geboren am 17. September 1846 in Schaerbeek/Schaarbeek, Belgien
gestorben am 5. Juni 1913 in Ixelles/Elsene, Belgien
belgische Frauenrechtlerin, Juristin und Lehrerin
110. Todestag am 5. Juni 2023
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Es begann im Dezember 1888 als scheinbar unbedeutendes Verfahren vor dem Brüsseler Appellationsgericht: Marie Popelin, mit 42 Jahren nicht mehr ganz junge, frisch promovierte Juristin, wollte den Berufseid ablegen, um als Rechtsanwältin arbeiten zu können. Sie verlor ihren Prozess, ging in Berufung, unterlag im November des folgenden Jahres erneut. Die „Affäre Popelin“ weckte enormes öffentliches Interesse, zahlreiche Artikel in belgischen und internationalen Zeitungen kommentierten die Angelegenheit, die Verhandlungen fanden – trotz der trockenen, juristischen Materie – vor großem Publikum statt.
Vielen Frauen war klar, was auf dem Spiel stand: Nachdem im Bereich der Mädchenbildung einiges erreicht worden war, ging es nun um das Recht auf freie Berufsausübung und letztendlich um die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Die „Argumente“, mit denen Marie Popelins Anliegen vom Gericht zurückgewiesen wurde, machten dies nur allzu deutlich. Nachdem ihr Mitstreiter, der Jurist Louis Frank, in einem ausführlichen Gutachten akribisch nachgewiesen hatte, dass kein Gesetzestext es Frauen untersagte, als Anwältinnen zu arbeiten, befand das Gericht, „die besondere Natur der Frauen, ihre schwache körperliche Konstitution“, ihre Aufgaben als Hausfrauen und Mütter würden ihnen weder Zeit noch Kraft lassen, um den anstrengenden Beruf einer Anwältin auszuüben. Die ihr verbleibenden 24 Lebensjahre zeigte Marie Popelin, dass sie genug Zeit und Kraft besaß, um gegen dieses und andere, ähnliche Verbote anzukämpfen. Die „Affäre Popelin“ wurde so zur Initialzündung für die bürgerliche belgische Frauenbewegung.
Marie Popelin entstammte einer gut situierten Brüsseler Familie. Wie ihre jüngere Schwester Louise wählte sie zunächst den einzigen jungen Frauen des Bürgertums offen stehenden Bildungsweg – sie absolvierte an der „Ecole normale“ eine Ausbildung zur Lehrerin. 1867, mit 21 Jahren, holte die bekannte Pädagogin Isabelle Gatti de Gamond sie an ihre neu gegründete laizistische Mädchenschule, die erste belgische Schule überhaupt, in der die Schülerinnen eine solide, breit gefächerte wissenschaftliche Ausbildung bekamen, nach dem Motto „Emanzipation durch Arbeit, Talent und Wissenschaft“.
1875 wurde Popelin Leiterin einer mit Unterstützung der Freimaurer eingerichteten Mädchenschule in der Industriestadt Mons; zusammen mit ihrer Schwester Louise richtete sie auch dort Kurse nach dem reformpädagogischen Ansatz von Gatti de Gamond ein. Ab 1879 arbeitete sie in der Lehrerinnenausbildung, ab 1882 wieder als Schulleiterin in Brüssel. Als sie, inzwischen 37 Jahre alt, aus administrativen Gründen ihre dortige Stelle verlor, schrieb sie sich als eine der ersten Studentinnen überhaupt an der Freien Universität Brüssel zum Jurastudium ein, das sie fünf Jahre später mit Auszeichnung abschloss. Nachdem ihr Versuch, die Zulassung zur Rechtsanwältin durchzusetzen, gescheitert war, arbeitete sie als Assistentin in einem Anwaltsbüro, widmete sich aber bald ganz dem feministischen Kampf.
Beeindruckt von zwei feministischen Kongressen in Paris, gründete sie 1892 die „Ligue belge du droit des femmes“, die erste belgische Frauenrechtsorganisation, deren vorrangiges Ziel es war, die zivilrechtliche Gleichstellung von Frauen zu erreichen. Als Leiterin der Rechtsabteilung, später als Präsidentin der Liga, brachte sie zahlreiche Gesetzesinitiativen auf den Weg – für das Recht der Frauen, in Zivilprozessen vor Gericht aussagen zu können, gleichberechtigt mit männlichen Familienmitgliedern einem Familienrat anzugehören und eine Vormundschaft zu übernehmen, ohne ausdrückliche Zustimmung ihres Ehemannes ein Sparkonto eröffnen und über ihre Ersparnisse verfügen zu können - alles Schritte, um die Frauen aus der im Code Napoléon festgelegten Unmündigkeit zu befreien. Ebenso wichtig wie die rechtliche war ihr die ökonomische Gleichberechtigung – überzeugt davon, dass „die Frau mehr ist als Ehefrau und Mutter“, forderte sie die freie Berufsausübung, ja sogar – ihrer Zeit weit voraus – Maßnahmen, die die beruflichen Chancen von Frauen aktiv fördern sollten.
Angeregt durch ihre Kontakte zu Feministinnen aus anderen Ländern, besonders zu May W. Sewall, der US-amerikanischen Präsidentin des Internationalen Frauenrates, versuchte Popelin, ihre Arbeit in Belgien auf eine breitere Basis zu stellen. 1897 organisierte sie anlässlich der Weltausstellung in Brüssel einen internationalen feministischen Kongress mit großer Beteiligung, 1900 rief sie die belgischen Frauenverbände zum Zusammenschluss auf, 1905 schließlich gründete sie den belgischen Frauenrat, „Conseil national des femmes belges“, in der Hoffnung, eine unabhängige, partei- und richtungsübergreifende Frauenorganisation schaffen zu können – ein mühsames Unterfangen; weder die sozialistischen noch die christlichen Verbände folgten dem Aufruf. Trotzdem war Popelins Lebensbilanz zum 20. Jahrestag der Liga positiv: Die meisten ihrer Forderungen zur zivilrechtlichen Gleichstellung von Frauen waren inzwischen Gesetz geworden. Die Zulassung von Anwältinnen allerdings erlebte sie nicht mehr, diese wurde in Belgien erst 1922, neun Jahre nach Marie Popelins Tod, durchgesetzt.
Heute gilt Marie Popelin als wichtigste Persönlichkeit der belgischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts, eine Straße im Brüsseler Stadtteil Saint-Josse ist nach ihr benannt und die 2-Euro-Gedenkmünze zum 100. Internationalen Frauentag am 8. März 2011 trägt ihr Abbild neben dem von Isala Van Diest, der ersten belgischen Ärztin, die 1892 zusammen mit ihr die belgische Frauenliga gegründet hatte.
(Text von 2013)
Verfasserin: Andrea Schweers
Zitate
Die Frau ist nicht der Satellit des Mannes. (Marie Popelin)
Literatur & Quellen
de Bueger-Van Lierde, Françoise. “A l’origine du mouvement féministe en Belgique: ‘L’Affaire Popelin’” In: Revue belge de philologie et d’histoire. Tome 50 fasc. 4, 1972. Histoire (depuis l’Antiquité) – Geschiedenis (sedert de Oudheid). pp. 1128-1137.
Gubin, Éliane, Catherine Jacques, Valérie Piette & Jean Puissant. 2006. Dictionnaire des femmes belges: XIXe et XXe siècles. Brüssel. Éditions Racine.
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