruvelli“ in seinen „Huguenots“.
Zwischendurch nutzte die Sängerin ihren Urlaub, um in London, nun an der Covent Garden Oper, als Desdemona und als Leonore aufzutreten und auf Tournee durch die britische Provinz zu ziehen. Als sie Ende September 1854 nach Paris zurückkehrte, begannen bereits die Übergriffigkeiten des allmächtigen Ministers Achille Fould – mit den bekannten Folgen. Ihre Rückkehr geriet so triumphal, dass am Ende des Jahres die „Musical World“ jubelte, sie dürfe durchaus à la Louis XIV sagen „L‘opéra, c’est moi“.
Ihr letzter öffentlicher Erfolg, zugleich ihre erste und einzige bedeutende Uraufführung, war die Hélène in Verdis auf Französisch gesungener Oper „Vêpres siciliennes“ am 13. Juni 1855 zur ersten Pariser Weltausstellung. Die 50 folgenden Vorstellungen brachten mehr Geld in die Opernkasse als jede andere zuvor. Auf diesem Höhepunkt ihrer Laufbahn gab Sophie Crüwell ihren Beruf der Liebe wegen auf. Am 16. Dezember verabschiedete sie sich als Valentine von der Opernbühne. Untröstlich war unter vielen anderen Giacomo Meyerbeer, der sich für seine unvollendete „Afrikanerin“ keine andere Sängerin als sie vorstellen konnte.
Am 8. Januar 1856 heiratete Sophie Crüwell in Paris Georges Vigier. Im Tausch gegen ihre glanzvolle Karriere wartete ein sorgenfreies Leben auf sie und als Baronin, später als Vicomtesse, ein gesellschaftlicher „Aufstieg“ in den (recht neuen) Adel. Die Hochzeitsreise führte das junge Paar nach Westfalen, zur großen Crüwell-Familie, danach klassisch nach Italien. Neun Monate später brachte Sophie im Vigier-Schloss Grand-Vaux ihre Tochter Renée zur Welt, die mit drei Jahren starb. Bald darauf bekam sie auch ihren einzigen Sohn René. Die kleine Familie verbrachte - wie viele reiche, aus dem Pariser Smog und der Kälte entflohene „Hivernants“ - ihre Winter im angenehm temperierten Nizza, das erst 1860 von Piemont-Sardinien zu Frankreich kam.
Giuseppe Garibaldi, der in Nizza geborene italienische Freiheitsheld, war über diesen Verlust so enttäuscht, dass er die am Meer östlich des Hafens gelegenen Ländereien seiner Familie an Georges Vigier verkaufte. Der ließ hier einen prächtigen Palazzo in der Art der venezianischen Casa d’Oro erbauen. In diesem Rahmen traf sich in der Wintersaison bald der „Cercle de la Méditerranée“, die internationale High Society von Nizza. Die privaten Konzerte der Hausherrin waren sehr begehrt. Im weiten Park ging der Baron seiner Leidenschaft für Botanik nach und akklimatisierte seltene Palmenarten. Geblieben sind heute nur Teile dieses Palmenparks als öffentlicher „Parc Vigier“.
Sophie Crüwell veranstaltete neben ihren Hauskonzerten alle Jahre wieder im Stadttheater Opernvorführungen zugunsten der Armen der Stadt, die stattliche Summen einspielten. Sie komponierte auch Lieder und andere kleine Stücke. Längst war sie auch offiziell Französin geworden und sang nach dem Krieg von 1870/71 zugunsten der Kriegswaisen. Sie war aber auch – gewandet in ein Germania-Kostüm – im fürstlichen Theater dabei, als 1875 bei Detmold das gegen den „Erzfeind“ Frankreich gerichtete Hermannsdenkmal eingeweiht wurde. Als Höhepunkt der musikalischen Events der Vicomtesse Vigier in Nizza gelang ihr 1881 die französische Erstaufführung von Wagners „Lohengrin“ – die inzwischen 55-Jährige glänzte als Elsa von Brabant.
Am nächsten Tag brannte das Stadttheater von Nizza ab. Ihr Mann erkrankte und starb im Oktober 1882. Sophie Crüwell reiste eine Weile mit ihrem musisch begabten Sohn unter anderem nach Bayreuth und sogar in die Türkei, doch dann heiratete der eine Pferdenärrin. Die Vicomtesse gab weiter private Konzerte, gern auch mit Wagner-Musik. Mit 63 Jahren trat sie ein letztes Mal in einer Charity-Opernaufführung auf, sie sang – auf Italienisch! - die Margarete in Charles Gounods „Faust“. Auch während der letzten Jahre ihres Lebens standen Opern im Mittelpunkt – die sie nun als Zuschauerin in der Opéra de Monte Carlo genoss. Gleich neben der Oper, im Hôtel de Paris, starb sie 1907 mit 81 Jahren. Bestattet liegt sie in der stattlichen Familiengruft der Vigiers auf dem Pariser Père Lachaise.
(Text von 2020)
Verfasserin: Heidi Wiese
Zitate
Groß, wohlgebaut und schön trat Fräulein Cruvelli auf die Scene in dem vollen Glanz ihrer Jugend und ihres Talents. Die Stimme rein, volltönend und gewaltig, erhebt sich bis zu den höchsten Tönen des Sopran und steigt ohne Anstrengung noch Lücken bis zu denen des Contra- Alt hinab. Sie singt und spielt mit ebenso viel Einsicht als Energie und ihre lebhafte Physiognomie drückt mit derselben Leichtigkeit die furchtbaren Leidenschaften wie die zärtlichen Gefühle aus ...
(Zeitgenössische Kritik, zitiert nach Sax-Demuth)
Fräulein Cruvelli soll bisweilen an tollen Einfällen leiden. Sowohl in Mailand, wie in Genua und in London hatte sie mit den Impressarien Zwistigkeiten, welche über die Leichtfertigkeit ihres Charakters keinen Zweifel lassen; derartige Streiche sind also nichts Ungewöhnliches bei ihr. Wenn es bei ihr nicht ganz richtig im Kopfe ist, so möge man sie ein für alle Mal kurieren; mit kräftigen Duschen wird man schon zum Ziel gelangen.
(La France Musicale, 1854, zitiert nach Weber, S. 24)
‘L’Etat c’est moi‘, said Louis XIV. ‚L’Opéra c’est moi‘ may Mdlle. Cruvelli claim with equal truth.
The Musical World, London, 23. Dezember 1854 (zitiert nach Böcker-Lönnendonker)
Literatur & Quellen
Hiltrud Böcker-Lönnendonker: Sophie Crüwell (1826–1907). Königin der Pariser Oper. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2020 (21. Sonderveröffentlichungen des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg)
Ann Brünink & Helga Grubitzsch. Hg. 1992. “Was für eine Frau!” - Porträts aus Ostwestfalen-Lippe. Bielefeld. Westfalen Verlag.
Ann Brünink: Sophie Crüwell (1826-1907), Sängerin. In: Internet-Portal „Westfälische Geschichte“. Münster 2007
A. Ehrlich [1896]. Berühmte Sängerinnen der Vergangenheit und Gegenwart: Eine Sammlung von 91 Biographien und 90 Porträts. Leipzig. Payne.
Georges Favre: Une grande Cantatrice Niçoise La Vicomtesse Vigier (Sophie Cruvelli) 1826-1907. Editions A. et J. Picard, Paris 1979
Adolph Kohut. 1906. Die Gesangsköniginnen in den letzten drei Jahrhunderten. 2 Bde. Berlin. Kuhz.
Jörg Langer: Eine echte Europäerin. Die Bielefelder Sängerin Sophie Crüwell. Rivierazeit, 10. Juni 2020
Sax-Demuth, Waltraud: Eine “Afrikanerin” aus Bielefeld, in: Westfalen-Blatt Nr. 202, 31. 8./ 1.9. 1991.
Christian Springer: Verdi und die Interpreten seiner Zeit. Verlag Holzhausen, Wien 2000
Susanne Wambach, „Vom Alten Markt auf die Bühnen der Welt“, Die Sopranistin Sophie Charlotte Crüwell (1826–1907), in Bärbel Sunderbrink (Hg.), Frauen in der Bielefelder Geschichte, Bielefeld 2010, S. 15-23.
Weber, Rosemarie: Sophie Crüvelli, Königin der Pariser Oper, in: Unser Bocholt, Zeitschrift für Kultur- und Heimatpflege, 1. Vierteljahr 1960, S. 23-26.
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