geboren am 4. März 1951 in Petershagen/Westfalen
deutsche SPD-Politikerin, Bundesministerin für Bildung und Forschung (1998-2005), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages (seit 2013)
30. Geburtstag am 4. März 2021
Biografie
„Meine Herren und Damen“, mit dieser Anrede überraschte Edelgard Bulmahn vor Jahren ihr Publikum. Zeichen ihres Feminismus? Frauenbewegung? Weit gefehlt. Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit gehören zu den Überzeugungen, die Bulmahn schon mit der Muttermilch eingesogen hatte und die ihr Lebensskript bestimmen.
Wer sich mit Bulmahn über ihren Werdegang unterhält, begreift rasch, wie ungemein wichtig Kindheit und Familie für sie waren und in ihrem Denken und Handeln immer noch sind. Geboren und aufgewachsen in einem 900-Seelen-Dorf; Tochter einer Mutter, die im Krieg den ersten Mann verloren hatte und nach dem Krieg erfahren musste, wie schnell Frauen wieder an die Ränder und in die Abhängigkeit gedrängt wurden – die Erziehung zu Eigenständigkeit, Selbständigkeit und Eigenverantwortung der Töchter war selbstverständlich. Wenn auch vielleicht nicht typisch für eine Generation, in der es manchmal eher um sozialen Aufstieg als um soziale Gerechtigkeit ging. Nicht unbedingt typisch auch die politische Erziehung. In dieser Familie wurde nicht geschwiegen, sondern geredet. Nie wieder Krieg, nie wieder eine menschenverachtende Regierung, das stand im Zentrum der Gespräche, wenn sich die Familie zu Geburtstagen versammelte; es prägte die Auseinandersetzungen des Großvaters mit seinen Kunden im Friseurladen. Auf Mutter und Großvater kommt Bulmahn immer wieder zurück, wenn sie über ihren politischen Werdegang spricht. Ebenso auf den Vater, einen Binnenschiffer, der viel unterwegs ist und von dem sie die Aufmerksamkeit für den Kulturraum Weser mit bekommt.
Sie ist zehn, als der Eichmannprozess beginnt, und zwölf beim Auschwitzprozess. Beide Prozesse beeindrucken das Kind nachhaltig, sie erinnert sich noch heute an die Diskussion in Familie und Schule.
Was in der Familie begann, geht also in der Schule weiter. Im Aufbaugymnasium ist sie in der Schülerselbstverwaltung, wird die erste Schulsprecherin. Sie hilft in der Teestube der Kirche mit; erkennt, dass der Weg zu gesellschaftlicher Veränderung, z. B. zu mehr Chancengleichheit, über parlamentarische Prozesse führt. Mit 18 Jahren tritt die Schülerin in die SPD ein, wird Mitglied im Ortsverein Döhren/Petershagen. 1972, nach dem Abitur, geht sie zunächst nach Israel, um andere, neue Gesellschaftsentwicklungen und Lebensformen kennen zu lernen. Und lernt dort nicht nur das Treckerfahren, sondern findet sich – der Auschwitzprozess ist noch keine zehn Jahre her, das skandalöse Rehse-Urteil erst vier – hinein versetzt in das Drama der deutsch-israelischen Geschichte.
Wie in jedem Leben, so gibt es auch im Leben der Edelgard Bulmahn Glück, man mag es auch Zufall nennen. Das Glück, dass sie Politische Wissenschaft bei Lehrern wie Negt, Seifert und Vester studieren kann; in einem studentischen Umfeld, das von der politischen Auseinandersetzung und Aktion lebt. Glück, dass sie nach dem Staatsexamen im Referendariat in Walsrode auf ein politisch aktives Kollegium trifft. Das Glück auch, dass ihr neuer SPD-Ortsverein, in Hannover-Linden, äußerst rege ist und – es ist die Zeit der Berufsverbote – in die kommunale wie die Bundespolitik eingreift. Aber weder Glück noch Zufall, dass ihr Ortsverein sie auffordert, sich der Wahl zur Nachfolge von Helmut Rohde zu stellen. Denn längst hat sie mit ihrer Arbeit Gewicht und auch ihr eigenes Profil. Während wir sprechen, bringt eine Mitarbeiterin Fotos und Flyer aus dieser Zeit. Eines ihrer Veranstaltungsthemen: Mädchen können alles. Sie gewinnt diese Wahl, so wie sie seit 1987 auch jede Bundestagswahl über das Direktmandat gewonnen hat. Heute ist sie die einzige Frau, die seit 1987 immer wieder direkt in den Bundestag gewählt worden ist. Bulmahn hatte bis dahin als Gymnasiallehrerin für Englisch und Politik an der Lutherschule in Hannover gearbeitet. Ich höre ihr zu und bedaure, dass diese Frau der Schule nicht erhalten geblieben ist.
Mit der Wahl in den Bundestag ändert sich ihr Leben. Einerseits. Andererseits auch nicht. Ihre Themen, ihre Leitlinien und Ziele hatte sie ja längst gefunden.
Politik, sagt sie, darf nicht zur Reparatur von Fehlentwicklungen verkommen. Politik bedeutet, Zukunft gestalten. Sie ergreift diese Gestaltungsmöglichkeit, aber nicht jede, sondern sie ist fokussiert, in der Sache konsequent, und sie verfolgt ihre politischen Ziele auch gegen Widerstände.
Technikentwicklung und Technikgestaltung ist eines dieser Ziele. Die Neue in der SPD-Fraktion erhandelt sich den Sitz im Forschungs- und Technologieausschuss; sie wird Stellvertretende Vorsitzende der Enquetekommission für Technikfolgenabschätzung. Dann Vorsitzende des Ausschusses; Sprecherin der Bundestagsfraktion für Bildung und Forschung. Über die Jahre kommt die Gentechnik dazu (längst hat sie Dawkins gelesen), genau so wie Energie- und Ressourceneffizienz; sie fördert Forschungsprogramme zur Informations- und Kommunikationstechnologie oder das erste Nanotechnologieprogramm, später dann sozialökonomische Programme wie Stadtplanung und -entwicklung unter den Bedingungen des demographischen Wandels.
Mit ihrem Amtsantritt als Bundesministerin für Bildung und Forschung beginnt 1998 nicht nur für Bulmahn, sondern auch für die Hochschulen ein neuer Abschnitt. Kaum ein Bereich, der nicht umgegraben wird. Der Forschungs- und Technologiebereich bleibt weiter im Fokus. Jetzt aber hat sie die Position, dauerhafte und nachhaltige Programme für Geschlechtergerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit einzurichten. Neben Programmen für die Stärkung von Frauenprofessuren, der grundlegenden Reform des BAföGs und der Einführung der Exzellenzinitiative ist die Juniorprofessur zur schnelleren Eigenständigkeit des wissenschaftlichen Nachwuchses wohl die größte Veränderung im Hochschulgefüge. Manche Fakultäten mauern, weil damit die Habilitation zur Disposition zu stehen droht. Bulmahn wiederum stemmt sich mit aller Macht gegen Studiengebühren. Die dann doch kommen, inzwischen jedoch fast überall wieder abgeschafft sind.
Die erste PISA-Studie der OECD enthüllt ein enormes soziales Gefälle. Die Folge ist das Forum Bildung und 2003 der erste Schritt hin zu Ganztagsschulen.
Nach dem Ende des Ministeramtes geht es in Enquetekommissionen (z.B. Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität) und Ausschüssen (natürlich Wirtschaft und Technologie, aber auch im Auswärtigen Ausschuss) und in der Atlantik-Brücke weiter.
Ist die Frau nie müde? Wenn ja, dann merkt man es ihr nicht an. Was sie ausstrahlt, im persönlichen Gespräch genauso wie in großen Veranstaltungen oder im Wahlkampf, ist eine unglaubliche Energie; ihre unbedingte Überzeugung von der Kraft und den Gestaltungsmöglichkeiten, den Rechten und den Rahmenbedingungen der parlamentarischen Arbeit. Jetzt ist sie Vizepräsidentin des Bundestages, und sie hat sich vorgenommen, in diesem Amt eine Botschafterin für die parlamentarische Demokratie zu sein.
Schon im Gehen, frage ich, wieso ihr Mann ihren Namen mit übernommen hat. Sie erzählt lachend, wie der Standesbeamte ihnen damals ausführlich das Namensrecht erläutert und darüber referiert, wieso sie auf jeden Fall den Namen des Mannes führen solle. Joachim Wolschke aber spontan erklärt, dann würden sie eben den Namen der Frau als Familiennamen nehmen. Und so kommt er zu seinem Doppelnamen und der Beamte zum Trauen.
Was tut sie zur Entspannung? Fahrrad fahren und lesen, gerne englisch, sie hat auch immer noch die Bücher vom Studium. Wir tauschen Titel. Ich lese analog, sie natürlich digital.
Verfasserin: Liselotte Glage
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