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geboren am 10. August 1770 in Göttingen
gestorben am 13. Juli 1825 in Avignon, Frankreich
deutsche Gelehrte mit Doktortitel, "Wunderkind"
250. Geburtstag am 10. August 2020
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Dorothea Schlözer war die zweite Frau im deutschen Sprachbereich mit einer wissenschaftlichen Promotion. Wie es dazu kam, ist gleichermaßen interessant wie deprimierend, denn all ihre Gelehrsamkeit half ihr nichts, um diese sinnvoll in einem Beruf einzusetzen. Sie blieb vielmehr die exotische Zierde für einen ehrsüchtigen und verschwenderischen Ehemann, der sie am Ende durch seinen Bankrott in Armut stürzte.
Aber von Anfang an. Der Vater, August Ludwig Schlözer (1735-1809) stammte aus den kargen Verhältnissen eines Landpfarrers im fränkischen Gaggstatt (heute Kreis Kirchberg a.d. Jagst) und hatte sich durch Fleiß und Disziplin hochgearbeitet zu einer Professur in Göttingen (1769). Damit hatte er sich eine geachtete Stellung geschaffen und konnte im selben Jahr heiraten und eine Familie gründen. Seine Wahl fiel auf die junge Caroline Friederike Roederer (1753-1808), die er seit zehn Jahren kannte. Der Altersunterschied von achtzehn Jahren war nichts Ungewöhnliches; ein Mann aus kleinen Verhältnissen musste sich erst eine Stellung in der Welt erarbeiten, bevor er heiraten konnte, und damit war die Jugendfrische für ihn dahin. Für eine sechzehnjährige junge Frau dürfte das erotische Interesse an einem für sie alten Mann nicht gerade die Lebenserfüllung gewesen sein, und Caroline Friederike unterzog sich der Folge von acht Geburten mit drei toten Kindern in den Jahren 1770 bis 1791 anscheinend klaglos; man war es gewöhnt, dass Frauen unentwegt schwanger waren, einen Großteil ihrer Kinder durch den Tod verloren und am Ende selber bei einer Geburt starben. Man war es auch gewöhnt, dass alte Väter, die in der Welt herumgekommen waren und stets nur auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten hatten, in der Familie zu Tyrannen mutierten. Auch Schlözer bildete keine Ausnahme, und in seinem Haus geschah nichts ohne seinen despotischen Willen. Sein Sohn Christian schrieb später: “In fortschreitendem Alter […] brach seine angeborene, bis dahin nur mühsam gezügelte Heftigkeit mit doppelter Stärke hervor [...]. Vorzüglich litten in jener Hinsicht die weiblichen Mitglieder seiner Familie [...] Je näher ihm überhaupt, desto mehr ward dieser das Spiel und Opfer seiner Launen [...] Das unbedeutendste, argloseste Wort konnte von ihm übel gedeutet werden, und reichte alsdann hin, ihn [...] zum heftigsten Zorne zu reizen. Oft vergaß er morgen, was er heute befohlen und geäußert hatte [...]. Unaufhörlich wollte er unterhalten sein [...], um seinen Umgebungen nicht unerträglich zu werden.”[1]
Seine Frau Caroline Friederike war das Gegenteil: Sie war offenbar eine Meisterin im bildnerischen Gestalten: Sticken, Modellieren in Wachs (ein Wachsportrait Martin Luthers von ihr ist im Städtischen Museum in Göttingen erhalten), und ihre Arbeit muss so aufsehenerregend gut gewesen sein, dass sie zwei Jahre vor ihrem Tod 1806 als Ehrenmitglied in die Preußische Akademie der Bildenden Künste aufgenommen wurde: “Sie stickte in Seide u. hatte einen eigenen Stich erdacht, der nicht mit dem, welchen die Franzosen en nends nennen, zu verwechseln ist, sondern einem erfahrenen punktirten Stiche gleicht”.[2] Ida Boy-Ed[3], über die unten noch genauer zu sprechen sein wird, glaubte, diese Ehre sei ihr widerfahren als Gattin des berühmten Schlözer, der jedoch nicht nur kein Interesse an Kunst hatte, sondern ihr sogar feindselig gegenüberstand: “Für schöne Wissenschaft und Künste hatte er im Ganzen sehr wenig Sinn [...] Malerei, Architektur, Skulptur vermochten ihm sogar auf seiner Reise nach Italien keine sonderliche Aufmerksamkeit abzugewinnen”, bemerkte ihr Sohn Christian[4]. Wir dürfen hier ruhig von Eigenleistungen der Frau Schlözer-Roederer ausgehen, die vielleicht zu der rationalistischen Tyrannei ihres Mannes ein bewusster Kontrapunkt waren.
Dorothea war das älteste Kind, und wir müssen uns vergegenwärtigen, dass vornehmlich sie die Adressatin des unberechenbaren Willens ihres Vaters war. Schlözer hatte spezielle Vorstellungen von Erziehung und geriet bald in einen erbitterten Streit mit Johann Bernhard Basedow (1724-1790), der 1771 in Dessau das “Philanthropinum”, eine “Pflanzschule der Menschheit” gegründet hatte, die im Sinne der Aufklärung die Kinder – gemeint sind ausschließlich die Söhne – zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft erziehen sollte. Vieles davon war fortschrittlich: praktisches Lernen, Leibesübungen oder Vermittlung moderner Sprachen. Die Schule hielt sich nicht lange. 1793 wurde sie geschlossen, womöglich, weil Basedow als Leiter nicht geschickt genug war und den Ruf hatte, herrschsüchtig zu sein. Mädchen standen nicht in seinem Blickfeld; für sie sah er das Rousseausche Frauenbild vor, das sich darin erschöpfte, das die Frau dem Mann zu gefallen habe.
Was Schlözer anscheinend ein Dorn im Auge war, waren Basedows spielerischer Zugang, seine Auffassungen von Religion und Moral und vor allem die Vernachlässigung wissenschaftlichen Trainings. Dorothea eignete sich für sein pädagogisches Experiment in mehrfacher Hinsicht: Sie war die Älteste, vollkommen von ihm abhängig, und sie war ein Mädchen, womit er beweisen konnte, “daß ich in puncto Pädagogik nicht der Ignorant wäre, wofür mich Basedow erklärt hatte”.[5]
Das also war der Hintergrund, vor dem Dorothea Schlözer ihre Ausbildung begann. Ihr Vater hielt sie an zu eisernem, nie nachlassenden Fleiß. Arbeit und nochmals Arbeit war für ihn die Grundbedingung, um Kinder von 'schädlichen' Gedanken fernzuhalten. Mit drei Jahren begannen die Sprachstudien: Plattdeutsch, Englisch, Schwedisch, Niederländisch, Französisch und Italienisch. Mit fünf Jahren kamen Mathematik und Mineralogie hinzu, mit zehn Latein, mit fünfzehn Griechisch.
Schlözer war stolz auf seine Tochter und nahm sie 1781 mit nach Italien. Die Reise dauerte fast zwei Jahre, und Dorothea lernte eine neue, aufregende Umgebung kennen. Sie blühte auf, wurde hübsch, war schlagfertig in verschiedenen Sprachen und wurde bewundert und eingeladen, auch ohne ihren Vater, zu dessen Grimm. Vor allem lernte sie die Kunst kennen. Und sie verbrannte an der Sonne. Als ein alter Herr ihr die Haare aus der Stirn strich und sich darüber verwunderte, daß ihre Stirn weiß, aber die unteren Partien des Gesichtes braun waren, erklärte sie, oben sei Deutschland und unten Italien.[6]
Ihre Mutter wäre übrigens gerne mitgefahren. Ihr, der Künstlerin, wären italienische Erlebnisse wohl lebensbestimmend gewesen, aber ihr Mann beschied sie: “Du hättest unmöglich nach Italien reisen können wegen 100 Ursachen…”[7] Diese spezifizierte er nicht, sondern stellte ihr in Aussicht, sie vielleicht einmal nach Augsburg oder in andere Städte mitzunehmen. Ob das als Ersatz reichte? Mit einem Mann, dem Kunst und Landschaft nichts bedeuteten?
Zurück in Göttingen ging die Arbeit weiter, und Dorotheas Studien tendierten offenbar zunehmend in Richtung der Naturwissenschaften. Im Jahr 1787 unternahm sie eine Reise in den Harz, und zwar allein – für ein Mädchen eine absolute Ungewöhnlichkeit – mit dem Zweck, die Bergwerke zu besuchen. Sie stieg auf der nicht ungefährlichen “Fahrkunst” nach unten und freute sich über die Huldigungen der Bergleute.
Und schließlich war es so weit, daß August Wilhelm Schlözer sein pädagogisches Werk krönen wollte – und zwar, um Basedow zu ärgern. Er wollte für seine begabte Tochter einen Doktorhut. Als angesehenem Professor mit den besten Beziehungen an einer liberalen Universität war ihm das möglich, und 1787 wurde Dorothea von Göttinger Professoren auf Herz und Nieren geprüft in einem stundenlangen mündlichen Examen, und sie damit zum “Magister und Doktor der Philosophie” promoviert. Sie wurde in Weiß eingekleidet wie eine Braut oder ein Opfertier. Dass die ganze Geschichte eine Farce war, erhellt daraus, dass man auf eine Dissertation, die ohnehin auf Lateinisch abzuliefern war (das Dorothea beherrschte) verzichtete. Bei der Verkündung in der Paulinerkirche durfte Dorothea als junge unverheiratete Frau nicht zugegen sein. Sie beobachtete den Gottesdienst durch ein zersprungenes Fenster der Bibliothek.
Zuhause wurde gefeiert, und dabei erhielt Dorothea den ersten Dämpfer. Vater Schlözer hatte ein Gedicht gemacht, das die Söhne Christian, Ludwig und Carl aufsagen mussten, mit dem Tenor:
Schwester Doctor! bleib bescheiden.
Traun, wir wachsen Dir zu Kopf!
Brüder, Top! nach 17 Jahren,
wer von uns der heut gekrönten
Schwester nicht zu Kopf gewachsen,
Top! der heiße armer Tropf.
Glück indeß zum Männerhute,
der Dein MädchensKöpfchen [sic] schmückt!
Trag ihn, Dir und uns zu Ehren,
bei der Freunde lautem Jubel,
und der Eltern stiller Wonne,
frei empor, – doch nicht zu lange –
bis die Haub' ihn deckt und drückt,
und ein jüngerer Decanus
Dir statt Lorbern Myrten pflückt.
Daß Dorothea das gekränkt hat, erfahren wir auf Umwegen aus einem Brief ihrer freundschaftlichen Nachbarin Caroline Michaelis(-Schlegel-Schelling), die später in ihrer Selbstverwirklichung andere Wege ging, an deren Schwester: “Schlözer stell ich mir lebendig vor und find' ihn auch so in dem Gedicht, das mir Dortchen schickte – eine in harten Worten hingeworfene Bescheidenheit, der der Übermut hinten aus der Kehle hervorquillt. Dann glaubt er auch, er hats so recht getroffen, und will den und jenen Zweck mit denen und jenen Äußerungen erlangen, und wenn er nur wüßte, daß Dortchen so gar nicht das Mädchen ist, das er zu erziehen wähnt – nur vis à vis de lui ein Geschöpf des blinden Gehorsams, und deren Wesen gar nichts mit dieser Subordination weiter gemein [hat], als wie das militärische Exercitium mit dem Menschen.”[8] Caroline sah hier sehr klar: Dorothea wollte mehr als brutale Paukerei; sie sehnte sich nach Eigenständigkeit, wie es in Italien und auf ihrer Harzreise zum Ausdruck gekommen war, aber gerade das – selbständiges Denken und persönliche Weiterentwicklung – wurde ihr vom Vater verwehrt. Sie trug daran lebenslang, und es scheint ihr bewusst gewesen zu sein. Auch in der Öffentlichkeit reichten die Reaktionen von Spott zu moralischer Entrüstung und Häme, allen voran durch Friedrich Schiller, der über “Schlözers erbärmliche Farce mit seiner Tochter” wetterte.
Was tun mit dieser hochqualifizierten Tochter? Für einen Sohn wäre die akademische Karriere selbstverständlich gewesen. Bei einer Tochter dachte niemand daran. Vater Schlözer sah sich – wie er es bereits in seinem taktlosen Gedicht angedeutet hatte – nach einem geeigneten Heiratskandidaten um. Dorothea hatte mit 17 Jahren das normale Heiratsalter, aber ein Kandidat fand sich erst vier Jahre später, 1791, in dem wohlhabenden Lübecker Patrizier Matthäus Rodde, den sie ein Jahr später heiratete.
Rodde war Witwer mit drei Kindern und suchte eine Frau, mit der er prunken konnte. Er lebte von seinem Vermögen und war versessen auf Pracht und Repräsentation. Eine schöne Frau mit einem Doktortitel war genau das, was er wünschte. Und Reichtum und Repräsentation lag im Familienstreben der Schlözers begründet. Von Liebe zeigte sich bei Dorothea keine Spur; eher ein kühles Abwägen der Vor- und Nachteile.
Schlözer ging bei der Heirat sehr sorgfältig vor, um die Sicherheit und das Auskommen seiner Tochter zu garantieren. So verlangte er von Rodde die Garantie, ihre Witwenversorgung durch eine hohe Lebensversicherung zu gewährleisten, deren Policen Rodde jedoch niemals einlöste.
Die Hochzeit wurde in aller Großartigkeit gefeiert, und das Ehepaar zog anschließend nach Lübeck und führte dort ein großes Haus. Es schien alles wunderbar zu laufen, und Ida Boy-Ed vermerkt: “Dorotheas Linie bog sich plötzlich ganz um. Den Doktorhut umkränzte die Myrte, und sie weihte sich dem natürlichen Frauenberuf.”[9] Und weiter schwärmte sie: “Sie fühlte sich in einer freundlich-liebevollen Ehe geborgen und genoß in reiner, unverbildeter Kräftigkeit und Pflichttreue das Glück, Mutter dreier Kinder zu sein. [...] der seiner Gattin ergebene Mann ließ sie darin schalten und walten und sich mit allen ihren Neigungen nach ihrem Gefallen einrichten. So gelangte sie in diesen ersten ungetrübten Jahren recht zum Genuß ihrer eigenen Persönlichkeit.”[10]
Ganz so idyllisch scheint es jedoch nicht gewesen zu sein. 1794 lernte Dorothea den Franzosen Charles Villers (1765-1815) kennen. Zwischen beiden scheint es gefunkt zu haben, und das kurz nach der Heirat mit Rodde. “Und dieses schon so reiche Dasein wurde vollends zur Harmonie umrundet durch eine edle Freundschaft. [...] Ein wundervolles geistiges Verstehen flammte zwischen den beiden auf, und Rodde bot ihm mit einer vornehm großartigen Geste eine unbegrenzte Gastfreiheit an.”[11] Tatsächlich zog Villers zu ihnen, und es scheint eine veritable Dreiecksgeschichte gewesen zu sein, die Rodde keineswegs großzügig, sondern eher knurrend über sich ergehen ließ. Keine Reise erfolgte mehr ohne Villers' Teilnahme, und wo Rodde aus beruflichen Gründen verhindert war, tröstete Dorothea sich mit dem ihr geistig so viel mehr verwandten Villers. Gerede über diese Liaison blieb nicht aus, und Dorothea schrieb entschuldigend an ihre Mutter: “Auf den Wegen von Caroline wir man mich nicht sehen.”[12] Wie es scheint, stand die Mutter allerdings auf ihrer Seite, denn sie beschwor Villers mehrmals, Dorothea niemals zu verlassen.
Charles Villers stammte aus Lothringen und war 1792 vor der Revolution aus Frankreich geflüchtet. Ziellos irrte er zunächst in Europa herum, verfasste diverse kritische Schriften, die ihm einige Feinde einbrachten, bis er in Göttingen strandete und dort Dorothea kennenlernte. Im Lauf der Jahre hatte er sich mit Deutschland, deutscher Sprache und deutscher Kultur völlig identifiziert und betrachtete sich als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich. U.a. beeinflusste er Germaine de Staël in ihrem Werk “De l'Allemagne”, die er samt deren Begleiter Benjamin Constant 1803 in Metz traf, und mit denen er zeitlebens in Verbindung blieb. Er war ein Schöngeist, der Dorothea in Welten der Poesie und Phantasie einführte, die sie im Haus ihres Vaters nie ausprobieren durfte.
Aber Villers erwies sich auch in anderer Hinsicht als nützlich. Die napoleonischen Eroberungszüge machten vor Lübeck nicht halt. Die Stadt hatte zwar Neutralität gelobt, aber diese wurde gebrochen von den deutschen Truppen unter Blücher, und das war für die Franzosen eine gefundene Gelegenheit, über die Stadt herzufallen und sie zu plündern und zu verwüsten (1806). Die Szenen müssen grauenhaft gewesen sein, aber Villers konnte einige der schlimmsten Exzesse verhüten. Rodde im Verein mit Villers gelang es, ihr Haus dem französischen Befehlshaber Graf Bernadotte zur Verfügung zu stellen. Aber Villers blieb dabei nicht stehen. Er verfasste ein Pamphlet, in dem er die Grausamkeiten der Franzosen geißelte (1807), was ihn die letzten Sympathien auf französischer Seite kostete und ihm die Ausweisung aus Lübeck einbrachte.
Matthäus Rodde war inzwischen mit seiner Verschwendungssucht nicht untätig geblieben, und 1810 musste er Konkurs anmelden. Dabei verlor Dorothea, die für ihn mithaften musste, fast ihr gesamtes Vermögen. Sie schrieb 1811: “19 Jahre [d.h. seit Beginn ihrer Ehe!] habe ich vergebens gekämpft, um einem solchen Uebel vorzubeugen – … Meine Zukunft ist nichts weniger als gesichert, über mein Wittum macht mir die Debit Masse den Prozeß, das kleine Eigenthum meiner Kinder wird wahrscheinlich auch auf diese Weise angefochten – meine väterliche Erbschaft ist mir durch die Tochter erster Ehe meines Mannes ersetzt; diese kleine Revenue ist das einzige sichere, worauf ich rechnen kann und so beziehe ich dann in Gottes Nahmen eine gemietete Studentenstube in Göttingen, wohin ich auf Ostern zu reisen gedenke…”[13] Sie hatte das Glück, sich mit Roddes Kindern aus erster Ehe gut zu verstehen, und mit deren und Villers' Hilfe gelang es ihr, einen Teil des väterlichen Vermögens zu retten. Aus ihrem Brief geht auch deutlich hervor, dass sie sich von Anfang an nach Kräften gegen Roddes Verschwendung gewehrt hatte, aber als rechtlose Ehefrau keinerlei Möglichkeiten hatte, sie zu verhindern.
1810 zog Dorothea mit ihren Kindern und Villers zurück nach Göttingen. Rodde kam bald nach – ein gebrochenes, würdeloses Männchen und Quälgeist des Haushaltes. Man lebte sehr knapp. Villers erhielt vorübergehend eine Professur in Göttingen, die 1814 widerrufen wurde, und ein Jahr später starb er – wohl der schlimmste Verlust in Dorotheas Leben. 1820 und 1823 starben ihre Kinder Augusta und Ludwig, wohl an Tuberkulose, und als auch noch die letzte Tochter Dorothea (“Dortchen”) erkrankte, entschloss sich Dorothea, ihre letzten Mittel zusammenzukratzen und mit ihr nach Südfrankreich zu fahren, wo zwar die Tochter genas, aber sie selber am 13. Juli 1825 in Avignon an einer Lungenentzündung starb.
Ida Boy-Ed urteilte über ihr Leben folgendermaßen: “… daß die erste Hälfte, gerade jene, die Dorotheas Namen Unsterblichkeit gab, doch die ödere, magere gewesen ist, während aus der zweiten dem Beschauer volle, befruchtende Ströme entgegenfluten … Tief verborgen unter den hundert papiernen Decken war Dorotheas Wesenskern unverkümmert geblieben, und in der Stunde, wo sie der Freiheit und dem natürlichen Frauenberufe zurückgegeben war, erhob sich ihre Vollnatur zur köstlichen Entfaltung, Gatten, Kinder, Freund und Freunde beglückend und bereichernd.”[14] Dorothea sah es offenbar anders, denn als Bilanz ihres Lebens schrieb sie die tieftraurigen Worte: “Es gibt keine Weinlese, und so geht es mir mit allem”.[15]
Es ist bitter zu lesen, wie ein derart gestörtes Leben für fremde Zwecke ausgeschlachtet wird. Boy-Ed schließt ihre Hymne an wahres Frauentum mit den Worten: “Da zeigte sich an Dorothea, was sich hundert Jahre später, im furchtbaren Kriege von 1914, unter ganz veränderten Kulturverhältnissen tausendfach erwies. Gerade durch Frauen, die, sei es aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, sei es einer geistigen Strömung folgend, oder durch seltene Gaben, sich einen andern Platz selbständig erobert hatten als den am Familienherd. Nämlich, daß in entscheidenden Epochen der Anteil der Frau an der vaterländischen Erhebung, an der sittlichen und materiellen Kraftentfaltung eines Volkes nicht aus der Summe ihres Wissens geschöpft werden kann, sondern ganz allein aus dem ungebrochenen Schatz einer starken und gesunden Weiblichkeit. Und daß Dorothea Schlözer sich diesen so reich zu bewahren vermochte, bleibt ihr bester Ruhm. Das macht sie zur Vorerscheinung aller jener Frauen, die im harten Berufskampf, in ausgeübter Gelehrsamkeit, im Zwange technischer Erwerbsarbeit sich ihre opferbereite, kraftvolle deutsche Weiblichkeit unzerstört erhalten hatten und in ihr dann in unserm heiligen Kriege so unvergeßlich tapfer dem Vaterland dienten.”[16] Dorothea hätte es bei diesen pathetischen Sätzen wohl sehr verwundert, wie ihr gestörtes Schicksal von einer nationalistischen Schreiberin für deren Hurra-Patriotismus verzerrt und missbraucht wurde. Näher kommt ihr wohl Hedwig Dohm mit ihrer Feststellung: “[...] das abstrakte Gymnasialwissen! Darüber ernsthaft zu reden kommt mir beinahe lächerlich vor. Von der Weisheit, die das simpelste Knabengehirn nicht sprengt, wird auch ein Mädchenkopf nicht aus den Fugen gehen.”[17] Dorothea war mit den geistigen Anforderungen anscheinend kaum überlastet, sondern ging fröhlich und unkompliziert mit enormer Lebenstüchtigkeit zu Wege. Der Bruch in ihrem Leben war die unglückliche Ehe mit Rodde, die in Konkurs und Armut mündete, die sie vergeblich – weil geschäftlich rechtlos – aufzuhalten suchte.
Nicht geistige Überforderung war Dorotheas Dilemma, sondern die Unmöglichkeit, dieses Wissen sinnvoll umzusetzen. Die Doktorin wurde zum Schmuckstück – erst von ihrem egoistischen und geltungssüchtigen Vater und dann von einem verschwenderischen Hallodri, dem die Folgen gleichgültig waren. Was für Möglichkeiten hätten für Dorothea offengestanden? Bei eigenem Vermögen die Existenz als Privatgelehrte. Oder als Hilfskraft eines tyrannischen Vaters, der sie nie aus seinem Einflussbereich entlassen hätte. Alternativ als Ehefrau eines Göttinger Professors, dem sie womöglich weit überlegen gewesen wäre. Ihre enorme Kompetenz eigenständig zu nutzen gab es keine Möglichkeit, denn anders als ihre schriftstellernden Zeitgenossinnen (Sophie La Roche, Caroline Schlegel, Dorothea Veit, Bettina Brentano, Fanny Lewald, Rahel Varnhagen usw.) lagen ihre Interessen nicht auf dem Gebiet der Romane und des literarischen Briefeschreibens, sondern auf dem der Naturwissenschaften. Sie hätte Gelegenheit haben müssen zu forschen, sich mit anderen NaturwissenschaftlerInnen auszutauschen, zu reisen, wie sie es damals im Harz gekonnt hatte. Selbst wenn sie sich von ihrem Mann getrennt und Villers geheiratet hätte, wären ihre Chancen nicht größer gewesen. Mit ihrem entwickelten Verstand muss sie diese Unmöglichkeit gesehen haben.
Dazu kommt das seltsame Phänomen, dass Frauen, die sich emanzipieren und nach eigenen Lebensentwürfen handeln wollen, wissenschaftlicher Frauenbildung oft feindselig gegenüberstanden. Dorotheas Nachbarin Caroline bemerkte zu weiblicher Gelehrsamkeit: “Man schätzt ein Frauenzimmer nur nach dem, was sie als Frauenzimmer ist. Ein redendes Beispiel davon habe ich an der Prinzeßin von Gallizin, die hier war, gesehen, sie war eine Fürstinn, hatte viel Gelehrsamkeit und Kenntniße, und war mit alledem der Gegenstand des Spotts und nichts weniger als geachtet.”[18] Das Zeitthema der Frauen der Romantik war nicht die Gelehrsamkeit, sondern die Liebesheirat. Das ist weniger sentimental, als es anmutet, denn es bedeutet sowohl das Aufbegehren der Töchter gegen die Anmaßung der Väter, die Töchter an einen ungeliebten, oft viel älteren Mann zu verkuppeln, dessen Kinder sie Jahr um Jahr austragen mussten, und der sie in monotonen häuslichen Arbeiten ausbeutete, als auch die Hoffnung, durch eine Liebesheirat vor männlicher Gewalttätigkeit bewahrt zu bleiben. Dass Dorothea mit ihrer Gelehrsamkeit keine Chance hatte, war wohl diesen rebellischen Töchtern bewusst oder unbewusst klar. Ida Boy-Ed verortet das Aufblühen Dorotheas in ihrem Salon in Lübeck und wertet wissenschaftliche Profilierung ebenso wie eigenständige künstlerische Betätigung ihrer Mutter Caroline Friederike mit Nachdruck ab. Dorothea Schlözer fällt zwischen alle Stühle: ihre Begabung wurde stimuliert, aber beschnitten. Ihre Interessen kamen nur zum Zuge in einer Liaison, die von den Zeitgenossen scheel angesehen wurde. Sie hatte weder Geld noch Macht, um das umzusetzen, wozu sie eigentlich talentiert war. Ein Opfer von Männerinteressen. Uns Heutigen bleibt nur die Trauer um diese gigantische Vergeudung menschlicher Begabungen.
(Text von 2019)
[1] Christian von Schlözer I, 434ff., zitiert nach Bärbel und Horst Kern, Madame Doctorin Schlözer – Ein Frauenleben in den Widersprüchen der Aufklärung, München, 1988, s. 33
[2] Auszug aus der Matrikel der Akademie der Künste, Berlin, https://www.adk.de/akademie/mitglieder/suche.htm?we_objectiD=54175, abgerufen 27.3.2019
[3] Ida Boy-Ed, Dorothea Schlözer, http://www.zeno.org/Literatur/M/Boy-Ed,+Ida/Essays/Dorothea+Schlözer (abgerufen 7.2.2019). Ida Boy-Ed (1852-1928) war eine Lübecker Gesellschaftsdame, die zahlreiche Artikel und Lebensbeschreibungen verfasste. Man fragt sich, woher sie die Zeit für die Archivarbeit an verschiedenen Orten genommen hat; insbesondere der Schlözer-Artikel ist gut recherchiert, und sie dürfte (studentische?) Hilfskräfte bezahlt haben, die ihr zuarbeiteten. Über Caroline Friederike Roederer schreibt sie: “Und doch hat die Frau künstlerische Fähigkeiten besessen, wenngleich verbildeter Art. Sie fertigte 'Radelmalereien' an, das heißt, suchte, in der unausrottbaren und immer wiederkehrenden Bestrebung dem Material Gewalt anzutun, mit Nadel und Stickseide zu erreichen, was Aufgabe des Pinsels und der Farbe ist [womit sie nebenbei auch Gobelinstickerei abwertet. Ob ihr das klar war?]. Hierin hatte sie solche Fertigkeiten erlangt, daß sie sogar 1806 zum Ehrenmitgliede der Akademie der bildenden Künste zu Berlin ernannt wurde. Vielleicht ist das aber nur eine Höflichkeit gegen die Gattin des Berühmten und Mutter der Berühmten.” (S. 108)
[4] Christian von Schlözer I, S. 430ff., s. Fußnote 1
[5] Brief an Schmettow vom 9. September 1787, zitiert nach Kern, s. 50
[6] Kern, S. 79
[7] Brief vom 29. Oktober 1781, s. Kern S. 68
[8] Kern, S. 57f.
[9] Boy-Ed, S. 118
[10] Boy-Ed S. 116
[11] Boy-Ed, S. 121
[12] Brief November1797, s. Kern S. 156. Gemeint ist ihre Nachbarin Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling, die unbekümmert ihren erotischen Weg ging.
[13] Leopold von Schlözer, Dorothea von Schlözer der Philosophie Doctor. Ein deutsches Frauenleben um die Jahrhundertwende 1770-1825, Berlin 1923, S. 46. Zitiert nach: Barbara Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur (1500-1800), Stuttgart 1987, S. 50, 362
[14] Boy-Ed, s. 130, 131
[15] Kern, S. 194
[16] Boy-Ed, S 133
[17] Hedwig Dohm, Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung, Berlin 1918, Reprint Frankfurt/Main 1974, S. 38f.
[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Dorothea_Schlözer (abgerufen 7.2.2019)
Verfasserin: Annette Otterstedt
Links
https://de.wikipedia.org/wiki/Dorothea_Schlözer (abgerufen 7.2.2019)
Literatur & Quellen
Bentkamp, Anne. 2020. La Doctoresse: Roman über Dorothea Schlözer. Göttingen. Salsa.
Boy-Ed, Ida. Dorothea Schlözer (abgerufen 7.2.2019) (konservative Gegenposition)
Feyl, Renate. 1983. Der lautlose Aufbruch: Frauen in der Wissenschaft. Darmstadt. Luchterhand.
Kern, Bärbel & Horst. 1988. Madame Doctorin Schlözer. Ein Frauenleben in den Widersprüchen der Aufklärung, München. Beck.
Küssner, Martha. 1976. Dorothea Schlözer: Ein Göttinger Gedenken. Göttingen; Frankfurt; Zürich. Musterschmidt.
Rosendahl, Erich. 1929. Niedersachsens Frauen. Hg. Erich Rosendahl. Niedersächsische Hausbücherei Bd. 4. Hannover. Helwing.
Schmölders, Claudia. Hg. 1997. Deutsche Kinder. Siebzehn biographische Portröts. Reinbek b. Hamburg. rororo TB1690.
Weber-Reich, Traudel. Hg. 1993. “Des Kennenlernens werth”: Bedeutende Frauen Göttingens. Göttingen. Wallstein.
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