Fembio Specials Bauhausfrauen Ricarda Schwerin
Fembio Special: Bauhausfrauen
Ricarda Schwerin
(geb. Meltzer)
geboren am 30. Januar 1912 in Göttingen
gestorben am 29. Juli 1999 in Jerusalem
deutsch-israelische Fotografin
25. Todestag am 29. Juli 2024
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Nur ein kleiner Teil ihrer Werke ist erhalten geblieben, berühmt wurde nur ein einziges: Das Portrait der Hannah Arendt, von Ricarda Schwerin 1961 in Jerusalem aufgenommen. Doch sie bekam noch viel mehr berühmte Leute vor ihre Kamera – Golda Meir, James Baldwin, Mosche Dayan und andere. Aber damals war sie Partnerin des Jerusalemer Fotografen Alfred Bernheim und die meisten der gemeinschaftlichen Arbeiten sowie ihre eigenen trugen seinen Namen.
Ein „schwieriges“ Kind
Als Ricarda drei Jahre alt war, starb ihre Mutter, und ihr Vater brachte sie in einem Kinderheim unter, in dem sie vorwiegend unglücklich war. Als der Vater, mittlerweile Bankdirektor in Mannheim, sie nach fünf Jahren wieder mit nach Hause nahm zu seiner neuen Frau, wäre sie gerne im Heim geblieben. Das war gegen Ende der zweiten Schulklasse. Der erste Weltkrieg ging gerade zu Ende, aber zu Hause gab es für Ricarda keinen Frieden. Die Stiefmutter mochte sie nicht, weshalb das Mädchen oft hin und her, von der einen Tante zur nächsten, quer durch ganz Deutschland geschickt wurde; immer mit dem Köfferchen in der Hand und einem großen Namensschild um den Hals. Schließlich erbarmten sich die Großeltern väterlicherseits ihrer und nahmen sie zu sich nach Zittau, wo Ricarda ein paar schöne Jahre verbrachte.
Nachdem der Großvater gestorben war, ging sie nur ungern zurück ins väterliche Haus. Sie war jetzt 14 Jahre alt; die vielen Entbehrungen auf der einen und die liebevolle Fürsorge ihrer Großeltern auf der anderen Seite, hatten sie stark gemacht. Aus dem Widerwillen gegen die verlogene Christlichkeit von Vater und Stiefmutter und wohl auch aus Protest gegen ihre jahrelange Abschiebung verweigerte sie die Konfirmation und vermasselte der Familie die prunkvolle Feier. Es wurde ein unglaublicher Skandal: Ricarda Meltzer stand in der Kirche einfach nicht von der Bank auf, als der Pfarrer ihren Namen aufrief; nicht beim ersten Aufruf, nicht beim zweiten und auch nicht beim dritten. Sie blieb ruhig auf ihrem Platz sitzen und wartete, bis das nächste Kind, dessen Namen mit M anfing, aufgerufen wurde. Die Strafe folgte auf dem Fuße: Das gottlose Kind wurde erneut aus der Familie ausgegliedert und kam in das Internat der Herrnhuter Brüdergemeine in Königsfeld im Schwarzwald. Dort wurde sie überzeugte Atheistin.
Von Königsfeld nach Dessau
Aber die Jahre in Königsfeld waren nicht nur schlecht für Ricarda. Hier durfte sie endlich malen und zeichnen so viel sie wollte, was zu Hause stets verpönt war, und hier traf sie die Mitschülerin Meret Oppenheim, die ihre beste Freundin wurde. In einem von Meret zusammengestellten Bilderbuch, das 2013 in Faksimile erschien, gibt es ein winziges Foto: Die 16 jährige Ricarda im Sommerkleid mit zwei über die Ohren gerollten blonden Zöpfen, etwas linkisch an einen Baum gelehnt. Der Kontakt zu Meret ist später abgebrochen, nachdem beide Frauen Deutschland verlassen mussten - Meret wegen ihrer jüdischen Herkunft und Ricarda, weil sie sich alsbald mit einem Juden zusammengetan hatte.
Ricarda wollte Fotografin werden und hatte schon während ihrer Zeit im Internat von der modernen Schule in Dessau gehört. „Junge Menschen, kommt ans Bauhaus!“ hieß es auf einer Broschüre, die ihr zufällig in die Hände fiel. Kurz vor der Reifeprüfung bewarb sich um einen Studienplatz dort. Sie hatte Glück: Sie wurde angenommen, und ihr Vater fand den Beruf der Fotografin „angemessen für Frauen“.
Sommer 1930. In der ersten Zeit bewegte sich Ricarda zwischen den verschiedenen Abteilungen - Graphik, Weberei, Fotografie; sie war fasziniert: „Studenten aus Japan, aus der Mongolei, aus Palästina… der freie Ton, die ganze Atmosphäre, alles so unkonventionell… “, erzählte sie. Im Sommer 1931 erschien ein neuer Student an der Schule, der 21 jährige jüdische Kommunist Heinz Schwerin. Zuerst sahen die beiden sich nur in der Mensa und bei diversen Versammlungen der kommunistischen Zelle. Aber bald brauchten sie mehr Zeit für sich selbst. Ricarda sagte später, es sei Liebe von Anfang an gewesen.
Aber sie sind zu spät nach Dessau gekommen, zu spät für ein ordentliches Studium, denn das Bauhaus schlitterte bereits seiner Endphase entgegen. Die Nazis, die im Dessauer Gemeinderat damals schon stark waren, hassten die moderne Schule und wollten sie auflösen. Der Druck von außen verschärfte die innere Zerrissenheit: Im Oktober 1931 wählten die Studierenden - wie es damals am Bauhaus geschlechtsneutral hieß - eine neue Vertretung, Heinz Schwerin gehörte dazu. Kurz danach ließ der Rektor ein Bild des sozial engagierten Malers Werner Scholz zum Thema Abtreibung aus einer Ausstellung entfernen, wogegen Studierende protestierten. Heinz Schwerin lag es nicht, sich rauszuhalten, ebenso wenig Ricarda. Das Engagement für die Seite, die sie für die richtige hielten, war Teil ihrer Beziehung, und Ricarda liebte Heinz auch dafür, dass er sich weder anpasste noch unterordnete. Im Winter 1931/1932 verschärften sich die Auseinandersetzungen am Bauhaus so sehr, dass es zu einem Disziplinarverfahren kam, an dessen Ende die drei Vertreter der Studierenden Hausverbot bekamen und das Bauhaus ohne Diplom verlassen mussten. Im Disziplinarausschuss saßen Mies van der Rohe und Wassily Kandinsky. Ricarda ließ man nach längerer Krankheit nicht wieder zu ihrem Studium zu, sie bekam ebenfalls Hausverbot.
Nach ihrem Ausschluss gingen sie nach Berlin, wo Ricarda Arbeit im Fotoatelier „ringel und pit“ bekam. Ellen Auerbach, eine der Inhaberinnen des später berühmt gewordenen Ateliers sagte 65 Jahre später: „Ja, Ricarda konnte fotografieren; das habe ich gleich gesehen, sie hatte den richtigen Blick!“
Verfolgung und Emigration
Zum Wintersemester 1932/33 meldeten sich Ricarda und ihr Freund an der „Schule für freie und angewandte Kunst“ in Frankfurt a. M. an. Aber sie konnten ihr Studium auch hier nicht beenden. Nachdem die Nazis an der Macht waren, kam Heinz ins Gefängnis, und Ricarda musste untertauchen. Um jede Spur zu beseitigen, die auf ihren Verbleib hätte hinweisen können, warf sie all ihre Papiere in den Main. Dieser Aktion fielen auch ihre Studienarbeiten zum Opfer; unter anderem ein Fotoportrait der Stadt Potsdam, das ihre Diplomarbeit hätte werden sollen. Aber an ein Diplom war nun ohnehin nicht mehr zu denken. Ricarda und Heinz waren froh, dass sie nach seiner Flucht aus dem Gefängnis mit dem Leben davon kamen.
Im Mai 1933 gingen sie, in einer Nacht ohne Mondschein, zu Fuß und mit Rucksäcken über das Riesengebirge in die Tschechoslowakei. Von da an waren sie zwei Jahre lang unterwegs. Sie arbeiteten in Prag, in Genf und später in der ungarischen Stadt Pecs, wo sie die Ehe miteinander eingingen: „Weil wir gerade Zeit hatten“, wie Ricarda später äußerte. Vorher musste sie noch mal zurück ins Riesengebirge: An der Grenze trafen Flüchtlinge aus deutschen Konzentrationslagern ein; für eine Dokumentation fotografierte Ricarda die Folterspuren an ihren Körpern, drei Monate lang.
Nach Palästina
Ricarda und Heinz waren keine Zionisten. Ricarda war noch nicht einmal Jüdin und ist auch nie zum Judentum übergetreten. Da sie als Flüchtlinge aber nirgends legal leben und arbeiten konnten, beschlossen sie 1935, nach Palästina auszuwandern. Das britisch regierte Land mit dem damals schon weitverzweigten jüdischen Gemeinwesen schien das einzige zu sein, in dem sie sich eine Existenz aufbauen konnten.
Am Anfang nahm Ricarda jede Arbeit an: Für Kost und Logis machte sie in einem Hotel die Betten, putzte und besorgte den Abwasch. Aber bald kamen Heinz und sie auf die Idee, Spielsachen zu entwerfen und diese in einer eigenen Holzwerkstatt herzustellen: An einer Oberfräse entstanden massive Holzteile, Autos aus Rotbuche, bis auf die Räder ganz aus einem Stück gearbeitet, Traktoren, Eisenbahnen und Dampfwalzen - jedes Stück ein Kunstwerk. Bis zur Geburt ihres ersten Kindes arbeiteten sie beide an der Maschine - Frau und Mann - darauf war Ricarda ihr Leben lang stolz. Für den Vertrieb waren ihre Fotos aber mindestens ebenso wichtig - die Spielsachen wurden verkauft und exportiert und 1937 in der Weltausstellung in Paris ausgestellt. Sie waren erfolgreich und Familie Schwerin (1941 und 1945 kamen ihre Kinder zur Welt) konnte 10 Jahre lang von der Spielzeugproduktion leben.
1948, im Krieg zwischen Arabern und Juden, verunglückte Heinz tödlich. Die 36 jährige Ricarda hatte 17 Jahre lang mit ihm zusammen verbracht. Die Jerusalemer Vorstadt, in der sie lebten, wurde Frontgebiet, und Ricarda zog mit ihren Kindern in die Innenstadt zu den alten Schwiegereltern, für die sie fortan ohnehin sorgen musste. Sie war die einzige in der jetzt fünfköpfigen Familie, die im arbeitsfähigen Alter war. Nun hieß es wieder, jede Arbeit annehmen: Ricarda putzte und bügelte bei Bekannten und bei Fremden, züchtete Hasen und Hühner, eröffnete einen Kindergarten und später ein Babyheim. Acht Jahre lang. Ans Fotografieren war kaum zu denken. Mit ihrer alten Rolleiflex fotografierte sie nur noch ihre Kinder, ihr Geld reichte höchstens für Kontaktabzüge.
Ein neuer Anfang
1955 gab es wieder eine Wende im Leben der Ricarda Schwerin. Sie begegnete dem Fotografen Alfred Bernheim, in Israel wohlbekannt und erfolgreich, dessen Schaffenskraft allerdings schon eine gewisse Ermüdung erkennen ließ. Die beiden, sie 43, er 70 Jahre alt, verliebten sich ineinander, Ricarda gab ihr Babyheim auf und trat als Assistentin in Bernheims Atelier ein. So begann eine fast 20-jährige Arbeits- und Lebensgemeinschaft. Ricarda fotografierte und arbeitete mit Bernheim zusammen in der Dunkelkammer. Mittags kochte sie, ihre Kinder kamen zum Essen ins Atelier.
Mit Ricardas Eintritt kam das Fotoatelier wieder in Schwung: Fast alle wichtigen Persönlichkeiten des Landes wollten sich von Bernheim und Schwerin fotografieren lassen. Hinzu kamen die vielen Architekturaufnahmen, mit denen sie beauftragt wurden.
Von einer bekannten Kinderbuchautorin bekam Ricarda den Auftrag, zwei Kinderbücher mit Fotos zu illustrieren. Es war die einzige Arbeit, die allein unter ihrem Namen lief. Die Bücher wurden gelobt, viel verkauft und bekamen mehrere Auflagen; dennoch blieb Alfred Bernheim der Meister und Ricarda Schwerin die Assistentin. Sie schien das gut auszuhalten, jedenfalls tat sie so. Erst 1967 bekam das Atelier ein neues Schild, mit den Namen beider InhaberInnen und es schien allein der alphabetischen Reihenfolge geschuldet, dass Schwerins Name unter Bernheims stand.
1974 starb der alte Fotograf. Ricarda, jetzt 62 Jahre alt, führte das Atelier noch drei Jahre lang alleine weiter. Aber die Zeiten hatte sich geändert und ihr Einkommen reichte „nicht zum Leben und nicht zum Sterben“, wie sie sich ausdrückte. Da ergriff sie einen neuen Beruf: Nach einem mehrmonatigen Lehrgang schloss sie mit einem Zertifikat als Fremdenführerin ab. Von da an bekam sie vom offiziellen Jerusalemer Reisebüro regelmäßig Aufträge. Sie arbeitete noch mit über 70 Jahren in ihrem neuen Beruf und hörte erst auf, als sie gar nicht mehr konnte.
Im Sommer 2013 gedachte die Stiftung Bauhaus Dessau dreier ehemaliger StudentInnen mit einer Ausstellung über ihr Leben und Werk. Ricarda Schwerin gehörte dazu. 100 000 Menschen haben diese Ausstellung besucht; Ricarda Schwerin hätte sich über jeden einzelnen sehr gefreut.
Verfasserin: Jutta Schwerin
Links
Rezension zu Jutta Schwerins “Ricardas Tochter” von Luise F. Pusch
Literatur & Quellen
Schwerin, Jutta. 2012. Ricardas Tochter – Leben zwischen Deutschland und Israel. Leipzig: Spector Books in Kooperation mit der Stiftung Bauhaus Dessau, 2012. 319 Seiten, gebundene Leinenausgabe mit 65 Schwarz-Weiß-Fotografien ISBN: 978-3-940064-332, 19,90 Euro
Sonder, Ines, Werner Möller & Ruwen Egri. Hg. 2013. Vom Bauhaus nach Palästina: Chanan Frenkel, Ricarda und Heinz Schwerin [zur gleichnamigen Ausstellung in den Dessauer Meisterhäusern Muche - Schlemmer vom 26. Juni bis 13. Oktober 2013]. Leipzig. Spector Books.
Oppenheim, Meret. “Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln”: Das autobiografische Album “Von der Kindheit bis 1943” und unveröffentlichte Briefwechsel. Hg. Lisa Wenger und Martina Corgnati. Zürich. Scheidegger & Spiess.
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