Empfehlungen Sabine Haupt, “Bienenkönigin Blaue Kreise” Roman, und (Hg.) “Wege durch finstere Zeiten. Afghanische und Schweizer Texte über Flucht und Asyl” 2025. Sammelrezension von Rolf Löchel
Sabine Haupt, “Bienenkönigin Blaue Kreise” Roman, und (Hg.) “Wege durch finstere Zeiten. Afghanische und Schweizer Texte über Flucht und Asyl” 2025. Sammelrezension von Rolf Löchel
Sammelrezension von Rolf Löchel
Schon mehrfach hat die emeritierte deutsch-schweizer Titularprofessorin für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft mit eigenen literarischen Erzeugnissen von sich reden gemacht. So etwa mit den Romanen Der Blaue Faden. Pariser Dunkelziffern (2018) und Lichtschaden. Zement (2021) sowie den Erzählbänden Blaue Stunden (2015) und zuletzt Die Zukunft der Toten (2022).
Nun hat sie unter dem Titel Bienenkönigin. Blaue Kreise wiederum einen Roman folgen lassen, der nicht weniger ausgefeilt, vielschichtig und voller teils verfremdeter historischer Anspielungen ist wie ihre bisherigen literarischen Werke. Kurz, er ist ebenso hochgebildet, originell und damit lesenswert wie seine Vorgänger. Zudem enthält er Elemente der Science Fiction und des Schauerromans. Die Anklänge an die Science Fiction sind in Haupts literarischem Œuvre allerdings kein Novum, hat sie doch schon einmal eine Gerichtsverhandlung in die Zukunft verlegt. Diesmal aber geht es um eine neu gezüchtete Spezies, die sich hier und heute in fast höhlenartig zu nennenden Gewölben unter einem eher unscheinbaren Gebäude breit macht. Die Atmosphäre eines Schauerromans entsteht hingegen fast wie aus dem Nichts, wenn die Protagonistin einen Raum betritt und sich „schlagartig in eine fremde, schattenhafte Welt versetzt [fühlt], in der Maßstäbe aufgehoben, Dimensionen verschoben, Naturgesetze außer Kraft gesetzt schienen“ (228).
Der Roman wartet mit zwei recht unterschiedlichen Erzählebenen auf. Da sind zum einen 20 kurze, durchnummerierte Abschnitte mit der immergleichen Überschrift Blauer Kreis und zum anderen ebenso viele, weit umfangreichere, nicht durchgängig linear erzählende Kapitel, die unter verschiedenen Überschriften stehen. Beide Erzählebenen unterscheiden sich zudem dadurch, dass sie in unterschiedlichen Schrifttypen gesetzt sind, doch gleichen sie sich darin, dass Haupt in beiden Landschaften, Orte und Gebäude vor dem inneren Auge der Lesenden aufscheinen lässt. Wichtiger aber noch ist, wie sie es versteht, Stimmungen zu erzeugen.
In den blauen Kreisen meldet sich eine Ich-Erzählerin zu Wort, die sich in kleinen Glückseligkeitsphantasien aus ihrer Kindheit und ihrem Alltag ergeht, bei denen es sich vielleicht aber auch um real erinnerte Momente handeln könnte, die erinnernd allerdings verfremdet werden. So etwa ein Augenblick des Liebesglücks, in dem ein Mensch zum Geliebten wird und dieser Liebhaber mit dem – natürlich romantischen – Mond verschmilzt. Im Laufe der Lektüre kristallisiert sich heraus, dass die Ich-Erzählerin der blauen Kreise mit der Protagonistin der anderen Erzählebene identisch ist.
Es handelt sich um eine 66 Jahre alte Historikerin, die bis vor kurzem als Mitarbeiterin der UNESCO durch die Lande zog, um potentielle Weltkulturerbestätten ausfindig zu machen und diese zu bewerten. Um die infrage kommenden Gebäude zu dokumentieren, wurde sie im Laufe der Zeit von verschiedenen Fotografen begleitet, die sich als austauschbar erwiesen – auch, wenn sie mit ihnen die Hotelbetten zu teilen pflegte. Derart entindividualisiert, nennt die Protagonistin sie der Einfachheit halber alle bei dem gleichen Namen, den sie allerdings nicht einmal richtig erinnern kann. Mit einem von ihnen stößt sie im französischen Zentralmassiv in einem abgelegenen Dorf, über dem „Trostlosigkeit […] wie ein schweres, muffiges Tuch [liegt]“ (153), auf einen Imker, der in einem unscheinbaren Hof lebt und merkwürdige Bienen züchtet, die einen ganz besonderen Honig liefern.
Unzufrieden mit ihrer Arbeit und überhaupt dem Dasein an sich, kehrt sie bald darauf ihrem Job und allem anderen den Rücken und zieht in ein blaues Haus, das ihr auf einer ihrer UNESCO-Fahrten als wunderschön aufgefallen war. Es gehört der Künstlerin Thérèse, die einen ganz eigenen Stil kreiert hat, den sie Anarchorealismus nennt, denn „die Freiheit der Kunst“ sei „nichts anderes als die Freiheit der Wirklichkeit“ (124). Ansonsten lebt sie nach dem Motto „Hauptsache blau“ (204) und erzählt mal mehr, mal weniger glaubwürdige, jedenfalls aber sehr widersprüchliche Geschichten über ihren verstorbenen Gatten.
In Thérèses blauem Haus lebt die Protagonistin davon, dass sie fiktionale Briefe aus der Korrespondenz zwischen dem historisch realen Schweizer Physiologen Jean Louis Prevost und dem historisch ebenso verbrieften französischen Chemiker Jean Baptiste Dumas transkribiert. Die beiden lebten zu der Zeit, als in der Präformationslehre eine heftige Auseinandersetzung zwischen ovulistischen und animakulistischen Positionen entbrannt war. In dem um die Wende zum 19. Jahrhunderts ausgefochtenen Streit ging es um die Frage, ob das weibliche Ei oder das männliche Spermium das künftige Lebewesen ‚präformiert’. Die beiden Forscher „befassten“ sich ebenso wie einige Jahrzehnte zuvor bereits Charles Bonnet mit „Androgenese“, also „dem Gegenstück zur Parthenogenese“ (74). Prevosts mikroskopische Beobachtungen von „Samenfäden“ (86) ließen ihn laut fiktionaler Korrespondenz hoffen, dass sich Spermien zweier Männer unter günstigen Umständen miteinander verbinden können und so ganz ohne die Inanspruchnahme einer Frau Nachkommen entstehen würden, weshalb die wissbegierigen Männer zu rein wissenschaftlichen Zwecken fleißig onanierten. Zweifellos waren die Versuche der beiden Herren höchst untauglich. Doch ist es seit jüngstem keineswegs mehr ein reiner Wunschtraum einiger Schwuler, Nachkommen zu haben, die zwei Männer ihre biologischen Väter nennen können. Und dabei ist keineswegs an „schwangere Transmänner“ (75) zu denken.
Ann Ratcliff, die Auftraggeberin der Transkriptionen weiß von dieser allerjüngsten, bislang allerdings nur an Tieren bzw. deren Spermien erprobten Errungenschaft der Reproduktionsmedizin noch nichts und findet, „die ungeschlechtliche männliche Fortpflanzung [wäre] doch mal eine echte Abwechslung auf dem Gebiet der entkräfteten Naturgesetze“ (ebd.). Sehr viel später meint eine andere Figur des Romans aus gegebenem Anlass sehr zu Recht „die liebe Reproduktionsfrage“ sei „der Kern der Selbstbestimmung, nicht nur bei Frauen“ (266).
Neben realen Figuren der Wissenschafts- und sonstigen Geschichte verfremdet Haupt auch philosophische Gedanken und literarische Zitate. Sartres zum kulturpessimistischen Sinnspruch avancierte Sentenz „Die Hölle sind die anderen“ (27) ist ihr sogar so wichtig, dass sie sogar noch einmal bestätigt wird: „Ja, die Hölle, das sind die anderen“ (206). Wenn allerdings in einem Mädchen-Chor alle Stimmen „ineinander aufgehen, wenn die eigene Stimme untertaucht, vom Chor der anderen umschlossen und aufgehoben wird“ (207), dann sind die anderen gerade nicht die Hölle. Im Gegenteil: Dann „wachsen wir Mädchen über uns hinaus. Dann werden wir groß und schön und uns selbst eine Andere“ (ebd.). Das ist natürlich auch metaphorisch zu verstehen.
Nietzsche wiederum kommt in der von ihm allerdings als Amor Fati begrüßten „Trostlosigkeit des Immergleichen“ (166) zu Ehren; sein Lehrer Schopenhauer wiederum in der Wendung, es „gab [nie] größeres Glück als das langsame Versickern von Schmerzen“ (186), auf das ihm zufolge allerdings die sogleich die nicht eben beglückende Langeweile einsetzt, auf die das nächste Leid folgt, das verlässlich nie lange auf sich warten lässt. An Celan wiederum gemahnt Haupts „blaue Milch des Morgens“ (159) und an einen ihrer eigenen Erzählbände der Wunsch, „den Toten eine Zukunft geben“ (166). Auch des von Schopenhauer verachteten Konkurrenten Hegel wird in einem Zitat gedacht. Damit sind noch längst nicht alle der ebenso zahl- wie geistreichen Anspielungen der Autorin genannt.
Sabine Haupt wäre jedenfalls nicht Sabine Haupt, wenn der Name einer ihrer Figuren nicht ganz wie der einer ihrer schriftstellernden Kolleginnen klänge, die auf dem Gebiet der Gothic Novel reüssierte, und dies just zur Zeit von Prevost und Dumas (nicht dem Älteren oder dem Jüngern, sondern dem Chemiker). Nur die Schreibeweise unterscheidet den Namen der Figur von dem der Schauerromantikerin. Thérèse wiederum meint, Mary Shelley – ebenfalls eine Zeitgenossin von Prevost, Dumas und Ann Radcliffe – habe mit ihrem Frankenstein (1818) „überhaupt nichts erfunden. Diese Kerle mit ihren Doktorspielen hat es damals hier überall gegeben“ (87).
Zwar fühlt sich die Protagonistin in Thérèses blauem Haus ausgesprochen wohl, doch weil sie – wie begründet auch immer – befürchtet, sie könne wegen Mordes verfolgt werden, flieht sie zu Jean-Luc, dem Imker mit den ominösen Bienen. Dessen Haus ist zwar nicht blau, doch scheint es in seinen tiefsten Gewölben merkwürdig spukhaft zuzugehen.
Jean-Luc stellt jedenfalls nicht viele Fragen und nimmt sie unentgeltlich auf. Allerdings muss sie dafür verschiedene Arbeiten übernehmen, zu denen nach einiger Zeit auch die Aufsicht über seine riesigen „blaue[n] Blutbienen“ (117) gehört. Denn nicht sie, sondern er ist ins Gefängnis gekommen – allerdings nicht wegen Mordes, sondern aufgrund einer Belanglosigkeit. Bevor es aber soweit ist, taucht unvermutet Jean-Lucs Sohn Felix auf, der sich als Pick-up-Artist vorstellt und nach einiger Zeit einer sexuellen Beziehung zu der etliche Jahrzehnte älteren Protagonistin ebenso wenig abgeneigt ist wie diese. Ansonsten betreibt er in einem aufwändig zur Fotokammer umfunktionierten Nebengebäude apparatlose Fotografie und spricht Drogen zu. Möglicherweise sind sie die Ursache dafür, dass er Stimmen hört. Genauer gesagt nur eine: die des Antichristen, der ihm einen „Ich-Roman“ (209) diktiert hat, weshalb er sich als „Schreibmaschine des Teufels“ (208) bezeichnet. Das Manuskript, das ihm der Satan eingeflüstert hat, erweist sich letztlich als etwas wirrer Sachtext über „Gedanken- und Fluidalfotografie“ (214), der unvermittelt abbricht.
Nach diesen schlaglichtartigen Einblicken in Handlung des Romans, scheint es schlechterdings undenkbar, dass Glück eines seiner zentralen Themen ist, zumal es an einer Stelle heißt „über das Glück gibt es nichts zu sagen […]. Es ist langweilig und macht jede Geschichte kaputt“ (58). Haupts Roman beweist allerdings das Gegenteil, ohne dass eine der Figuren sonderlich glücklich zu nennen wäre.
Und was das Blau der Kreise betrifft, so spielt es nicht nur in etlichen literarischen Werken der Autorin eine mal größere, nie aber ganz kleine Rolle, sondern ist auch von vielfältiger Symbolik. So ist es zwar nicht die Farbe der Hoffnung, aber – unter anderem – die der Ferne und der Sehnsucht. Sie ist die Farbe des Himmels und des Meere, der Wahrheit, aber auch des Irrealen/Göttlichen und nicht zuletzt die der Treue. Dabei gilt sie als rein, immateriell und kühl. Im Roman selbst heißt es einmal, „das Blaue“ sei „nicht nur böse und gefährlich“, sondern „auch magisch und stark, vor allem aber ist es schön“ (308).
Erwähnt werden sollte auch die feministische Haltung der Protagonistin, die sich nicht nur gegen die „Machotypen“ wendet, „die sich überall breit machen“, sondern auch gegen jene „jungen Frauen“, „die ihren Gender-Trouble zu überwinden meinen, indem sie sich selbst mit Testosteron verseuchen, sich den Bauch zunähen und die Brüste abschneiden ließen, Vornamen und Personalpronomen wechselten, um künftig von anderen als Dreckskerl, Boss, Biker oder Gangster wahrgenommen zu werden“ (31). Ebenso „[ange]widert“ ist sie von der „Sucht nach Ich-Sein, Abgrenzung, Identität“ (210). Auch beklagt sie, dass „Trauriges, Hässliches oder sonst Unerwünschtes […] kurzerhand umbenannt, wegoperiert oder mit Triggerwarnungen versehen [wird]“ (263). Die mit ihrem Feminismus einhergehenden Herrschaftsphantasien werden allerdings sogleich (selbst-)ironisch gebrochen, wenn sie sinniert: „Warum nur kamen immer die falschen Verbrecher an die Macht? Sie selbst wäre eine grandiose Diktatorin gewesen“ (31).
Feministisch engagiert ist sie allerdings nicht. Zumal sie „alle Revolten“ für „anrührend und hilflos“ (283) erachtet. Vielleicht nicht ganz d’accord damit geht Jean-Luc, der einmal angesichts der Welt und des Daseins und weil „immer die Falschen [sterben]“ meint, es sei „zum Heulen und irgendwie auch zum, nun ja, Rebellieren“ (235). So endet der Roman nach weiteren einhundert Seiten melancholisch, wehmütig – und womöglich mit einem Hoffnungsschimmer.
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Sabine Haupt ist allerdings nicht nur eine bedeutende Literatin, sondern engagiert sich auch menschenrechtlich. Genauer gesagt, macht sie sich seit Jahren in einer von ihr initiierten Aktion des PEN-Zentrums deutschsprachiger Schriftsteller im Ausland für die Rettung afghanischer Intellektueller stark, deren Leib und Leben durch die Taliban bedroht ist. Bis heute ist es ihr und ihren MitstreiterInnen bereits gelungen, zahlreiche Menschen aus der talibanischen Tyrannei zu befreien, ihnen die Einreise in die Schweiz, in einigen Fällen auch nach Deutschland zu ermöglichen und dafür Sorge zu tragen, dass ihnen dort Asyl gewährt wird.
Aus diesem Engagement ist nun ein Buch hervorgegangen, als dessen Herausgeberin Sabine Haupt zeichnet. Laut Untertitel versammelt es mehr als sechzig „Texte über Flucht und Asyl“. Verfasst wurden sie von Haupt und ihren MitstreiterInnen, vor allem aber von Geflüchteten. Neben den Beiträgen enthält der Band zahlreiche farbige Illustrationen aus der virtuellen Kunstausstellung Hidden Statement – Art in Afghanistan.
Unter der Überschrift „Das Boot ist leer“ (13) beklagt Haupt in der Einleitung, dass „das gesamte [Asyl-]System […] darauf angelegt [ist], möglichst niemandem Schutz zu gewähren, den humanitären Schein aber zu wahren“, und begründet ihre Initiative zur Rettung afghanischer Intellektueller damit, dass es angesichts des Taliban-Terrors nicht damit getan ist, „gute und kluge Bücher zu schreiben, Reden zu halten, Resolutionen zu verfassen und Petitionen zu lancieren, um der kulturellen und mentalen Verrohung etwas entgegenzusetzen“ (16).
Die Texte der Geflüchteten gleichen sich darin, dass sie immer wieder ihre große Dankbarkeit gegenüber Sabine Haupt und deren MitstreiterInnen zum Ausdruck bringen. Ansonsten haben sie allerdings höchst unterschiedliche Beiträge verschiedener Textsorten beigesteuert. Unter ihnen etwa Berichte aus der Zeit der ersten und aus derjenigen der zweiten Taliban-Tyrannei sowie aus der Zeit zwischen beiden Tyranneien. Andere schreiben über ihre eigene Fluchtgeschichte oder ihre Erfahrungen in der Schweiz; wieder andere haben Essays verfasst, Kurzgeschichten, Gedichte und sogar – was manche überraschen mag – Satiren.
Shabnam Simia blickt etwa auf ihre Zeit in Kabul zurück, wo sie von der Staatsanwaltschaft „als Expertin für Terrorismusbekämpfung ernannt“ (112) worden war und die „Aufgabe“ hatte, „abschließende Stellungnahmen zu Fällen abzugeben, die unter der Verantwortung verschiedener Strafverfolgungsbehörden standen“ (113). Gegen Ende ihrer offiziellen Tätigkeit hatte sie „mehr Angst vor der Verschwörung der korrupten Chefankläger als vor den Taliban-Attentaten, denen viele unserer Kolleg:innen zum Opfer fielen“ (ebd.). Kein Wunder also, dass sie nach der neuerlichen Machtübernahme durch die Taliban in ein sicheres Land floh.
Nicht anders Marzia Amiri, die als Hebamme in einer von Ärzte ohne Grenzen betriebenen Geburtsklinik in Dasht-e-Barchi arbeitete, die allerdings nach einem am 12. Mai 2020 durchgeführten Terroranschlag, bei dem zahlreiche Kolleginnen, (werdende) Mütter und ihre Neugeborenen ermordet wurden, geschlossen werden musste. Die Klinik war ein Ziel der Terroristen, weil das Afghanistan der Taliban „grundsätzlich […] den Männer [gehört]“, und darum alleine schon, „Kinder zur Welt zu bringen, […] zu einer Form des Widerstands“ (135) wird.
Mohammad Baqiryan informiert hingegen über „Frauen in der zeitgenössischen Literatur Afghanistans“ und legt dar, dass sich die „stark von traditionellen, patriarchalen und religiösen Strukturen geprägt[e]“ (175) Gesellschaft Afghanistans auch in der Literatur widerspiegelt – und, so wäre anzufügen, oft auch in den Texten der Geflüchteten. Angesichts der wechselhaften Geschichte des Landes wundert es nicht, dass „die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts […] die Blütezeit weiblicher Präsenz in der afghanischen Literaturgeschichte [markieren]“ (177). Auch begann sich in dieser Zeit eine „feministische, theoriebasierte Literaturwissenschaft [zu] entwickelt[n]“ (183).
Die Schweizerin Isolde Schaad wendet sich nicht schreibenden Erwachsenen, sondern lesenden Mädchen zu und erläutert, warum sie für die Taliban und andere patriarchale Terrorherrscher gefährlich sind, während Martina Läubli den Lesenden mitteilt, was sie über „die erste Dichterin persischer Sprache“ (205) in Erfahrung brachte. Sie hieß Rabia Balkhi und lebte im 10. Jahrhundert. Schon damals setzte sie „Poesie gegen Gewalt“ (208). Zwar sind kaum Texte von ihr überliefert, doch „in der Volkskultur Afghanistans ist die Erinnerung an Rabia Balkhi bis heute lebendig“ (206). Kazim Hamidi berichtet ähnlich eindrucksvoll über das Afghanistan Center der Universität Kabul und Najibah Zartosht informiert über die ebenso gefährdete wie wichtige Onlineplattform Afghanistan Women’s Voice, die sich seit der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 für die Rechte afghanischer Frauen stark macht. Die Plattform schildert „die Geschichte der afghanischen Frauen prinzipiell aus der Perspektive des Protests und des Widerstands und nicht aus der Sicht der Opfer“ (279). Dragica Rajčić zeigt am Beispiel eines längeren Tagebucheintrags einer „mit ihrem gewalttätigen Mann nach Deutschland geflüchtet[en]“ Afghanin, dass Gewalt nicht nur „soziale Systeme“ und „gesamte Gesellschaften [durchzieht]“, sondern „auch an Einzelnen verübt“ (213) wird.
Die bekannte Schweizer Schriftstellerin Milena Moser wiederum berichtet davon, wie Schikanen bei ihrer Einreise in die USA „Haarrisse“ in ihrer privilegierten „Arroganz“ (311) aufbrechen ließen, und stellt sich vor, wie viel schlimmer es gewesen wäre, wäre sie als flüchtende aus Afghanistan angekommen. Daniel de Roulet wirft die selbstzweiflerische Frage auf, „mit welcher Berechtigung“ er sich „mit denjenigen solidarisch erklären [kann], die sich vom Joch der Taliban befreien wollen“ (316). Stellt sich jedoch nicht viel eher umgekehrt die Frage, mit welcher (ethischen) Berechtigung jemand diese Solidarität verweigern kann?
Wie nicht anders zu erwarten, sind die in dem Band versammelten Texte von unterschiedlicher literarischer Qualität, hingegen ist es erstaunlich, dass alle Beteiligten mit dem Binnen-Doppelpunkt gendern, ja, dass überhaupt gegendert wird, zumal die Texte der AfghanInnen aus deren jeweiliger Muttersprache übersetzt wurden. Oder sollte (den ÜbersetzerInnen) diese Formalie vorgegeben gewesen sein, die natürlich weit mehr als nur eine Formalie, nämlich eine inhaltliche – und politische – Positionierung ist? Eine offene Frage, die allerdings von ebenso nachrangiger Bedeutung ist wie die literarische Qualität der Beiträge. Wichtig und entscheidend ist hingegen die Eindrücklichkeit der Berichte.
So sind sowohl Haupts neuer Roman wie auch der von ihr herausgegebene Sammelband vorbehaltlos zur Anschaffung und zur Lektüre zu empfehlen – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen.
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