Fembio Specials FemBiografien von Annette Otterstedt (1951-2020) Olga Adelmann
Fembio Special: FemBiografien von Annette Otterstedt (1951-2020)
Olga Adelmann
geboren am 2. Oktober 1913 in Berlin
gestorben am 8. Mai 2000 in Berlin
erste Geigenbaumeisterin der Welt
110. Geburtstag am 2. Oktober 2023
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Olga Adelmann, die von sich selber immer nur als “Olli” sprach, wurde am 2. Oktober 1913 in Berlin-Mariendorf als zweites Kind der Malerin Adela Dorothea Adelmann-Reuther und des Ingenieurs Leonid Adelmann geboren. Die Geschwister waren ein älterer Bruder, der im Zweiten Weltkrieg umkam, und eine drei Jahre jüngere Schwester.
Anscheinend hatte sie eine glückliche Kindheit, denn in einem frühen Lebenslauf schreibt sie:
“Das Leben zu hause war so schön, daß mich die Schule wenig interessierte.”(1)
Trotzdem war sie anscheinend eine gute Schülerin, die ihren Lehrern als ungewöhnlich begabt auffiel. Ein Gutachten eines Lehrers aus dem Jahr 1933 bezeichnet sie als “zweifellos die bei weitem begabteste Schülerin wie die ausgeprägteste und eigenartigste Persönlichkeit”. Sprachen lagen ihr nicht, aber “Denkfähigkeit”, “menschliche Reife”, “Einfühlungsvermögen” und eine mathematische Begabung wurden ihr ebenso attestiert wie manuelle Geschicklichkeit und scharfe Beobachtungsgabe.(2) Sie hatte Interesse an allem Sonderbaren und war sehr musikalisch. Allerdings scheint sie von Stimmungen abhängig gewesen zu sein, die ihre Aufnahmefähigkeit und ihr Leistungsvermögen beeinträchtigen konnten. Sie galt als ernst und schweigsam, aber freundlich und kooperativ.
Die Begabungen der Eltern verbanden sich in ihren Interessen: Sie malte viel und interessierte sich für die Werkstatt ihres Vaters. Einmal schnitzte sie sich aus Bambusrohr eine Flöte, die anderthalb Oktaven hergab, aber leider in der Winterkälte platzte. Auf einer Ferienreise nach Schlesien fehlte dort ein Notenständer, den sie kurzentschlossen aus Brennholz schnitzte. Ihr Schuldirektor legte Wert auf ein Schulorchester und regte sie an, Cello zu lernen, was sie bis ins hohe Alter spielte.
Nach dem Abitur 1934 lernte sie anläßlich einer Reparatur an ihrem Cello die Geigenbauwerkstadt des Berliner Geigenbauers Otto Möckel kennen, und hier fing sie Feuer: Geigenbau! Möckel war dagegen. In einem späteren Lebenslauf schreibt sie lakonisch: “Seinen Widerstand konnte ich besiegen”.
In Wirklichkeit sah die Sache nicht ganz so einfach aus: “Möckel baute Geigen. Ich sah ihm bei der Arbeit zu. Das war mir alles so neu und interessant, daß ich kurzentschlossen den Plan faßte, auch Geigenbauerin zu werden. Als ich das dem Meister sagte, lachte er mich aus. Doch als er merkte, daß ich es ernst meinte, lud er mich in ein Café ein und redete stundenlang auf mich ein, mit der Absicht, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Er wies auf die damals schlechte Lage im Geigenbau hin, sprach mir die erforderliche Kraft und Geschicklichkeit, die das Handwerk in der Bedienung der Werkzeuge erfordert, ab, und betonte, daß in diesem Fach bisher nur Männer gearbeitet hätten. Aber ich blieb hart, so daß er sich schließlich dazu bereit erklären mußte, es probeweise mit mir zu versuchen. Ja, und dann hat er gestaunt. 'Ist doch kaum zu glauben, wie diese kleine Krabbe mit Hobel, Säge, Leimtopf und Meßwerkzeugen umzugehen versteht', war seine ständige Rede.”(3)
Ihre Angst, daß Möckel sie nach der Probezeit entlassen würde, war unbegründet. 1937 ermunterte er sie, die Gesellenprüfung zu machen, die sie mit Bravour bestand. Dann ging sie auf Wanderschaft, oder, wie es eine Zeitung formulierte, “ein romantisches Trampmädel: Mit wenig Gepäck und ihrer Gesellenstückgeige machte sie sich also auf den Weg. Und da man auch im 20. Jahrhundert durchaus noch Sinn für Romantik haben kann, begann sie zu wandern. Das heißt besser gesagt, sie autowanderte, und als mutiges, junges Tramp-Mädel kam sie von Auto zu Auto überall dahin, wohin sie nur wollte.”(4) Sie driftete von Stadt zu Stadt auf der Suche nach einer Anstellung, aber keiner wollte das Mädchen haben. Einer meinte sogar: “ich werde mir doch nicht meine eigene Konkurrenz großziehen”! (5) So kam sie nach Cremona und lernte italienische Geigen im Original kennen, sowie ein anderes Original, in das sie sich heftig verliebte, und das sie lebenslang verehrte: Simone Sacconi, damals ein junger Geigenbauer, der später nach New York zu Rembert Wurlitzer ging und als der Große Kenner aller Stradivaris in die Geschichte eingegangen ist. Die Begegnung mit Sacconi prägte ihr Leben – emotional und fachlich.
Aber eine Stelle fand sie nicht und war froh, wieder in Berlin unterzukommen bei Curt Jung, dem Nachfolger ihres kürzlich verstorbenen Mentors Möckel. Bei ihm blieb sie bis 1940 als Angestellte, zusammen mit Lehrling “Karlchen”.
Als der Krieg ausbrach, wurde Jung als Soldat eingezogen, und “Karlchen brauchte einen Meister”. “Denn sehen Sie, wir hatten doch Karlchen in unserer Werkstatt, unseren Lehrling … und da es bei uns im Handwerk mit dem tüchtigen Nachwuchs so eine Sache ist und wir ihn auf jeden Fall bei uns behalten wollten, da aber andererseits ein Lehrling nicht ohne Meister sein darf, habe ich mich eben entschlossen, meine Meisterprüfung zu machen.”(6) Die Idee, daß sie eigentlich nur die Meisterprüfung machte, um “Karlchen” die weitere Ausbildung zu ermöglichen, klingt in mehreren Zeitungsartikeln an, und es ist heute nicht mehr zu klären, ob sie es wirklich so meinte, oder ob den Journalisten an der 'Gehilfinnenrolle' gelegen war. Kurios mutet es schon an, daß sie zwar von Stadt zu Stadt zog und niemand für sie Verwendung hatte, aber in der Berliner Werkstatt angeblich unverzichtbar war – und das auch noch, weil sie dem Zweck eines kleinen Jungen dienen mußte.
So machte sie im Jahr 1940 die Meisterprüfung. Das fand ein lebhaftes Medienecho. “Tüchtiger Nachwuchs in einem alten Handwerk: ein Mädchen geht auf Wanderschaft” (Grunewald Echo), “Wir besuchen die erste deutsche Geigenbaumeisterin” (Marie Luise), “Frauen auf goldenem Boden” (Elegante Welt), “alte Kunst in jungen Händen” (Illustrierter Telegraf), “Beseeltes Holz durch Frauenhände” (Der Sozialdemokrat), “Ein weiblicher Amati?” (Wir Hausfrauen), “Es gibt nur eine Geigenbaumeisterin auf der Welt” (Die Neue Zeitung), “Meisterin der Töne” (Nacht-Express), “Olgas Himmel hing voller Geigen” (Nachtdepesche Berlin), “Zauberin der Töne” (Telegraf Berlin-Lichterfelde) – die Palette reicht von 1940 bis 1957.
Olga, zuweilen in “Abelmann” entstellt oder als “Olli” apostrophiert, tauchte reichlich in der Presse auf. Sie war bildhübsch, und mancher von diesen interviewenden Herren wunderte sich: “Und wenn vorher einer kommt und sagt: 'Olli, du wirst meine Frau!?' 'Damit hat's noch lange Beine. Im übrigen' – lachend holt sie einen Brief aus der Handtasche – 'da ist ein Heiratsantrag von einem Geigenbauer, den ich gar nicht kenne! Noch nicht. Ich will erst meine Meisterprüfung machen und dann – vielleicht wird's mal ein Geigenbauer – eröffne ich eine eigene Werkstatt.'”(7)
Mit dem Lieben war sie fleißig – “eine heiße Person” nannte man sie noch mit achtzig –, aber mit der eigenen Werkstatt haperte es, denn sie verlor ihre Werkzeuge bei Bombenangriffen. So ging sie notgedrungen als Gehilfin zu Georg Ullmann, einem anderen Berliner Geigenbauer. Die Gazetten bemerken dazu: “Tüchtiges Mädchen führt die Werkstatt, während der Besitzer im Felde ist.”(8) Ganz so war es nicht: Ullmann brachte sich selber mit seiner Familie in Bad Elster in Sicherheit und überließ seiner Gehilfin die Arbeit im gefährlichen Berlin. Überdies wurde sie von Ullmann sexuell belästigt, was sie in ihrem Lebenslauf diskret umschreibt mit “weil mir Georg Ullmann als Chef nicht angenehm war”.
Um Ullmann nach Kriegsende nach Berlin zu holen, fuhr sie auf Zugdächern zu ihm. Da sie sich ohnehin selbständig machen wollte, bot sie Ullmann eine Partnerschaft an, bis sie selber wieder ausreichend Werkzeug bekommen konnte. Sie schreibt: “Das paßte ihm aber garnicht. Mit Hilfe eines Rechtsanwaltes versuchte er, mich zu überrumpeln, um mich vertraglich festzuhalten, denn er war es gewohnt, stets mit einem Gehilfen zu arbeiten und bedient zu werden. Es kam zu einem Krach. Ich blieb noch zwei Wochen, um die von mir angenommenen Reparaturen auszuführen. Dann fuhr ich, wiederum auf Zugdächern bis Markneukirchen, wo ich mir hier, da und dort Werkzeug und Reparaturholz beschaffen wollte. Einiges konnte ich kaufen, das meiste bekam ich geschenkt! Kleinigkeiten fehlten mir noch, Werkzeuge, von denen ich wußte, daß Georg Ullmann sie überzählig hatte. Ich ging zu ihm und zeigte ihm einen Brief, in dem er mir nach dem Verlust meines Werkzeugs versprochen hatte, mir mit Werkzeug auszuhelfen, wenn ich es benötigte. Ich bat um das Wenige, was mir noch fehlte. Er aber hatte fest damit gerechnet, daß ich nicht genug zusammenbekommen und darum zu ihm zurückkehren würde. Mit dem verzweifelten Ausruf: 'Dann haben Sie ja fast alles bekommen!' gab er mir das erbetene Werkzeug. Das war meine letzte Begegnung mit ihm.”
Adelmann zog 1945 in die Augsburger Straße in Berlin-Wilmersdorf in ein Haus ohne Dach, dichtete mit Hilfe eines Freundes die Lücken mit alten Türen und Bauschutt ab und begann ihre Werkstatt. Da traf sie ein Verlust, den sie ihr Leben lang nicht verwinden konnte: Sie hatte ihr Meisterstück, eine Violine nach Amati, einem Geiger geliehen, der behauptete, sie sei ihm von amerikanischen Soldaten gestohlen worden. In Wirklichkeit hatte er sie verkauft. Noch Jahrzehnte später trauerte sie um diese verlorene Geige. 1949 nahm sie mit einer Violine teil am Geigenbauwettbewerb in Cremona.
Fröstel- und Hungerjahre nach dem Krieg
Sie fand eine Werkstatt in der Ansbacher Straße in Berlin-Tiergarten im 4. Stock und bemerkt dazu: “Bis zur Währungsreform ging auch alles recht gut. Keiner scheute die Mühe des Treppensteigens, wenn er nur etwas bekam. Als sich nach der Währungsreform die pekuniären Verhältnisse allmählich normalisierten, verebbte der Kundenstrom nach und nach. Wer wollte noch vier Treppen steigen, wenn er es bei den inzwischen zurückgekehrten Geigenbauern bequemer haben konnte? So kam ich in Schwierigkeiten…”(9) Daß es auch etwas mit ihrem Frausein zu tun hatte, daß die Kunden ausblieben, nachdem die Männer aus den diversen Kriegsgefangenschaften zurückgekehrt waren, wurde ihr zwar mündlich permanent vermittelt, aber sie blendete es aus ihrem Bewußtsein aus.
Sie mußte 1950 ihre Werkstatt schließen und befand sich mittlerweile in einer ziemlich verzweifelten Situation, vor allem, da auch ihre Mutter und ihre Schwester von ihrem Verdienst abhingen. So war sie froh, als Angestellte des Gitarrenbaumeisters Roger Roßmeisl unterzukommen, bei dem sie 1951-53 blieb. “Er staunte über die viel ältere Meisterin, nahm mich aber sofort an. Mein Lohn war zwar minimal, aber da ich Samstags frei hatte, konnte ich zu Hause noch ein paar alte Kunden bedienen und kam so, mehr schlecht als recht, über die Runden.” Aber Roßmeisl stieg der Erfolg zu Kopf; er begann auf großem Fuß zu leben und sich zu verschulden, und eines Tages machte er sich davon in die USA, wo er in der prominenten Gitarrenfirma Gibson eine Anstellung erhielt und Karriere machte.
Zurück blieben seine Angestellten, die von seiner Flucht völlig überrascht waren. Dabei kam heraus, daß Roßmeisl kaum Arbeitslosenversicherung gezahlt hatte; Adelmann saß auf dem Trockenen und brachte sich mühselig durch mit Gelegenheitsarbeiten, die sie von Kollegen übertragen bekam – schwarz und heimlich. “So lebten wir mit dem Gefühl, daß wir eigentlich gar nicht leben durften”, meint sie. Dieser Zustand dauerte bis 1956. Über diverse Kanäle wurde sie dann vermittelt an das Musikinstrumenten-Museum.
Dieses war vor dem Krieg eine der bedeutendsten Sammlungen der Welt unter dem Direktor Curt Sachs, dem Begründer der modernen Instrumentenkunde (Organologie) und Autor zahlreicher, bis heute aktueller Standardwerke. Er mußte 1933 emigrieren, wurde Professor in Harvard und kam nie zurück. Durch den Krieg waren von den einstmals 4000 Instrumenten nur noch 700 übrig, und viele davon in desolatem Zustand. Diese Anstellung war für sie “das größte Glück meines Lebens”, und sie machte sich daran, unter der Leitung des Restaurators Friedrich Ernst (“Fedja”), einem der Pioniere der Instrumentenrestaurierung, ein neues Gebiet zu erlernen. Der Verdienst als freie Mitarbeiterin betrug 300 Mark, aber sie hoffte, dermaleinst fest angestellt zu werden als Nachfolgerin von Ernst, was dann auch 1961 geschah. Hier blieb sie für den Rest ihres Berufslebens.
Im Museum wurde sie gefördert; ihre Vorgesetzten und Kollegen ermöglichten ihr Reisen und Kontakte; sie besuchte Museen im In- und Ausland, beobachtete und verglich. In diese Zeit fiel ihre erste Bekanntschaft mit jenen Instrumenten, auf denen ihr eigentlicher Ruhm beruht: den Geigeninstrumenten mit den hübschen Intarsien, die man aufgrund ihrer ungewöhnlichen Form und Bauweise für Instrumente des 16. Jahrhunderts hielt, die aber in Wirklichkeit aus dem 17. Jahrhundert stammen und unter der Bezeichnung der “Alemannischen Schule” berühmt wurden. Die Namensgebung stammt von ihrem Chef Alfred Berner, und Olga freute sich über die klangliche Ähnlichkeit von “Alemannen” und “Adelmann”.
Gleichzeitig nahm sie die Beziehung zu Sacconi wieder auf und besuchte ihn 1969 in New York. Nach Fotos hatte sie von ihm eine kleine Portraitbüste geschaffen, in Bronze gießen lassen, und brachte sie ihm mit.
Inzwischen war sie nicht mehr die kleine Gesellin, sondern eine anerkannte Fachgröße, und aus der frühen Anhimmelei wurde eine echte und tiefe Freundschaft, die von Sacconi – und nach dessen Tod von seiner Frau – herzlich erwidert wurde. Sacconi arbeitete damals an seinem Buch “I 'Segreti' di Stradivari”, und Olga fieberte der Fertigstellung entgegen. Als sie es erhielt, stellte sie fest, daß ihr Italienisch nicht ausreichte – sie sprach es ganz passabel – und fing daher an, es schriftlich zu übersetzen. Daraus wurde die Publikation “Die Geheimnisse Stradivaris”, die heute noch ein Standardwerk ist, auch wenn viele der Ansichten und Vermutungen Sacconis mittlerweile überholt sind.
1976 trat sie mit 63 Jahren vorzeitig in den Ruhestand. Ich fragte sie, warum, da sie doch aktiv und gesund sei. Sie erwiderte augenzwinkernd: “Nun ja, unser alter Direktor sagte immer: Jetzt restaurieren wir ein Instrument, und wenn es fertig ist, machen wir damit ein Konzert. Unser neuer Direktor dagegen sagte: Dann und dann ist das Konzert, und bis dahin hat das Instrument fertig zu sein. Deshalb bin ich gegangen.” Die Bedürfnisse des Instrumentes lagen für sie vor den Bedürfnissen einer effekthaschenden Eventpolitik, und sie zog daraus die Konsequenzen.
Sie fing wieder an, Instrumente zu bauen, beteiligte sich an Wettbewerben (1980 belegte sie mit einer Violine nach Stradivari den 4. Platz bei der Georg Hesse-Stiftung) und dabei kamen ihr wieder die ungeklärten Instrumente in die Quere, von denen das Berliner Museum eine Violine und einen kleinen Baß angekauft hatte, die man in den 1950er Jahren für die ältesten Geigen überhaupt hielt. Bereits während ihrer Anstellung im Museum hatte sie an diesen Instrumenten geforscht, hatte sie als Schweizer Bauweise identifiziert und datieren können. Der Name, der ihr dabei begegnete, war “Hans Krouchdaler”. Krauchthal ist ein Ort in der Schweiz, und Krouchdaler arbeitete in einem Dorf namens Oberbalm bei Bern. Dazu publizierte sie 1969 einen Artikel, in dem sie alle diese meist unsignierten Instrumente diesem Krouchdaler zugeschrieben hatte.
Jetzt, wo sie Zeit und Unabhängigkeit hatte, nahm sie sich das Thema intensiv vor, reiste, knüpfte Kontakte, fand weitere Instrumente und entdeckte dabei mit ihrem geschulten Blick, daß sie alle unmöglich von einer einzigen Hand stammen konnten. Archivstudien, teilweise unterstützt von Helfern vor Ort, brachten Instrumentenmacher ans Licht, von denen bisher nichts bekannt war. Signierte Instrumente tauchten auf, und allmählich formte sich ein Bild eines großen Komplexes von Geigenmachern vom Titisee bis nach Bern und Luzern, die alle irgendwie zusammenhingen und auf einer gemeinsamen Tradition aufbauten. Das führte zu einer Monographie, die Olgas Namen unsterblich macht: “Die Alemannische Schule. Archaischer Geigenbau im 17. Jahrhundert im südlichen Schwarzwald und in der Schweiz” (1990). Wie diese Leistung von ihrem Direktor im Vorwort geringschätzig abklassifiziert wurde, habe ich an anderer Stelle gezeigt.(12) Nicht gezeigt aber habe ich, welche Schwierigkeiten Olga hatte, das Werk bei einem Verlag unterzubringen; niemand interessierte sich dafür. Schließlich wurde es in ihrem ehemaligen Museum veröffentlicht – ohne ihre Einwilligung verändert und teilweise entstellt. Formulierungen wurden willkürlich geändert, Kapitel auseinandergerissen, und Olga war höchst unzufrieden. Hier kommt meine Mitwirkung ins Spiel, denn Olga wandte sich an mich als neue Kuratorin des Museums mit der Bitte, ihr bei einer zweiten Auflage zu helfen. Sie hatte noch mehr Instrumente gefunden und wünschte die Änderungen rückgängig zu machen. Aber sie war mittlerweile achtzig und fühlte sich zu alt. Nach einigem Zögern – auch ich hielt ihre Entdeckung für relativ unwichtig, und allenfalls von lokalem und historischem Interesse – stimmte ich zu, beschaffte mir ihr altes Manuskript und fing an zu revidieren.
Was ich mir da allerdings vorgenommen hatte, ging teilweise über meine Kräfte. Das Manuskript war mit Rotstift überschmiert und sah stellenweise aus wie ein Palimpsest. Vier Monate täglich zehn Stunden habe ich daran gearbeitet und war zuweilen so fertig, daß ich laut weinend nach Hause fuhr. Da ich das per Fahrrad bewerkstelligte, hatte ich genügend Gelegenheit zum Weinen, und ich fuhr damals über die Brache, an der heute die Station Potsdamer Platz und das Hyatt Hotel in Berlin stehen. Auf diesen Örtlichkeiten kann kein Segen ruhen, denn ich habe sie mit meinen Zornestränen getränkt. Die Zeit, die dann folgte, gehörte allerdings zu den schönsten in Olgas und meinem Leben, und am Ende stand das Standardwerk, in dem kein Satz steht, der nicht von ihr gebilligt worden ist.
Damit schloß sie ihr Leben ab.
Obwohl ich darauf bestand, daß sie, so lange sie bei Kräften war, die Korrespondenz über ihr Thema weiterführen sollte, lehnte sie ab und gab offiziell ihre Arbeit in meine Hände. Von da an baute sie rapide ab, kränkelte, hatte Gedächtniseinbußen und erlitt 1999 einen Schlaganfall und starb am 8. Mai 2000. Sie wurde am 15. Juni 2000 beerdigt und liegt auf dem Friedhof Bergstraße in Berlin Steglitz, gegenüber vom “Insulaner”.
Sie erzählte mir einmal einen Traum über ihre längst verstorbene große Liebe Sacconi, wie sie ihm begegnete und mit ihm in ein Zimmer ging, in dem ein Bett stand. Sie legten sich hinein und umarmten sich, und sie fragte ihn: “Are we going to heaven?” Worauf Sacconi antwortete: “This is heaven!” Dieser anscheinend sehr realistische Traum beglückte sie so, daß sie tagelang unter seinem Bann stand.
Sie hatte leidenschaftliche Affären bis in die Fünfziger, und noch in hohem Alter liebte sie es, mit allem zu flirten, was Hosen trug. Da mittlerweile auch Frauen Hosen trugen – vor allem sie selber – kamen auch sie in den Genuß ihrer allgemeinen Zuneigung. Die Hosen trug sie übrigens aus Trotz, nachdem sie von einer anmaßenden Kollegin einmal gemaßregelt wurde. Sie gab darauf zurück, sie würde nie wieder einen Rock anziehen, und dieses Gelübde hat sie gehalten. Sie tanzte bis ins hohe Alter und liebte es, sich zu verkleiden. Auf einem Faschingsfest erschien sie als Frosch.
Die Bedeutung ihrer Leistung
Erfindung und Geschichte der Violine gehören zu den am meisten mystifizierten Themen der Musik. Fachleute umgeben sich mit einer Aura von nur ihnen zugänglichem Spezialwissen; Spekulationen um Millionenwerte hängen daran, und die Diskussionen um Fälschungen und Echtheit werden mit hoher Emotionalität und zuweilen einem erheblichen Maß an krimineller Energie geführt. In dieses Wespennest mit neuen Funden oder Theorien zu stoßen ist nicht ohne Brisanz, und infolgedessen hat es lange keine kritische Auseinandersetzung mit dem 'Problem Violine' gegeben. Adelmanns Werk platzte in diese Szene hinein wie ein Meteor. Aber das ahnten wir damals nicht. Erst allmählich kam die Wichtigkeit ihrer Entdeckung heraus, und wie ein sich öffnender Trichter wurde deutlich, daß sich uns hier ein Fragment einer umfassenden Bautradition bot, die den gesamten nordalpinen Bereich von England bis Polen umfaßte, und die in Sachsen bis ins frühe 20. Jahrhundert üblich war. Die norwegische Hardanger Fele wird bis heute so gebaut.
Aber auch bis nach Italien reichte sie hinein, und der englische Geigensachverständige John Dilworth äußerte mir gegenüber im Gespräch, er habe den Eindruck, die einzige Bauweise, die von der alemannischen abwich, sei die von Cremona gewesen. Aus diesem Grund habe ich das “archaisch” aus dem Titel der ersten Auflage getilgt, denn diese Bauweise ist nicht archaisch, sondern normal. Warum aber wurde gerade Cremona so geschätzt, daß Claudio Monteverdi oder Heinrich Schütz diese Instrumente vor den lokalen bevorzugten? Die Antwort liegt in statischen Details.
Bei der alemannischen Bauweise bestehen Hals und im Corpus befindlicher Oberklotz aus einem Stück, und der Oberklotz wird mit einem Dübel auf einem im Boden stehengelassenen Plateau verankert. Eine Innenform wird nicht verwendet, sondern man 'schachtelte' das Corpus auf dem Boden auf, der in einer umlaufenden Nut die Zargen aufnahm, die zusätzlich in Schlitzen im Oberklotz verankert wurden. Der Vorteil: Man kann sehr rasch bauen, und dem Holz wird Freiheit gelassen, sich selber in Form zu legen. Damit wird die Spannung und somit die Rißanfälligkeit geringer; das Holz fühlt sich wohler. Oft werden solche Instrumente leicht asymmetrisch; insbesondere sind Boden und Decke in der Regel nicht deckungsgleich. Der Nachteil: Durch die Identität von Hals und Oberklotz ist der Halswinkel weitgehend festgelegt und kann nicht mehr verändert werden, außer man sägt den Hals ab.
In Cremona – den Amatis, Stradivaris, Guarneris und ihren Nachfolgern, deren Werke heute als Ideale schlechthin gelten – übernahm man jedoch Techniken aus dem Lautenbau: die Innenform, um die die Zargen und den Boden herumgelegt wurden, und die dann entfernt und immer wieder verwendet wurde. Damit wird das Instrument symmetrischer, und vor allem kann man dasselbe Model 'klonen', was im 18. Jahrhundert beim Aufkommen des Orchesters, bei dem mehrere gleiche Instrumente dieselbe Stimme spielen, von Vorteil war. Leimfugen werden mit Reifchen und Eckklötzen unterlegt. Vor allem aber wurden Hals und Oberklotz getrennt, und damit erhielt man mehr Freiheit im Gestalten des Ansatzwinkels des Halses. Konnte dieser steiler gelegt werden, wurde auch der Steg höher, der Druck auf die Decke stärker, und das Instrument lauter. Außerdem konnte man den Hals leichter abnehmen und neu ausrichten oder ersetzen. In der Tat ist das auch in der Regel mit alten Geigen geschehen. Es gibt kaum ein Instrument im Originalzustand. Aber damit erhielt auch das Holz viel weniger Chancen, sich nach eigenem Bedürfnis auszurichten. Der Extremfall – von Adelmanns Idol Sacconi vehement kritisiert – ist die Außenform, die dem Holz überhaupt keine Chance mehr läßt.
Deutliches Zeichen für einen durchgesetzten Hals ist die Kleinheit bzw. das Fehlen des Halsfußes. Ein Gemälde von Michelangelo Caravaggio (1571-1610)(14) zeigt dieses Fehlen und ist ein Indiz, daß auch in Italien diese Bauweise noch bis ins 17. Jahrhundert angewandt wurde. Demgegenüber sehen wir auf einem Gemälde von Dirck de Quade van Ravesteyn (1565-1620)(15) einen massiven Halsfuß als Beleg, daß hier Oberklotz und Hals getrennt sind.
Die alemannischen Instrumente wurden bis zu Adelmanns Entdeckungen als sehr frühe italienische Instrumente der Schule von Brescia gehandelt, und ihre Qualität ist so unbestritten, daß sie heute noch – in entsprechender Weise modernisiert – in manchen Orchestern zu finden sind. Das heißt, sie können sich ohne weiteres mit den berühmten Italienerinnen messen.
Adelmanns Entdeckung der Alemannischen Schule hat wiederum die alte Frage nach der Herkunft der Geige aufgeworfen, und der belgische Organologe Karel Moens, der übrigens noch früher als ich von Adelmanns Arbeiten Kenntnis hatte und von ihr beeinflußt wurde, hält nicht Italien, dieses Renommiergebiet der Violine, für dessen Ursprungsland, sondern die Nordalpenregion – eben in der Region der Alemannischen Schule. Adelmanns Arbeit schlägt den Bogen von Simone Sacconi, dem Erforscher der Italienerinnen, zu neuen Ufern und grundlegenden Neuerkenntnissen über eines der am meisten diskutierten musikalischen Topoi. Es ist eine Frau, die dieses geleistet hat, und ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie berühmt und anerkannt sie wohl wäre, wäre sie ein Mann gewesen.
Danksagungen
Bei der Neuauflage der Alemannischen Schule habe ich bewußt ausschließlich Frauen beschäftigt. Es war ein wundervolles Arbeiten ohne Konkurrenzdruck, in dem alle ihre Kompetenzen einbringen und sich gegenseitig beflügeln konnten. Neben Olga und mir waren es: Ellen Prigann für die Bildbearbeitung, die mir auch jetzt wieder zur Seite stand. Hannelore Schneider (†) für das Korrekturlesen, die bereits bei der ersten Auflage des Buches mitwirkte und Olgas Vertrauen genoß. Antonia Weiße, die Fotografin der brillantesten Farbfotos, die ich je gesehen habe. Der einzige Mann, der zuweilen hineinschneite, war mein Partner Hans Reiners, weil Olga von ihm als Dauertribut einen Kuß haben wollte. Allen diesen sei gedankt. Dank auch an Luise Pusch, die mir die Möglichkeit gab, Olga Adelmann auf diese Weise einem breiteren Publikum bekannt zu machen.
(veröffentlicht am 1.10.2013 zum 100. Geburtstag von Olga Adelmann am 2.10.2013)
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- Persönlicher undatierter Lebenslauf Olga Adelmann, ca. 1933
- Gutachten des Lehrers Redlich, Dezember 1933
- Berliner Illustrierte Nachtausgabe vom 30. Januar 1938
- Grunewald Echo, Mai 1940
- Ebenda
- Ebenda
- Berliner Illustrierte Nachtausgabe vom 30. Januar 1938
- Berliner Illustrierte Nachtausgabe 1940 (kein Datum)
- Lebenslauf Olga Adelmann, undatiert (ca. 1988)
- Simone Sacconi, I 'Segreti' di Stradivari, Cremona 1972, Deutsch von Olga Adelmann: Die Geheimnisse Stradivaris, Frankfurt/ Main 1976
- Olga Adelmann, Unsignierte Instrumente des Schweizer Geigenbauers Hans Krouchdaler. Zu einer vergessenen Geigenbauschule des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1969, Berlin 1970, s. 68-82
- Vgl. Otterstedt über weiblichen Musikinstrumentenbau, hier auf FemBio.
- Zeichnung von Roger Hargrave in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Artikel “Violine”; Sachteil Band 9, Spalte 1601-1602, Kassel 1998; transformiert von der Autorin und Ellen Prigann
- Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, Rom Galleria Pamphili
- Wien, Kunsthistorisches Museum
- Siehe http://alemannische-schule.de/page11.php. (9.9.2013). Darin werden weder Adelmann noch ihr Buch erwähnt. Meine eigene Arbeit, die mit diesem Projekt eng zusammenhängt, wird abklassifiziert als “Wissensquell und Unterstützung auf vielen Ebenen”. Weitere Kommentare zu moderner Unterschlagung weiblicher Leistung sind wohl überflüssig. – Anmerkung: Seite ist derzeit nicht online (20.09.2018). AN
Verfasserin: Annette Otterstedt
Literatur & Quellen
Olga Adelmann: – Unsignierte Instrumente des Schweizer Geigenbauers Hans Krouchdaler. Zu einer vergessenen Geigenbauschule des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1969, Berlin 1970, S. 68-82
Die Alemannische Schule. Archaischer Geigenbau des 17. Jahrhunderts im südlichen Schwarzwald und in der Schweiz, in: Zum Streichinstrumentenbau des 18. Jahrhunderts. Bericht über das 11. Symposium zu Fragen des Musikinstrumentenbaus Michaelstein, 9.-10. November 1990, Michaelstein 1994, S. 45-50
Die Alemannische Schule. Archaischer Geigenbau des 17. Jahrhunderts im südlichen Schwarzwald und in der Schweiz, Berlin 1990
Die Entdeckung der Alemannischen Schule, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2000, S. 277-288
Olga Adelmann und Annette Otterstedt: Geigenbau des 17. Jahrhunderts im südlichen Schwarzwald und in der Schweiz, Berlin 1997
Annette Otterstedt: die Bedeutung der Entdeckung der Alemannischen Schule für die Praxis, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2000, S. 259-276
What Old Fiddles Can Teach Us…, in: The Galpin Society Journal 52 (1999), pp. 219-242
Preserving a violin-making tradition in its historical context: “Die Alemannische Schule” – second edition of Olga Adelmann's Monograph, in: Regional traditions in instrument making, pp.7-22
Investigating green marquetry on bowed-string instruments, in: The Galpin Society Journal 54 (2001), pp.330-338
Simone F. Sacconi: I „Segreti“ di Stradivari, con il catalogo dei cimeli stradivariani del Museo Civico „Ala Ponzone“ di Cremona, Cremona 1972
Die “Geheimnisse” Stradivaris. Mit dem Katalog des Stradivari-Nachlasses im Städtischen Museum “Ala Ponzone” von Cremona, deutsche Übersetzung: Olga Adelmann, Frankfurt/Main 1976
CD der Alemannischen Instrumente des Berliner Museums: Klingendes Museum 10
A. Otterstedt: Die Meister der Alemannischen Schule. Eine 40seitige, bebilderte Einführung in die Klangwelt einer faszinierenden Geigenbautradition, 2., korrigierte Auflage 2011. CD KM 2016-2, zu beziehen über http://www.sim.spk-berlin.de/cds_326.html?PAGE=artikel_detail&artikel_id=321
Weitere Infos: A. Otterstedt, otterstedt@sim.spk-berlin.de
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