Goethe und sein lesbisches Veilchen
Letzte Woche unterhielt ich mich mit Berit und Angelika über Pascals Pensées, die ich gerade lese. In der handlichen Reclam-Ausgabe passen sie gut in jede Hand- und sogar Jackentasche und sind so immer zur Hand, ob in der Warteschlange, im Zug oder im Wartezimmer. Da sie ein relativ ungeordneter Haufen kurzer Gedanken sind, kann frau überall einsteigen und sich en passant geniale Einsichten zu Gemüte führen.
“Pensées heißen im Französischen auch die Stiefmütterchen”, erzählte Angelika, ihrerzeit Französischlehrerin. “Oh”, sagte ich, “daher kommt dann wohl das englische pansy ‘Stiefmütterchen’, das wusste ich gar nicht.”
Über den lateinischen Namen des Stiefmütterchens, “Viola Tricolor”, landeten wir bei Storm und schließlich bei Goethes Veilchen, bestrickend vertont von Mozart, wie Sie hier bei YouTube nachprüfen können. Über diese kühne Eingebung Goethes, das lesbische Veilchen und seinen Liebeswahn, wollte ich doch schon immer mal eine Glosse schreiben:
Ein Veilchen auf der Wiese stand,
Gebückt in sich und unbekannt;
Es war ein herzig’s Veilchen.
Da kam eine junge Schäferin
Mit leichtem Schritt und munterm Sinn
Daher, daher, Die Wiese her, und sang.
Ach! denkt das Veilchen, wär‘ ich nur
Die schönste Blume der Natur,
Ach, nur ein kleines Weilchen,
Bis mich das Liebchen abgepflückt
Und an dem Busen matt gedrückt!
Ach nur, ach nur
Ein Viertelstündchen lang!Ach! aber ach! das Mädchen kam
Und nicht in Acht das Veilchen nahm,
Ertrat das arme Veilchen.
Es sank und starb und freut‘ sich noch:
Durch sie, durch sie,
Zu ihren Füssen doch!
[Und der weichherzige Mozart fügte noch hinzu:] Das arme Veilchen! Es war ein herzig’s Vei-eilchen.
Hans Schill, Lehrer für Literatur- und Kulturkunde, schreibt über Goethes Veilchen im Pegasus 92 von 2008/9 (hier als Pdf zum Runterladen)
Ein traditionelles Frauenschicksal in eine Blumenmetapher gekleidet, ein Frauenschicksal also, wie man es in der Literatur zuhauf findet? Ein Frauenschicksal, wie es jahrhundertelang Realität war, einmal mehr literarisch verbrämt und überhöht? Mitnichten! Der Clou dieser Ballade ist natürlich, dass das Veilchen ein Mann ist – schliesslich ist es «eine junge Schäferin», die mit «leichtem Schritt und munterm Sinn» daherkommt und vom Veilchen als «Liebchen» benannt wird, der «Busen» hat hier also eindeutig weibliche Qualität. Goethe stellt sämtliche Erwartungen auf den Kopf: Nicht nur, dass hinter Blümchenmetaphorik Begehren und Tod lauern, auch das übliche Geschlechterverhältnis ist ins Gegenteil verkehrt.
Natürlich sahen wir das völlig anders. Der schönen Erkenntnis, dass “der Busen eindeutig weibliche Qualität hat”, stimmten wir fräudig zu, aber dass ausgerechnet das “herzige Veilchen” ein Mann sein soll, nur weil es die junge Schäferin anhimmelt, ist doch wohl mehr als verschroben.
Hier nun die korrekte Interpretation des Gedichts, abgesegnet von drei Lehrerinnen, Berit, Angelika und mir (interessante Gedanken hatte nicht nur Pascal): Das Veilchen ist ein Mädchen, das für die junge Schäferin schwärmt und von ihr abgepflückt werden möchte, damit es an ihrem Busen ruhen und matt gedrückt, um nicht zu sagen plattgedrückt werden kann - eine todessüchtige, rührende und ziemlich pubertäre Vorstellung. Zwar glaubt es durch den “Tritt” (die Nichtbeachtung) der Schäferin zu sterben, aber davon wird es sich erholen, schließlich ging diese “mit leichtem Schritt”. Richtig tödlich wäre es geworden, wenn die Schäferin den schwärmerischen Wunsch des Veilchens erfüllt und es abgepflückt hätte - wie einst der wilde Knabe das arme Heideröslein.
Lehrer Schill aber macht lieber ein Veilchen zum Manne, als die Liebe eines Mädchens zu einer Frau oder einem Mädchen ("das Mädchen kam") in Betracht zu ziehen. Dabei kommt sie doch an Schulen dauernd vor: Schülerinnen schwärmen für ihre Lehrerinnen und Mitschülerinnen und würden nur zu gerne “an ihrem Busen matt gedrückt”. Wir drei Lehrerinnen und ehemaligen Schülerinnen können ein Lied davon singen!
Bei Lehrer Schill haben solche Mädchen keine Chance zu einer Spiegelung ihrer Gefühle durch unseren Dichterfürsten und im Unterrichtsgespräch. Er bleibt lieber bei seinem heteronormativen Modell, das doch an unseren Schulen nun allmählich genug Schaden angerichtet hat.
Wir hoffen, ihm mit Goethes Hilfe einen möglichen Ausweg aus der schulischen und sonstigen Misere aufgezeigt zu haben.
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9 Kommentare
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24.06.2010 um 15:55 Uhr Hans
Mit ziemlicher Verspätung entdecke ich heute diese Blog-Einträge und fühle mich zunächst mal geehrt, dass Luise F. Pusch persönlich sich zu meiner Kolumne in unserer doch eher bescheidenen Abteilungszeitung äussert! Zum Inhalt: Natürlich ist mir die Deutung des Veilchens als lesbischeS Frau/Mädchen auch in den Sinn gekommen - aber: Ist die Interpretation des Veilchens als einer Frau nicht viel traditioneller und also in einem feministischen Sinne reaktionärer als die ungewöhnliche Gleichsetzung mit einem Mann/Jungen? Für mich ist gerade aus einer Gender-theoretischen Sicht viel spannender anzunehmen, dass Goethe tatsächlich eine traditionell für Frauen gebrauchte (und meines Erachtens sehr problematisch konnotierte) Metapher auf einen Mann überträgt! Und damit das herkömmliche Geschlechterverhältnis auf den Kopf stellt: Im Gedicht wird erzählt, wie das Veilchen - “gebückt in sich und unbekannt” - offensichtlich sein Glück nur darin sieht, “abgepflückt” zu werden, sich selbst also nur in der absoluten Hingabe verwirklichen kann, kein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben hat (und will!) und sogar den Tod in Kauf nimmt - typisch denkt man (und frau?), so werden die Frauen immer in der Literatur dargestellt und will sich schon ärgern; bis sich eben herausstellt, dass mit dem Veilchen ja auch ein Mann gemeint sein könnte! Nimmt man und frau an, dass hier über eine lesbische Liebe erzählt wird, haben wir zwar das normative Modell Heterosexualität relativiert, nicht aber ein reaktionäres Frauenbild.
26.04.2010 um 04:59 Uhr Joey Horsley
Es ist schön, neue (lesbische!) Lesarten goethescher Gedichte zu entdecken, erinnert zu werden, wie sehr unsere Sehweise eingeschränkt wurde/wird durch den (Hetero)Sexismus unserer Kultur.
Aber ich finde, es geht zu weit, den armen Lehrer Schill so zu verteufeln, bloß weil er nicht selbst diese beglückende Einsicht hatte. Ich habe ein Interview mit ihm gefunden; der junge Klassenlehrer scheint ganz ordentlich zu sein—er bedauert zum Beispiel “den Backlash in der Geschlechterfrage” der letzten 10 Jahre, er redet von “Buchhändlerinnen und Buchhändlern”. [http://www.wksbern.ch/data_access/wksbern/downloads/Grundbildung/Buchhandel/Archiv_Pegasus/Pegasus_85_November.pdf]
Und auch der alte Goethe hatte wohl mehr am Hut als “seine sexuellen bedürfnisse allseits befriedigt zu wissen”. Angela Steideles vortreffliches Buch über die Liebe zwischen Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens zeichnet den Dichterfürst, der von “androgynen” Frauen fasziniert war, als vorurteilsfrei und aufgeschlossen gegenüber der innigen Beziehung der beiden Frauen (Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens. Insel, 2010, S.94-95).
26.04.2010 um 01:58 Uhr Alison
So oft ich das Lied gesungen habe, habe ich DAS Veilchen nie als maennlich empfunden oder interpretiert. Vielleicht fiel es mir leichter, da ich aus einer Sprache komme in dem maennlich und weiblich haputsaechlich auf “fauna” angewendet werden. Ein Veilchen ist halt eine Blume und so hat keine wirklichen Geschlecht fuer mich, weder weiblich noch maennlich.
Allerdings, ich finde diese Interpretationsvorschlag schluessig.
25.04.2010 um 16:12 Uhr Gudrun Nositschka
Wir alle haben von der wenigstens partiellen weiblichen und männlichen Heterosexualität profitiert - wir verdanken ihr unser Leben. Außerdem ist die zweigeschlechtliche Fortpflanzung die Garantie, dass wir durch die so geschaffene Variationsbreite möglichst fit auf die Welt kommen, so dass wenigstens Teile der Menschheit mit den sich ständig an unseren Organismus anpassenden Viren und Bakterien klar kommen. Alleine deshalb schon wäre Klonen ein Irrweg, und auch die sog. Reproduktionsmedizin ist voller gesundheitlicher Fallstricke. Das Problem in patriarchalen Gesellschaften - die natürlich allesamt abgeschafft gehören - ist u.a., dass vielerorts Frauen nicht frei wählen dürfen, mit welchen Männern/welchem Mann sie zusammen sein wollen, wenn überhaupt, dass sie sogar gezwungen werden, Kinder auszutragen, die sie nicht wollen. Ohne diese Zwänge gäbe es keine Überbevölkerung, keinen Hunger in der Welt und vermutlich auch keine Kriege, aber genug Frauen, die es schaffen, lustvoll Mütter zu werden.
25.04.2010 um 11:19 Uhr Anne
sicherlich sah lehrer schill sich in seinem männlichkeitswahn selbst als das veilchen, eine versteckte botschaft des herrn geheimrats an ein altes leiden insb. älterer männer - der hang und das recht eines jeden mannes auf einen stabilen jungfräulichen busen samt jungfer gratis, unbenutzt?
als vorgeschmack hatte mann den armen jungfern im brautlied “wir winden dir den jungfernkranz (bräutigam) aus veilchenblauer seide” schon mal einen musikalischen merkzettel in form eines veilchenblauen kranzes zugesteckt und das nahen des bräutigams signalisiert: “wir führen dich zu spiel und tanz, zu glück und liebesfreude…wie lang bleibt doch der freiersmann, ich kann es kaum erwarten..”
ganz im sinne der alt-herrgebrachten hetero-norm - bewies der herr geheimrat nicht selbst im hohen alter sein recht auf eine intakte jungfrau - konnte er es kaum erwarten, seine sexuellen bedürfnisse allseits befriedigt zu wissen. jedenfalls hat er hier in der region rheingau auch im hohen alter nicht immer den besten eindruck hinterlassen.
und sicherlich ist es dem lehrer Schill wohl ähnlich ergangen - aus verschmähter liebe wurde das veilchen vermännlicht ganz in dem sinne, wenn ich (schill) dich nicht haben kann, dann solls auch keine andere wagen , grusel..
llg Anne
24.04.2010 um 23:47 Uhr Gondlir
Ich dachte eigentlich, das Veilchen sei schwul, und die “Schäferin” ist in Wirklichkeit ein Crossdresser. ;-)
24.04.2010 um 23:07 Uhr Anne
@ Evelyn - die männliche hybris macht noch nicht einmal vor einem blumigen veilchen halt.
wie ich gelesen haben, war das veilchen in der antike eine heilige erscheinung - es war dem gott pan geweiht und zu ehren des saturn durften männer veilchenkränze auf dem kopf tragen. und weil mann im allgemeinen 365 tage im jahr so “närrisch” war, gab`s für ihn auch noch den veilchendienstags-gedenktag - ein busstag für sog. harte fälle ...
aber es gibt ja noch das andere `blaue veilchen`, damit kann die kluge frau der männl. hybris mit schmackes zusehends den ” augenBlick ” verderben - zum abklingen der schwellung eignet sich auch wiederum das blumige veilchen grusel…
das heteronormative liebes/modell im patriarchat ist eine menschenrechtsverletzung gegenüber allen frauen, die durch diese vorgegebene zwangsnorm zu einem leben abseits ihrer tatsächlichen bedürfnisse verdammt waren/sind. die meisten mädchen hätten sich frühzeitig nicht männern sondern frauen zugewandt, andere lebensmodelle, und zwar mit frauen gewählt. nur die gesellschaftliche norm bzw. fixierung wurde/wird rein auf männliche bedürfnisse ausgerichtet. nicht umsonst wurde uns weiblichen menschen von anbeginn und mit gewalt eingebläut “er soll dein herr sein”.
“und wer liebt mich??! wenn alle menschen frauen lieben ... - wer braucht heterosexualität” fest steht, dass männer sie brauchen. nicht ihre eigene, denn die ist ihnen sowieso natürlich - aber die weibliche heterosexualität brauchen sie, damit ihre eigene nicht ins leere pufft. da heterosexualität dem weiblichen geschlecht aber nicht natürlich ist, wird sie erzwungen”
(auszug aus “feminismus - heterosexualität - homosexualität” von judith offenbach, abgedruckt in “feminismus - inspektion der herrenkultur” von LFP (1983)) .
ein wichtiges buch, das ich allen frauen unbedingt empfehlen kann.
nicht er soll dein herr sein, sondern sie soll deine lebens- und liebespartnerin sein.
“liebe deine nächste! wir leben im patriarchat, und gewalt gegen frauen, ob brutal oder subtil, ist für jede von uns alltägliche erfahrung. immer mehr frauen begreifen ihre heterosexualität als das, was sie ist: resultat einer permanenten dressur und gehirnwäsche, an ihnen vollzogen ausschliesslich im interesse des mannes. es ist schwer, so früh andressierte verhaltens- und denkweisen zu durchschauen und abzulegen angesichts weiterhin herrschender patriarchaler macht. aber es ist möglich, und dafür müssen patriarchale machtstrukturen zerbröckeln.
Die Schwesterseele, die Paula Modersohn-Becker noch i.d. ehe zu finden hoffte, weil mann ihr nichts anderes beigebracht hatte - sie ist dort nicht zu finden, weil die ehe eine patriarchale institution ist.
sie ist, wie der name schon sagt, zu finden in der beziehung zu einer Schwester.” (judith offenbach, ebd.)
danke an LFP - llg Anne
24.04.2010 um 22:00 Uhr Dürr
Als ich vor x Jahren dieses Goethe Ge-(un-)dicht gelesen habe, schüttelte ich den Kopf und dachte: Mei, der hatte aber s’Reissen! Wie kann mann nur von einem Fröheli (schweizerdeutsch für Veilchen und abgeleitet von fröhlich, froh sein) auf einen Frauenbusen kommen und gleich auch noch sterben wollen durch einen Mädchenfuss. Aber Männer scheinen wirklich immer nur an das Eine zu denken und schreien ihre erotischen Phantasien auch gleich noch in die Welt hinaus. Das nennt mann dann Dichtung. Goethe hätte da wirklich eine Dichtung nötig gehabt, aber eine aus Flüssigkeits dichtendem Gummi und einen Tritt ganz wo anders hin durch den Mädchenfuss! ;-)
lg Dürr