Biographien Zilia Sánchez Dominguez

geboren am 12. Juli 1926 in Havanna, Kuba
gestorben am 18. Dezember 2024 in Puerto Rico
kubanische Malerin; Grafikerin, Bildhauerin, Kunstprofessorin, Feministin
100. Geburtstag am 12. Juli 2026
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Gefragt, was sie im Alter zu Tränen bewegt habe, antwortet sie: Dass mein Werk Anerkennung fand. Tatsächlich war sie bereits in ihren Achtzigern, als sie auf internationaler Ebene zu der ihr gebührenden Ehrung kam. Ihre 3D-Gemälde, ihr eigenwilliger Stil, die sinnlich-erotischen Abstraktionen des weiblichen Körpers machten sie zu einer Künstlerin, deren feministisches Oeuvre einzigartig bleibt und sich üblichen Kategorisierungen verweigert. Ästhetik und Schönheit kennzeichnen ihre Werke, die erst in den 2010er Jahren in ihrer künstlerischen und kunsthistorischen Bedeutung erkannt wurden.
Zilia Sanchez war die Tochter der Kubanerin Paula Dominguez und von Ramiro Sánchez, eines aus Spanien emigrierten Geschäftsmannes. Ihre Kindheit beschreibt Zilia Sánchez als glücklich, obschon sie viel geweint habe. Ihre Mutter habe sie nur trösten können, wenn sie ihr bei Nacht den Mond zeigte. Die engere Bindung Zilias bestand zu ihrem Vater, der seine Freizeit als Maler verbrachte und sich vor allem der Landschaftsmalerei widmete. Wenn sie neben ihm sitzen und selbst malen durfte, sei sie glücklich und zufrieden gewesen. In der Wohnung unter ihnen wohnte Victor Manuel Garcia Valdés (1897 – 1969, genannt Victor Manuel), einer der bedeutendsten kubanischen Maler und ihr späterer Mentor. Zilias Mutter setzte die Kleine oft auf den Balkon, von dort konnte sie Manuel bei der Arbeit zuschauen und bekam auch immer wieder ein Bild von ihm geschenkt. Weder der Vater noch Manuel hatten eine künstlerische Ausbildung genossen, sie waren Autodidakten, was Zilia Sánchez zeitlebens inspirierte und zu schätzen wusste. Technik kann gelehrt werden, nicht aber der innere Geist (inner spirit) (S. 20)*.
Bis zu ihrem 14. Lebensjahr besuchte Zilia eine nahegelegene Schule, ihrem Lehrer fiel bald ihr außergewöhnliches künstlerisches Talent auf. Von ihm, ihrem Vater und auch von Victor Manuel ermutigt, wechselte sie in die Zeichenklassen der Elementarschule der Angewandten Bildenden Künste. Als 16Jährige schrieb sie sich 1943 in die Nationale Akademie der Schönen Künste San Alejandro ein und absolvierte mit hervorragenden Noten in Landschaftsmalerei und Farbgebung ein fünfjähriges Studium der Malerei – was sie im Nachhinein als schrecklich beschrieb: sehr akademisch, bestimmend und monoton sei es gewesen (ebd.). Sie wollte Anderes und Neues!
1951 ist Sánchez an der Eröffnung des Nuestro Tiempo („Unsere Zeit“) beteiligt, einem neuen Kulturzentrum in Havanna, das zum Treffpunkt linker KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und DenkerInnen avanciert. Eine neue, revolutionäre Generation von KünstlerInnen soll entstehen und gefördert werden!
Ihr abruptes Ende findet die konstitutionelle Demokratie Kubas bereits ein Jahr später durch den Militärputsch Fulgenico Batistas (1901 – 1973), der die nächsten sieben Jahre Kuba als Diktator beherrscht. Zilia Sanchez engagiert sich in der Widerstandsbewegung der KünstlerInnen und LiteratInnen und arbeitet an revolutionären Theatern als Bühnenbildnerin – auch, um finanziell überleben zu können.
Eine erste Gruppe junger, abstrakter KünstlerInnen bildet sich und nennt sich entsprechend der Anzahl ihrer GründerInnen die „Elf“ (Los Once), alle interessiert an gestischer Abstraktion, einer Richtung des abstrakten Expressionismus. Sie alle lehnen naturalistische Darstellungen in ihren Werken ab und trennen sich von der früheren kubanischen Vanguard, einer avantgardistischen Bewegung, die sich von der europäischen Beeinflussung lösen und der einheimischen Kunst den Vorrang geben will. Mit der Gruppe Los Once stellt Sánchez ihre ersten, aus reich kolorierten, abstrakten Linien bestehenden Zeichnungen aus.
Im Lyceum, einem der renommiertesten Veranstaltungsorte Havannas für moderne Kunst, präsentiert Sánchez 1953 ihre erste Einzelausstellung. Sie zeigt fünfzehn abstrakte Kompositionen aus farbigen, fließenden Linien und Formen.
In der abstrakten Malerei findet Sánchez ihren Weg in eine neue, unkonventionelle, die tradierte Malerei hinter sich lassende Ausdrucksweise. Abstraktion, so formuliert sie, ermögliche ihr, die imaginäre, innere Welt auszudrücken – viel mehr als es die äußere Realität vollbringen könnte. “Ich war immer auf der Suche nach dem Unsichtbaren und dem Unbekannten”, sagt sie 2019 in einem Interview. “Deshalb mag ich nicht, wenn Leute mich fragen, wie ich meine Arbeit mache – das ist irrelevant. Es kommt auf das Gefühl an, und die Technik kommt als Zweites” (ebd.).
Im Mai 1956 folgt eine weitere Einzelausstellung in der Galeria Cubana, zu der Severo Sarduy (1893 – 1969) einen Katalogtext verfasst. Sarduy, einer der bedeutendsten Poeten und Kritiker Kubas, ist seit Kindertagen ein enger Freund Sánchez‘, zudem ihr Unterstützer und inspirierender Begleiter ihrer künstlerischen Karriere. “He was extremely supportive of me and wrote beautifully about my work. He was an exceptional person” (Er war extrem hilfreich für mich und schrieb wunderschön über mein Werk. Er war eine besondere Person) (S.22).
1957 erhält Sánchez vom Spanischen Kulturinstitut in Madrid ein Stipendium, verbringt einige Monate in Madrid und bereist Italien und Frankreich. Durch die Präsentationen ihrer Arbeiten in Spanien wird sie als kubanische Malerin auf europäischer Ebene bekannt. 1958 repräsentiert sie Kuba auf der Biennale in Mexiko, im selben Jahr nimmt sie an einer Ausstellung in Caracas, Venezuela, teil sowie 1959 an der V. Biennale von Sao Paulo in Brasilien.
Angeregt von den avantgardistischen KünstlerInnen Spaniens vollzieht sich auch in der Kunst Zilia Sánchez‘ eine starke Veränderung. Waren ihre Werke bisher eher poetisch, verträumt, angelehnt an den lyrischen Expressionismus Europas, so bevorzugt sie jetzt den eher robusten Stil der Informellen Kunst. Sie schätzt besonders die Arbeiten des Spaniers Antoni Tàpies (1923 – 2012), eines der bedeutendsten Vertreter der L’Art Informel-Bewegung, bekannt durch seine Verwendung von Naturmaterialien wie Ton, Sand, Staub etc., wodurch seine Bilder wie Reliefs anmuten. Sánchez bewundert die Energie, Originalität und Ehrlichkeit Tàpies und seines Kreises. L‘Art Informel, gestische Abstraktion, abstrakter Expressionismus – allen diesen Stilrichtungen ist gemeinsam, dass der Malprozess selbst im Zentrum des künstlerischen Geschehens steht. Die Einmaligkeit, Individualität und Originalität zeichnen das malerische Ergebnis aus. Figurative, konkrete Formen werden unbedingt vermieden, da sie der intellektuellen Kontrolle des/der Malenden unterliegen würden.
Nach dem starken Wechsel ihrer Arbeitsweise gefragt, antwortet Sánchez, dass sie selbst derartige Veränderungen während des Geschehens weder bewusst steuere noch wahrnehme. Sie kontrolliere weder sich selbst noch das, wovon sie in einem bestimmten Moment bewegt und inspiriert würde. Sie lasse dagegen einfach zu, was sich ergebe und was intuitiv entstehe. Und erst später frage sie sich: was habe ich da gemacht, was ist geschehen? Die Wirkung des Intuitiven, Unvorhergesehen bleibt lebenslang ihr Konzept – und bedeutet gleichzeitig die Ablehnung konzeptorientierten Vorgehens.
Am 1. Januar 1959 stürzt Fidel Castro den Diktator Batista und ruft die kubanische Revolution aus. Die Hoffnung auf Freiheit nach der rechtsgerichteten Diktatur und auf neue, wunderbare Zeiten zerschlägt sich allerdings schon bald, Sánchez nennt die neue Regierung denselben Esel mit anderen Ohren.
Schon 1959, im Jahr der Regierungsübernahme Castros, findet die erste nationale Post-Batista-Ausstellung im Palast der Schönen Künste statt, an der Zilia Sánchez teilnimmt. Die dominante Präsentation von abstrakter Kunst aber ruft Kritiker und vor allem Parteibonzen auf den Plan. Abstrakte Kunst erscheint ihnen verdächtig, politisch nicht korrekt, Nichtfiguratives halten sie für inkompatibel mit der neuen revolutionären Gesellschaft. Für linke und abstrakte KünstlerInnen wird das politische Klima rau, besorgt rät Sánchez‘ Mutter ihrer Tochter, nicht dauerhaft in Kuba zu bleiben. Auch Sarduy, dessen Urteil für Sánchez in allen Belangen maßgeblich ist, empfiehlt ihr fortzugehen.
Bereits zu Batistas Zeiten waren viele KünstlerInnen und Intellektuelle emigriert, vorzugsweise in die USA. Auch Sánchez verlässt Kuba 1960 und folgt der Einladung Severo Sarduys nach New York, wo sie viele ihrer ehemaligen Avantgarde-FreundInnen aus Kuba wiedertrifft, nun alle als ExilantInnen. Von New York erhofft sie sich Freiheit als Künstlerin, Toleranz gegenüber ihr als lesbischer Frau und sozialen Anschluss in der gay community der Stadt. Zehn Jahre wird Sánchez im New Yorker Stadtteil Harlem verbringen. Um ihren Lebensunterhalt bestreiten und die Miete für ihre Wohnung bezahlen zu können, arbeitet sie in einem Kunst- und Antiquitätengeschäft, erhält Aufträge als Illustratorin und Designerin für Buchcover. 1962 und 1963 studiert sie zusätzlich Druckgrafik am New Yorker Pratt Graphic Center – bekannt für eine innovative Ausbildung und Ermutigung der Studierenden zu Kreativität und Experimentierfreude. Zudem stellt das Center Arbeitsmaterial und Räume zur Verfügung, eine außerordentliche finanzielle Hilfe für die KünstlerInnen.
1965 zeigt Sánchez in einer Einzelausstellung im Museum der Universität von Puerto Rico fünfundzwanzig Arbeiten im informellen Stil. Es ist Höhepunkt und Abschluss ihres siebenjährigen experimentierenden Schaffens in dieser Kunstform. Sie zeigt Bilder aus unterschiedlichsten Materialien wie Sägemehl, Wachs, Harz etc., ein Ergebnis der Anregung durch die spanischen KünstlerInnen der Art Informel.
In den beiden folgenden Jahren ermöglichen ihr zwei Stipendien einen weiteren Aufenthalt in Spanien. Sie geht nach Madrid und schreibt sich für ein Jahr am Zentralinstitut für Konservierung und Restauration ein und spezialisiert sich auf Restaurationstechniken für Tafelbilder und Leinwände – notwendiges Wissen und Können für ihre zukünftige Arbeit mit modulierten Leinwänden. Sie arbeitet auch mit Porzellan, obwohl sie, wie sie später erzählt, Porzellan eigentlich nie mochte, aber das Erlernen der Techniken habe ihr die nötigen Fähigkeiten vermittelt, geschwungene Formen herzustellen (S.22). Auch diese Weiterentwicklung deutet auf eine neue Schaffensphase hin, die sich fernab der Öffentlichkeit längst vollzieht.
Zunächst aber kehrt Sánchez nach New York zurück und engagiert sich beim spanischen Literaturmagazin La Nueva Sangre (Das neue Blut), gegründet von in New York lebenden kubanischen und puertorikanischen SchriftstellerInnen. Ein Magazin, dessen Ziel es ist, die bilinguale, bikulturelle, auch bisexuelle Identität der hispanischen Community sichtbar zu machen. Zilia Sánchez fertigt Zeichnungen und Illustrationen für mehrere Ausgaben an, während sie gleichzeitig an der Optimierung ihres eigenen Kunststils arbeitet.
Sánchez hatte seit Jahren eine Inspiration aufgegriffen, die eine völlig neue und lebenslange Art des Schaffens auslöst. 1955 war ihr Vater gestorben, ein sie zutiefst erschütterndes Ereignis. Sie hatte beobachtet, wie die Mutter ein weißes Bettlaken vom Totenbett des Vaters auf die Wäscheleine hängte. Es war ein windiger Tag, das Laken flatterte immer wieder gegen ein hinter der Leine stehendes Gestell und nahm damit die Form der dahinterstehenden Struktur an. Die Erinnerung an diese zufällige „Skulptur“ wurde zum bleibenden Einfluss auf die Kunstwerke Sánchez‘. “Ich sah die Form, die aus diesem Grund entstand, und plötzlich erkannte ich das Laken als eine Malerei,” sagte sie einmal. “Ich denke, solche Momente der Internalisierung der äußeren Welt sind, besonders wenn man jung ist, von entscheidender Bedeutung, und du vergisst sie niemals“ (S.19). Von den 1960er Jahren an formt sie Werke, indem sie die Leinwände über vorher gefertigte Holzgestelle spannt – zunächst in kleinen Formaten, die technischen Bedingungen auslotend. Mit diesem Verfahren erzeugt sie Bilder von dreidimensionaler Qualität, angeregt u.a. von der deutsch-amerikanischen Malerin Eva Hesse (1936 – 1970) und ihrer Technik des drawing space (den Raum zeichnen). “I began with flatness and continued with another dimension that resembles motion; it was a restless exploration. A quest for change” (ich begann mit der Flächigkeit und fuhr mit einer anderen Dimension fort; es war eine rastlose Erkundung, eine Suche nach Veränderung). Obwohl Sánchez die Vision sofort hatte, dauert es Jahre, bis sie mit großformatigen Gemälden mit erhabenen Leinwandabschnitten beginnen kann. Ein arbeitsintensiver Prozess, der Zeit braucht und fehleranfällig ist. Falten, Knicke, Risse stellen eine große technische Herausforderung angesichts des feuchten Klimas in der Karibik dar. Nach eigenen Aussagen dauerte es zehn Jahre, bis sie die Technik vollständig beherrschte, wobei ihr das Wissen als Restauratorin nützte, um dann die ästhetisch einzigartigen Gemälde von ungewöhnlicher Form und Größe zu schaffen.
1970, fünfzehn Jahre nach dem Tod ihres Vaters, präsentiert Zilia Sánchez in einer Einzelausstellung des Museums der Universität von Puerto Rico (Museo de la Universidad de Puerto Rico) zum ersten Mal Gemälde auf geformten Leinwänden, die Erotischen Topologien (topologías eróticas) – Werke, die über 40 Jahre später ihren internationalen Ruhm begründen. Der begleitende Katalog zur Ausstellung enthält einen Essay von Sarduy, in dem er die Beziehung Zilia Sánchez zum Minimalismus analysiert – eine Kunstform, der Sánchez‘ Gemälde zugeschrieben wurden. Aber Sánchez Tönung zeigt eben nicht das modische Stahlgrau der Minimalisten, außerdem zeigen ihre Werke stets eine körperliche Präsenz, die dem beinahe industriellen Charakter vieler minimalistischer Arbeiten widerspricht. Im Gegenteil ist Sánchez‘ Werk von handwerklicher Qualität, gründend in ihrer feministischen Haltung und ihrem sinnlichen Interesse – anders als die Werke kühler Präzision vieler ihrer männlichen Kollegen. Begriffe wie körperlich, erotisch, sinnlich und taktil finden sich bald in den Kunstkritiken – Begriffe, denen Sánchez zustimmt.
Das Ergebnis sind Werke in beinahe endloser Variationsbreite, sinnliche Reliefs als Transkriptionen des weiblichen Körpers und seiner Formen, die Sánchez beinahe bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert, geprägt von erotischer Sensibilität und Ästhetik. Von nun an besteht ihre Palette aus matten, gedämpften Grau- und Blautönen, nur manchmal taucht ein zartes Rosa auf cremefarbenem Hintergrund auf.
Verdopplung, Verdichtung, Harmonie einer „Zweiheitlichkeit“, Gleichgewicht – das sind die zentralen Anliegen in Sánchez abstrakten Arbeiten, wie im Gemälde Soy Isla abzulesen ist.
Bestehend aus zwei runden Formen, die als erhabene Formen die Leinwand in der Mitte teilen, aber doch exakt zusammenpassen. Während die eine Tafel feine Linien und Spiralen zeigt, bewirken die dunklen Kreise der anderen Hälfte kompositorische Balance. “Ich strebe nach einer Harmonie zwischen zwei Hälften. Ich komponiere das Gleichgewicht des Körpers.” Exemplarisch für ihr gesamtes Werk steht hier die Überwindung von Grenzen: zwischen Malerei und Skulptur, zwischen Abstraktem und Figürlichem, zwischen Zeichen und Bedeutungen, zwischen Verborgenem und Gezeigtem, nicht zuletzt zwischen Geschlechterrollen und Identität.
Im Gemälde Antigone (1970), einem Werk aus der Serie Topologia Erotica, spricht die Formgebung eine ähnliche Sprache. Die in mattes Blau getönten, auf- und absteigenden Höhen und Tiefen der dreidimensional geformten Leinwand sind Widerhall weiblicher Körperteile. Hier teilt eine weiße Linie das Bild in zwei symmetrisch komponierten Teile.
Wie mit Antigone greift Sánchez Frauen mit tragischer Geschichte aus der griechischen Mythologie auf, wie in den Serien Amazonen und Trojanerinnen. Sie aber sind, so betont Sánchez, immer auch Heldinnen. Sie mussten durch großes Leid gehen, aber sie überwanden das Tragische und wurden zu Heldinnen. Frauen waren immer tragisch und heroisch. Es ist besser, sie als Liebe - Eros – zu verstehen denn als Thanatos oder als Impuls zu sterben. Sterben hat keine Stärke, es ist einfach nur unausweichlich. (S.25, Übersetzung der Verfasserin).
Ein Gemälde aus der Serie Amazonen zeigt die Form einer Brust oder Mamille, die in einer Kette identischer Module vervielfältigt wird – ein Stilmittel, das Sánchez mehrfach im Sinne einer Verdichtung ihrer Botschaft aufgreift. Hier geht es um den alten Mythos der Amazonen, einer matriarchalen Gesellschaft kriegerischer Frauen, die sich der Sage nach die rechte Brust abschnitten, um Pfeil und Bogen besser gebrauchen zu können. Das Motiv der abgetrennten Brust taucht immer wieder in Sánchez Werken auf - eine Form, die Unterschiedlichstes signalisieren und assoziieren kann. Als pars pro toto steht sie für den Kampfeswillen der Frauen, gleichzeitig auch für die Figur der Mutter oder/und für das Erdenrund oder/und für Lust und Freude.
In der Serie Trojanerinnen (1984) wiederholt Sánchez Formen, mit denen sie ein weiteres Verständnis für Verdopplung hervorruft. Sie nutzt diesen visuellen Dualismus, um das zu bewirken, was sie als „ästhetisches Äquivalent“ für das Verständnis der Einheit in ihren Werken bezeichnet. Erst das Bi-geteilte macht auf Einheit aufmerksam – so wie Licht und Schatten zusammengehören, die ebenfalls für Sánchez einen wichtigen stilistischen Aspekt darstellen.
Verdichtung, Verdopplung, Vervielfachung, Mehrdeutigkeit, abstrakte Zeichensetzungen und Symbolisierungen – Codifizierungen, mit denen Sánchez ihre Aussagen verschlüsselt und gleichzeitig meist in Überlebensgröße offenbart.
Auch die Serie Lunares aus den 1960er Jahren suggeriert Eindeutigkeit, aber auch hier versteckt sich semiotische Bi-Bedeutung. Lediglich übersetzt mit „Mond“, (moon) wie es die englischsprachigen Kataloge halten –, wird die zweite Bedeutung von lunares verpasst: neben „Mond“ bedeutet es auch „Muttermal“. Sánchez‘ „Mond“gemälde spielen, wie es auch in den Amazonen- und Trojanerinnen-Serien der Fall ist, mit mehreren Bedeutungsebenen: so kann der Mond auch als Mutter, als Brust entziffert werden, zumal er zusätzliche Erhebungen in Form von Mamillen trägt, sich in Kurven und Spalten rundet – weibliche Sexualität erscheint verhüllt in der Form des Mondes. Eine solche visuelle Metaphorik – Mutter und Brust oder/und Mond und Frau – zeigt das Netzwerk von Verbindungen, filigranen Zusammenhängen und Sánchez‘ codierte erotische Sprache über weibliche Sexualität. Niemals sind Sánchez‘ Ausdrucksformen linear, „ein“fältig oder flach, sie sind bi- und mehrdimensional, vielsagend, kraftvoll, sinnlich, dynamisch und leuchten immer wieder aus dem Verborgenen – in Metaphorik auch ihres eigenen Lebens in immer wieder schmerzlicher Isolation als Immigrantin und lesbisch lebender Künstlerin.
Die kubanisch-amerikanische Autorin Dolores Prida (1943 – 2013) beschreibt Sánchez‘ Werk als Poesie, gegossen in weibliche Kurven (S.66).
Bereits in den späten 1960er Jahren hatte Sánchez sich in ihrem zeichnerischen Werk El significado del singnificante (die Bedeutung des Zeichens) mit dem Phänomen auseinandergesetzt, dass eine Form, ein Zeichen/eine Zeichnung zunächst ein Ersatz, eine Substitution für ein reales Objekt ist, die wiederum mit zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten besetzt werden kann. Sánchez hat die Formen in diesen Zeichnungen als Verkörperung verschiedener Ideen formuliert. Sie veranschaulicht dies durch die Aneinanderreihung von Punkten, eiförmig angeordnet, die auch eine Brust sein könnten. In der Verdopplung ähnelt die Anhäufung der Punkte dem Bild eines Gesäßes oder zweier sich berührender Brüste. Eine Linie aus Punkten bewegt sich durch eine dieser Formen und erstreckt sich nach oben zu etwas, das wie eine Mamille aussieht oder wie eine strahlende Sonne. Später erst, in den großen 3D-Malereien, versieht Sánchez ihre Arbeiten mit erotischen und sexuellen Zeichen.
1971, nach einer Einzelausstellung an der Universität von Puerto Rico in San Juan, entscheidet sich Sánchez für eine Umsiedlung nach San Juan. Sie hat genug von New York, das ihr nicht den gewünschten Erfolg brachte, und vom Klima der Stadt. “Zum blauen Himmel und dem Ozean zurückzukehren war fast so, als ginge ich nach Hause. Außerdem ist es dieselbe Sprache, und die Menschen sind ähnlich. Wir sind aus demselben Holz geschnitzt. Kuba und Puerto Rico sind zwei kleine Inseln, die nicht gegen Großmächte kämpfen können. Ich sage das, weil ich keine Rebellin bin; ich bin eine Realistin” (S. 23). Sie eröffnet ein Studio in der Nähe von Santurce, einem Stadtteil von San Juan, wo sie bis zum Ende ihres Lebens wohnen und arbeiten wird.
Zwei Aufträge helfen ihr zunächst, genug Geld zu verdienen, um die Arbeit an den eigenen Werken fortsetzen zu können. Sie wird als Grafikdesignerin bei anti-kolonialistischen und feministischen Literaturjournal Zona. Carga y Descargo ( Lade- und Entladezone) engagiert und bekommt einen Auftrag zur Gestaltung einer reliefartigen Fassade eines mehrstöckigen Apartmenthauses.
1991 markiert den Beginn ihrer Karriere als erfolgreiche, jahrzehntelang tätige Professorin an der Escuela de Artes Plásticas y Diseno de Puerto Rico (Schule für Bildende Künste und Design von Puerto Rico). Von der Farbtheorie und-praxis bis hin zu den Prinzipien des Designs reichen ihre Lehrinhalte und Kurse. Auch hier kommt ihr intuitives, innovatives Konzept zum Tragen, wenn sie ausführt: “Ich habe gerne gelehrt, weil ich nie einen traditionellen Ansatz verfolgte, der auf Beobachtung aufbaut. Stattdessen brachte ich einen Apfel mit in die Klasse und sagte ‚dies ist ein Apfel, betrachte ihn‘ und dann nahm ich ihn weg… Ich bevorzuge eine freie Form des Kopierens, weil ich lieber mit Gefühlen als mit den Augen arbeite. In den Examina erlaubte sie ihren StudentInnen zu arbeiten, wie immer sie es wollten. Wenn du ein Künstler sein willst, musst du deinen eigenen Kopf haben, deine eigenen Augen, deinen eigenen Stift. Im Wesentlichen kannst du Kunst nicht lehren” (S. 25). Sánchez wurde eine äußerst beliebte Dozentin, mit Bewunderung und großer Zuneigung wird bis heute über sie gesprochen.
Während der nächsten Jahrzehnte arbeitet sie an der immer umfangreicheren Variationsbreite und Verfeinerung ihrer persönlichen, unabhängigen und weiterhin erotisch-figurativen Form der Abstraktion des weiblichen Körpers. Zwar bestreitet sie in Puerto Rico zahlreiche Ausstellungen, gewinnt mehrere erste Preise wie 1978 den UNESCO-Preis des Universitätsmuseums von Puerto Rico für ihre Topologia Erótica oder 1981 ebenfalls den ersten Preis bei der IV. Biennale von Medellin, Kolumbien, aber sie bleibt beinahe unbekannt bis 2013, als das Artist Space in New York in einer Ausstellung einen umfassenden Überblick auf Sánchez‘ Werk präsentiert.
Ebenfalls 2013 beginnt die Galerie Lelong in New York, Arbeiten von Sánchez zu zeigen und eröffnet 2014 eine Retrospektive der Werke, die Sánchez in New York während der 1960er Jahre geschaffen hatte. Mittlerweile war Sánchez auch als Bildhauerin tätig gewesen, 2019 zeigte die Galerie ihre großen, freistehenden Marmorskulpturen. Im selben Jahr findet die erste große Retrospektive ihres Gesamtwerkes in der Phillips Collection in Washington D.C. statt – Ausstellungen, die den Aufbruch Sánchez‘ zu ihrem internationalen Renommee markierten und die trotz des dramatischen Verlustes möglich waren, der Sánchez im Jahr zuvor getroffen hatte. Der Hurrican Maria hatte große Teile ihres Ateliers, viele Werke und ihre Archive verwüstet. Tags nach dem Hurrican hatte das Museum Hammer in Los Angelos die Gruppenausstellung Radikale Frauen: Lateinamerikanische Kunst von 1960-1985, eröffnet, in der Sánchez vertreten war und damit einem weiteren internationalen Publikum bekannt wurde.
Es spricht für ihre Widerstandskraft, ihr Selbstbewusstsein und ihre ungebrochene künstlerische Leidenschaft, dass sie sofort den Wiederaufbau des Studios veranlasste und es ab 2018 neueröffnete.
Das Centre Pompidou in Paris mit der Ausstellung Women in Abstraction 2021 und die Whitechapel Galerie in London mit Action Gesture: Women Artists and Global Abstraction 1940-1970, die Staatsbibliothek von Sao Paulo waren die weiteren Stationen für Sánchez‘ Kunstwerke.
Die Washingtoner Ausstellung fand ihren Weg zum Museo de Arte de Ponce, San Juan und zum Museo del Barrio in New York. Das ICA (Institute of Contempory Art) Miami initiierte eine zweite Retrospektive, 2024 präsentierte die Biennale Venedig ihr Werk. Heute werden Sánchez‘ Werke von großen Museen Europas und Amerikas bewahrt und präsentiert.
In ihren späten Jahren betätigt Sánchez sich auch als Bildhauerin. 2019 hatte die Galerie Lelong mehrere freistehende Skulpturen präsentiert, Sánchez‘ erste Arbeiten in Marmor - in Form und Ausdruck meist den dreidimensionalen Gemälden ähnelnd.
Als völlige Außenseiterin der damaligen Kunstszene gelang es Sánchez, über vierzig Jahre fast im Verborgenen, ohne Unterstützung renommierter Galerien oder Museen, ein unvergleichliches, in sich geschlossenes Gesamtwerk zu erschaffen, mit dem sie selbst Kunstgeschichte schrieb. Heute bewahren und präsentieren weltweit Museen ihr Werk.
In der Videoperformance „Begegnung – Opfergabe oder Rückkehr“ aus dem Jahr 2000 wirft Sánchez ihr Gemälde Soy Isla wiederholt in den Atlantik - immer wieder wird es von den Wellen zurückgespült, immer wieder wirft sie es zurück in den Gezeitenstrom. Die Kunsthistorikerin Carl Acevedo-Yates deutet diese Performance als Metapher für Sánchez‘ Gesamtwerk, ...das sich weigert, das eine oder das andere zu sein… resistent und unabhängig von kunsthistorischen Kategorisierungen, fließend und performativ und trotzig gegenüber einem heteronormativen Blick (S. 67). Ich bin eine Insel – verstehe und ziehe dich zurück (Soy isla: compréndelo y retírate), kommentiert Sánchez.
https://www.youtube.com/watch?v=1f5TzemR0SI&list=RD1f5TzemR0SI&start_radio=1
Um die kunst- und kulturhistorische Bedeutung Zilia Sánchez‘ zu würdigen und einzuordnen, weist die Kuratorin für moderne Kunst Vesela Sretenovic auf die affektive Kraft hin, die der Kunst innewohnt und der dadurch auch eine soziokulturelle Dimension innewohnt. Diese könne zu einem Ruf nach Veränderung, auch politischer Veränderung, werden. Für sie geht es dabei um das Miteinander von Erfahrung und Sinnlichkeit einerseits und der existentiellen Frage nach Bedeutung und Sinnhaftigkeit andererseits, das sich im Werk Zilia Sánchez‘ in hervorragender Weise spiegelt. Dadurch erhalten für Sretenovic die Werke Sánchez‘, besonders die geformten Gemälde, in ihrer Tiefe nicht nur eine künstlerische, sondern eine existentielle und damit immer auch politische Botschaft.
“Zilia Sánchez schenkt uns in Licht- und Formsequenzen eine Fülle visueller und sensibler Poesie… Zilias Kunst ist transzendent, denn durch den sinnlichen Kontakt mit ihrem Werk entdeckt der Betrachter viele Dinge, das Wichtigste ist vielleicht das Gefühl, was man in der Gegenwart eines Kunstwerks erlebt“, schreibt der kubanische Kritiker Mario Pena.
Als Zilia Sánchez 2019 im Alter von 93 Jahren vom Interviewer der Phillips Collection gefragt wird, warum sie immer noch künstlerisch tätig sei, lautete ihre Antwort: Weil ich es brauche.
Zilia Sánchez stirbt 2024 im Alter von 98 Jahren. Sie hinterlässt ihre Lebensgefährtin Victoria Ruiz nach fast 60jähriger Partnerschaft.
https://www.youtube.com/watch?v=KbS_tUr2_BM
* Anmerkung: die in Klammern gesetzten Literaturhinweise stammen aus: Vesela Sretonovic, Zilia Sánchez, Soy Isla, Phillips Collection Washington 2019, Katalog zur Ausstellung
(Text von 2025)
Verfasserin: Christa Matenaar
Zitate
Als ich meine Amazonen und Trojanerinnen machte, fühlte ich, wie sie Schulter an Schulter standen, wie eine Armee von mächtiger Schönheit, und das war eine Vision von Frauen, die den Unterschied macht. (when I made my Amazonas and Troyanas, I sensed them standing shoulder-to-shoulder, like an army of strengthened beauty, and it was a different vision of women).
Links
Nachruf der New York Times 17.1.2025
https://www.youtube.com/watch?v=B_jQl6mt3V0
https://www.youtube.com/watch?v=dw9PPvSmfsU
https://www.youtube.com/watch?v=mziKt1swyjg
Literatur & Quellen
Vesela Sretonovic, Zilia Sánchez, Soy Isla, Phillips Collection Washington 2019, Katalog zur Ausstellung
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