(Geburtsname: Hermine Santruschitz (später in den Niederlanden Santrouschitz geschrieben), Ehename: Hermine Gies-Santrouschitz, Pseudonym im Tagebuch von Anne Frank: Anne van Santen, Rufname: Miep)
geboren am 15. Februar 1909 in Wien, Österreich-Ungarn
gestorben am 11. Januar 2010 in Hoorn, Niederlande
österreichisch-niederländische Sekretärin, Helferin beim Untertauchen von Anne Frank und ihrer Familie
15. Todestag am 11. Januar 2025
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Kindheit in Wien
Hermine Santruschitz wurde 1909 als erste Tochter einer Wiener Arbeiterfamilie geboren, eine zweite folgte zehn Jahre später. Die finanzielle Lage der Familie war so schlecht, dass es ihnen an Essen mangelte. Dies führte bei ihrer ältesten Tochter dazu, dass sie oft krank und zudem stark untergewichtig war. Außerdem litt sie an Tuberkulose.
Im Dezember 1920 wurde sie daher im Rahmen einer Hilfsaktion für hungernde Kinder in die Niederlande geschickt. Dies war eine Erfahrung, die sie für ihr Leben prägte: Sie erlebte, wie schnell und unschuldig man in Schwierigkeiten geraten konnte – eine Erfahrung, die sie auch während der Besatzung der Niederlande wieder mit Juden und Jüdinnen machen musste. Daher schien es ihr selbstverständlich, diesen zu helfen, soweit es ihr möglich war.
Niederlande
In Leiden wurde sie bei der Familie Nieuwenburg untergebracht, die vier Söhne und eine Tochter hatte, und in einem kleinen Haus außerhalb der Stadt wohnte. Der Vater, Laurens Nieuwenburg, war Vorarbeiter in einer Kohlenfirma. Die Mutter, Johanna Francisca Moene, kümmerte sich um die Kinder. Der älteste Sohn sprach zumindest ein paar Brocken Deutsch und konnte so anfangs übersetzen. Aber Hermine Santruschitz lernte in der Schule schnell Niederländisch und war nach einigen Monaten bereits Klassenbeste. In der Familie erhielt sie den Rufnamen Miep. Es war eine politisch interessierte Familie, die sich auch für klassische Musik begeisterte.
Geplant war ein Aufenthalt von drei Monaten, wegen ihrer schlechten Gesundheit gab es erst noch eine Verlängerung von weiteren drei Monaten – und dann blieb sie einfach in Leiden. Zwei Jahre später zog sie mit der Familie nach Amsterdam, das sie wegen seiner Lebendigkeit, des politischen Lebens und der Konzertsäle und Kinos sehr mochte.
1925 besuchte sie mit ihren Gasteltern ihre Eltern und ihre jüngere Schwester in Wien, wollte dort aber nicht bleiben, da sie inzwischen zu sehr in den Niederlanden verwurzelt war. Sie war erleichtert, dass ihre Eltern einwilligten, dass sie dorthin zurückkehren durfte.
Bürokraft
Nach Abschluss ihrer Schulzeit arbeitete Miep Santrouschitz sechs Jahre lang als Sekretärin in einer Textilfabrik, bis sie 1933 während der Wirtschaftskrise entlassen wurde. In dieser Fabrik lernte sie Jan Gies, ihren späteren Mann kennen, mit dem sie auch nach ihrer Entlassung in Kontakt blieb.
Nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit fand sie eine zunächst befristete Stelle bei der Nederlandsche Opekta Mij., deren Geschäftsführer Otto Frank, Anne Franks Vater, war. Sie verstanden sich von Anfang an gut und führten zahlreiche politische Diskussionen. Aus der befristeten Stelle wurde auf Dauer eine unbefristete.
Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wandte sich Miep Santrouschitz, die bis zu dieser Zeit noch die österreichische Nationalität hatte, jetzt aber plötzlich die deutsche, mit einen Brief an Königin Wilhelmina, in dem sie diese um die niederländische Staatsbürgerschaft ersuchte, was diese jedoch ablehnte.
Besatzung
1940 wurden dann auch die Niederlande von den Deutschen besetzt. Während einer Vorladung ins deutsche Konsulat wurde ihr Pass ungültig gemacht, da sie sich geweigert hatte, einer NS-Mädchenorganisation beizutreten. Außerdem wurde sie aufgefordert, innerhalb von drei Wochen nach Wien auszureisen. Die Ausländerabteilung der Polizei riet ihr, einen Niederländer zu heiraten, um die niederländische Nationalität zu erhalten.
Am 16. Juni 1941 heirateten Jan und Miep Gies, wodurch sie automatisch die niederländische Staatsangehörigkeit bekam. Bei der Feier waren auch Otto und Anne Frank anwesend. Bei dieser Gelegenheit bat Otto Frank Jan Gies, seine Geschäftsführung zu übernehmen, da absehbar war, dass er diese als Jude nicht mehr lange halten konnte. Er selber wollte nur noch als Berater tätig sein. Die Änderungen wurden Ende des Jahres notariell bestätigt und Jan Gies war froh, dass er Otto Frank helfen konnte.
Als Otto Frank Miep Gies von seinen Plänen erzählte, zusammen mit der Familie van Pels unterzutauchen, gaben sowohl sie als auch ihr Mann ihm sofort das Versprechen, sie zu unterstützen und die Verantwortung für die Versorgung der Untergetauchten zu übernehmen. Außerdem bat Otto Frank noch seine MitarbeiterInnen Johannes Kleiman, Bep Voskuijl und Victor Kugler um Unterstützung.
Bereits kurz danach, Anfang Juli 1942, erhielt Margot Frank den Aufruf, sich zum Arbeitseinsatz in Deutschland zu melden. Daraufhin beschloss die Familie, dass der Zeitpunkt gekommen war, unterzutauchen. Das Hinterhaus, das Teil des Hauses war, in dem die Firma von Otto Frank untergebracht war, war bereits seit einiger Zeit dafür vorbereitet worden.
Die beiden Frauen waren für die Einkäufe der Untergetauchten zuständig. Außerdem besorgte Miep Gies ihnen wöchentlich Bücher aus der Bibliothek. Die HelferInnen informierten die Untergetauchten weiterhin über die politische Situation und über die Lage in Amsterdam.
Die täglichen Einkäufe wurden aufgrund der schwierigen Situation während des Krieges immer problematischer. Zudem versorgten Miep und Jan Gies nicht nur die Versteckten im Hinterhaus, sondern seit 1943 auch einen Studenten bei sich zu Hause.
Am 4. August 1944 kam es zur Verhaftung der Untergetauchten durch die „Grüne Polizei“. Ob sie verraten wurden, konnte bis heute nicht zweifelsfrei geklärt werden, wahrscheinlicher ist jedoch, dass das Versteck zufällig entdeckt wurde. Zwei der Helfer, Kleiman und Kugler, wurden verhaftet, Miep Gies, die währenddessen anwesend war, jedoch nicht. Der Befehlshaber Karl Josef Silberbauer stammte wie sie aus Wien und sah von einer Verhaftung ab. Einige Tage später bot sie ihm Geld für die Freilassung der Familie Frank, worauf er jedoch nicht einging.
Noch am Tag der Verhaftung rettete Miep Gies persönliche Gegenstände aus dem Hinterhaus, darunter auch das Tagebuch von Anne Frank und ihre weiteren Aufzeichnungen. Diese hob sie bis nach dem Krieg in ihrem Büro auf, ohne sie jedoch zu lesen. Wie sie später sagte, hätte sie sie sonst vernichten müssen, da sie zu viel belastendendes Material gegen sie und die anderen HelferInnen enthielten.
Nach der Verhaftung und Deportation war Miep Gies die Einzige, die die Geschäfte der Firma weiterführen konnte, bis Kleiman, der aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands freigelassen worden war, im September 1944 zurückkam und die Leitung übernahm.
Nachkriegszeit
Im Juni 1945 kam Otto Frank nach Amsterdam zurück und zog zu Miep und Jan Gies, den Menschen, die ihm am nächsten standen. Erst als er den Brief mit der Nachricht vom Tode seiner Töchter erhielt, gab Miep Gies ihm sämtliche Aufzeichnungen von Anne Frank, da sie ihr diese nicht mehr persönlich zurückgeben konnte. Otto Frank wollte ihr immer wieder etwas daraus vorlesen, aber sie weigerte sich, selbst als das Buch 1947 zum ersten Mal erschien:
„Und ständig wiederholte ich meine Weigerung. Ich konnte den Schmerz nicht noch einmal durchleben. Ich wollte die alten Wunden nicht wieder aufreißen.“
Letztendlich ließ sie sich aber doch von Otto Frank überreden und las die zweite Auflage:
„Ich las das ganze Tagebuch, ohne Unterbrechung. Vom ersten Wort an hörte ich Annes Stimme, die da aus dem Buch auferstand, so voller Leben, Stimmungen, Neugier, Empfindungen. Anne war nicht mehr, doch diese Stimme blieb unzerstörbar. Sie lebte weiter in meinem Inneren.“
Im Mai 1947 kündigte Miep Gies ihre alte Arbeitsstelle, da sie jetzt drei Männer zu versorgen hatte, was ihr Arbeit genug war: ihren Ehemann Jan, Otto Frank, der seit seiner Rückkehr aus Auschwitz bei ihnen wohnte, und von 1947 bis 1949 auch noch dessen alten Freund Albert Cauvern. Im Juli 1950 wurde ihr Sohn Paul geboren. 1952 zog Otto Frank in die Schweiz, wo ihn Miep und Jan Gies regelmäßig besuchten.
1948 und 1963 war Miep Gies eine der wichtigsten ZeugInnen bei den Ermittlungen um den Verräter der im Hinterhaus Untergetauchten.
Zusammen mit der US-amerikanischen Autorin Alison Gold verfasste Miep Gies das Buch Meine Zeit mit Anne Frank, das 1987 in den USA, den Niederlanden und Deutschland erschien. Sie fühlte sich geehrt, nach dessen Veröffentlichung auf Veranstaltungen weltweit von ihren Erinnerungen an Anne Frank und die anderen Untergetauchten erzählen zu dürfen.
Jan Gies starb 1993 in Amsterdam. Miep Gies verbrachte ihre letzten Lebensjahre in Hoorn, wo sie am 11. Januar 2010 im Alter von 100 Jahren verstarb.
Diverses
Miep Gies wurde mehrfach für ihre Verdienste als Helferin geehrt: so erhielt sie 1972 (zusammen mit ihrem Mann Jan Gies) die “Ehrenmedaille der Gerechten” der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, 1990 die Raoul-Wallenberg-Medaille in den USA, 1994 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse in Deutschland, 1995 den Orden von Oranje-Nassau als Ritter durch Königin Beatrix, 2009 den „Goldenen Rathausmann“ in Wien, sowie das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich im gleichen Jahr.
Im Frühjahr 1996 nahm sie zusammen mit dem Filmemacher Jon Blair den Oscar für den Dokumentarfilm Anne Frank Remembered (Anne Frank – Zeitzeugen erinnern sich) entgegen.
Im Oktober 2009 wurde ein 1972 entdeckter Asteroid von der Internationalen Astronomischen Union nach ihr benannt. (Text von 2019)
Verfasserin: Doris Hermanns
Zitate
“Annes Leben – und ihr Tod – haben deshalb für all diejenigen symbolischen Wert, die heute Vorurteilen, Diskriminierungund Verfolgung ausgeliefert sind: Sie steht für die absolute Unschuld der Opfer.”
„Anne kann nicht stellvertretend den Platz dieser vielen Individuen einnehmen, denen die Nazis ihr Leben geraubt haben. Sie soll es auch nicht. Jedes Opfer vertrat seine eigenen Weltanschauungen und Ideale, jedes Opfer hatte eine einzigartige, persönliche Bedeutung für seine Verwandten und seine Umgebung.“
„Ich konnte Annes Leben nicht retten – und ich bin darüber tief erschüttert.
Ich konnte ihr jedoch helfen, zwei Jahre länger zu leben. In diesen zwei Jahren hat sie ihr Tagebuch geschrieben, das Millionen Menschen in aller Welt Hoffnung gibt und zu mehr Verständnis und Respekt aufruft. Das bestätigt meine Überzeugung, daß jeder Versuch besser ist als Untätigkeit. Ein Versuch kann schiefgehen, bei Untätigkeit ist der Mißerfolg garantiert.“
„Ich konnte Annes Tagebuch retten und so dabei helfen, daß ihr größter Wunsch in Erfüllung ging. ›Ich will von Nutzen und Freude sein für die Menschen, die um mich herum leben und die mich doch nicht kennen. (…) Ich will fortleben nach meinem Tod.‹“
(Alle Zitate aus: Miep Gies mit Alison Gold: Meine Zeit mit Anne Frank)
Links
Website von Miep Gies: http://www.miepgies.nl/de/
Literatur & Quellen
Literatur von Miep Gies:
Nachwort, in: Melissa Müller: Das Mädchen Anne Frank. Die Biographie (2000). München, Econ Ullstein List Verlag
Mit Alison Gold: Meine Zeit mit Anne Frank (1987). (Anne Frank Remembered: The Story of the Woman Who Helped to Hide the Frank Family) Bern und München.
Literatur über Miep Gies:
Flitner, Bettina (2004): Ein Besuch bei Miep Gies. In: Frauen mit Visionen – 48 Europäerinnen. München, Knesebeck.
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