(Haper Nelle Lee)
geboren am 28. April 1926 in Monroeville, Alabama
gestorben am 19. Februar 2016 in Monroeville, Alabama
US-amerikanische Schriftstellerin
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Literarische Fortsetzungen sind so eine Sache. Höchste Erwartungen treffen auf schlimmste Befürchtungen – und besonders hoch ist die Fallhöhe, wenn das Erstlingswerk zu den meistgelesenen englischsprachigen Büchern zählt: Wer die Nachtigall stört (To Kill a Mockingbird, 1960) wurde bis heute über 40 Millionen Mal verkauft, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und bereits zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung mit einem Oscar-prämierten Gregory Peck verfilmt. Nach einem solchen Meisterwerk ein weiteres Buch zu schreiben, ist daher keine leichte Sache. Vermutlich war dies auch der Grund, warum es um Harper Lee, der Autorin des Weltbestsellers, 55 Jahre lang still geworden war.
Still im wahrsten Sinne des Wortes, denn ab Mitte der 1960er Jahre hatte Lee alle Anfragen um Interviews abgelehnt. Sie lebte teilweise in New York, teilweise in Monroeville, ihrer Heimatstadt, wo sie am 28. April 1926 als Nelle Harber Lee (der Vorname ihrer Großmutter Ellen rückwärts) zur Welt gekommen war – und die so sehr an Maycomb erinnert, an das fiktive Dörfchen aus Wer die Nachtigall stört, wo Jean Louise, genannt Scout, miterlebt, wie ihr Vater, der Anwalt Atticus Finch, einen schwarzen, zu Unrecht angeklagten Arbeiter verteidigt. Doch noch mehr autobiographische Elemente lassen sich in Wer die Nachtigall stört finden: So wie Scout war auch Lee ein Wildfang, draufgängerisch, streitsüchtig, aber mit einem kritischen Geist und einer genauen Beobachtungsgabe. Wie Scout nannte sie ihren Vater beim Vornamen, wie (die erwachsene) Scout studierte sie Jura.
1949 ging Lee jedoch ohne Hochschulabschluss nach New York City, um Schriftstellerin zu werden – und erfüllte sich damit jenen Traum, den sie seit Kindheitstagen mit ihrem Jugendfreund geteilt hatte: Zusammen mit Truman Capote (der sich in Gestalt des Nachbarjungen Dill auch in Wer die Nachtigall stört findet) hatte sie auf der vom Vater geschenkten Schreibmaschine ihre ersten Geschichten verfasst. 1960 erschien dann Wer die Nachtigall stört, 1966 Kaltblütig von Capote. Doch mit zunehmendem Erfolg entfernten sich die beiden voneinander. Capote nahm Drogen, wurde alkoholabhängig; Lee hingegen zog sich zurück.
Doch dann die Nachricht im Februar 2015: Der Verlag Penguin Random House kündigte die Veröffentlichung eines zweiten Romans unter dem Titel Gehe hin, stelle einen Wächter (Go Set a Watchman) an. Aber handelt es sich dabei wirklich um eine Fortsetzung? Inhaltlich: Ja. Entstehungsgeschichtlich: Nein, denn tatsächlich ist Gehe hin, stelle einen Wächter das Manuskript, das Lee im Jahr 1957 beim Verlag J. B. Lippincott eingereicht hatte, und aus dem dann Wer die Nachtigall stört wurde. Der Verlag hatte sich eine naivere Perspektive aus Sicht der kleinen Scout gewünscht. Lee überarbeitete ihren Text und schuf aus den Erinnerungspassagen Scouts einen neuen Roman: Wer die Nachtigall stört. Gehe hin, stelle einen Wächter geriet in Vergessenheit und wurde erst 2014 von Lees Anwältin wiederentdeckt. Vieles liegt hier im Dunklen, auch ob Lee diese Veröffentlichung überhaupt selbst wollte oder gar nichts davon mitbekam, denn 2007 hatte Lee einen Schlaganfall erlitten, von dem sie sich bis zu ihrem Tod nicht mehr erholte. Sie starb am 19. Februar 2016, ein Jahr nach der Veröffentlichung.
Ob nun aber mit oder ohne Zustimmung Lees, sobald Gehe hin, stelle einen Wächter über die Ladentische ging, stand nicht mehr die Entstehungsgeschichte im Mittelpunkt, sondern das Gefühl, um einen literarischen Helden betrogen worden zu sein. Was war passiert? In Gehe hin, stelle einen Wächter muss Scout, die inzwischen in New York lebt und auf Besuch in ihre Heimatstadt kommt, miterleben, wie sich ihr Vater gegen die Aufhebung der Rassentrennung auflehnt und sogar an Treffen des Ku-Klux-Klans teilnimmt. Atticus ist für Scout kein bürgerlicher Held wie aus dem Bilderbuch mehr, er wird zu einem ambivalenten Charakter. Während (vermutlich wie vom Verlag damals gewünscht) die Welt in Wer die Nachtigall stört klar geteilt ist in Gut und Böse, weiß der Leser von Gehe hin, stelle einen Wächter nicht so recht, was er von den Figuren halten soll. Die Lektüre verunsichert, und vielleicht passt diese Verunsicherung mehr denn je zu unserer heutigen Zeit.
Harper Lee hat in den 1950ern ein Werk geschrieben, das auch heute noch eine aktuelle Botschaft enthält: Es appelliert an jeden Einzelnen, einen eigenen Standpunkt einzunehmen und für diesen einzutreten. Und so heißt es am Ende von Gehe hin, stelle einen Wächter: »Der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht.«
(Text von 2020)
Verfasserin: Janina Vogel
Links
Nachruf auf Harper Lee in der New York Times
Literatur & Quellen
Lavizzari, Alexandra. 2016. Harper Lee und Truman Capote: Eine Freundschaft. Berlin. ebersbach & simon.
Rüdenauer, Ulrich. 2015. “Alabamas Jane Austen”. In: ZEIT. 15. 7 2015. Online: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2015-07/harper-lee-gehe-hin-stelle-einen-waechter/komplettansicht?print.
Williams, Andrew. 2019. To Kill a Mockingbird von Harper Lee: Lektüreschlüssel. Stuttgart. Reclam.
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.