Biographien Sofja Andrejewna Tolstaja

(geb. von Behrs)
geboren am 22. August 1844 in Pokrowoskoje-Streschnjowo (bei Moskau)
gestorben am 4. November 1919 in Jasnaja Poljana
russische Schriftstellerin und Verlegerin, Ehefrau von Lew Tolstoj
100. Todestag am 4. November 2019
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Sofja Andrejewna Tolstaja weinte auf dem Weg zur Kremlkirche, in der die hastig arrangierte Hochzeitszeremonie stattfinden sollte. Sie weinte aus Angst vor dem bevorstehenden Abschied von Eltern und Geschwistern und wegen des beunruhigenden Gefühls, dass etwas „Unausweichliches, Unwiderrufliches“ mit ihr geschah. Fast 50 Jahre an der Seite des „genialen und hochkomplizierten“ Grafen Tolstoj sollten folgen, fast 50 Jahre, in denen sie mit schier übermenschlicher Energie die ihr gestellten Aufgaben als Mutter, Ehefrau, Schriftstellergattin erfüllte – und der geniale Graf Tolstoj hatte sehr genaue und sehr traditionelle Vorstellungen von diesen Aufgaben.
Sofja Behrs, Tochter des kaiserlichen Hofarztes, aufgewachsen in einer gutbürgerlichen Familie, eine gebildete, literarisch und künstlerisch interessierte junge Frau, war gerade 18 geworden, als der 16 Jahre ältere Lew Tolstoj, ein Jugendfreund ihrer Mutter und gern gesehener Gast der Familie, um ihre Hand anhielt. Tolstoj, Sprössling einer der ältesten russischen Adelsfamilien und bereits ein vielgelesener Schriftsteller, erhoffte sich von der Eheschließung ein Ende seines liederlichen Lebenswandels, für den er sich selbst, v.a. aber die Frauen, verachtete. Während der einwöchigen Verlobungszeit gab er seiner Braut seine Tagebücher zu lesen – sie erfuhr von exzessivem Sexleben, von Bordellbesuchen, Trinkgelagen und Nächten in Spielsalons, von der leidenschaftlichen Affäre mit der schönen Leibeigenen Aksinja, mit der er einen unehelichen Sohn hatte.
Sofja war zutiefst verstört.Sofort nach der Eheschließung brachen die Jungvermählten in einer zweitägigen Kutschfahrt auf nach Jasnaja Poljana. Der 200 km südlich von Moskau gelegene Landsitz der Tolstojs wurde für die folgenden 18 Jahre Sofjas Lebensmittelpunkt. Sie war verantwortlich für die Organisation des großen Haushaltes, versuchte, die wenig komfortablen Wohnverhältnisse zu verbessern (z.B. durch Einführung von Bettwäsche), übernahm nach und nach auch die finanzielle Verwaltung des Gutes, beteiligte sich am Unterricht in der von Tolstoj eröffneten Schule für Bauernkinder, bemühte sich, seine phasenweise Begeisterung für die Landarbeit zu teilen (mit wenig Erfolg, vom Stallgeruch wurde ihr schlecht). Und sie stillte, erzog und unterrichtete ihre eigenen Kinder. Zwischen ihrem 19. und 46. Lebensjahr durchlebte sie 16 Schwangerschaften, drei endeten mit einer Fehlgeburt, fünf Kinder starben bereits in jungen Jahren. Wenn die Ärzte aus Rücksicht auf die Gesundheit der Mutter zur Empfängnisverhütung rieten, drohte Tolstoj mit Trennung.
1863, ein Jahr nach der Eheschließung, begann Tolstoj mit der Niederschrift seines monumentalen Werks Krieg und Frieden, und Sofja fand ihre wichtigste Rolle als Beraterin und Kopistin ihres Mannes. Allabendlich übertrug sie Tolstojs Texte in eine leserliche Reinschrift, arbeitete am nächsten Abend die von ihm vorgenommenen Änderungen ein, bearbeitete später nach Erstellung der Druckbögen die Korrekturfahnen. Nach 6 Jahren gemeinsamer Arbeit erschien der Roman, der Tolstojs Weltruhm begründete. „Dies ist dein und irgendwie auch mein Kind“, kommentierte Sofja stolz, spürte aber bereits, dass es ihr nicht gut tat, „ihre eigenen Begabungen in sich zu ersticken“. Dennoch hielt sie an der Aufgabe fest, unterstützte ihren Mann während der folgenden Schaffens- und Sinnkrisen, begleitete von 1873 bis 1879 den Entstehungsprozess seines zweiten großen Romans, Anna Karenina. Erst als Tolstoj 1879 in seiner Beichte überschriebenen Lebensbilanz alles ablehnte, was bisher sein und ihr Dasein ausgemacht hatte – das herrschaftliche Leben, die Kirche, Eigentum und Geld, letztlich sogar die Literatur – verweigerte sie ihm die Gefolgschaft. Während sich Jasnaja Poljana mit den „Finsterlingen“ füllte, einer wachsenden Schar von zerlumpten, ungewaschenen Anhängern der neuen Tolstoj-Lehre, mietete Sofja ein großes Haus in Moskau, wo sie zukünftig die Winter verbrachte, den älteren Kindern Zugang zu höherer Schulbildung ermöglichte und sich selbst gesellschaftliche Kontakte und Zerstreuung. Um sich vom Übel des Eigentums zu befreien, überließ Tolstoj seiner Frau die Vermarktung seiner Werke. Tolstaja wurde zur erfolgreichen Verlegerin, betreute die große Gesamtausgabe, intervenierte persönlich beim Zaren gegen Eingriffe der Zensurbehörden, sogar in Bezug auf die „Kreutzersonate“, obwohl Tolstoj in dieser Novelle mit seiner radikalen Negation der Liebe zwischen Mann und Frau ein abfälliges Bild seiner eigenen Ehe gezeichnet hatte. Und sie begann, mit Ende 40, eigene Texte zu schreiben: Eine Frage der Schuld - ihre Replik auf die Kreutzersonate, diesmal aus der Sicht der Frau, und den Roman Lied ohne Worte, in dem sie ihre schwärmerische, platonische Beziehung zu dem Musiker Sergej Tanejew verarbeitete, der sie mit seinem wunderbaren Klavierspiel in der Trauer um den Verlust ihres geliebten letztgeborenen Sohnes Wanetschka (gest. 1895) getröstet hatte.
Die letzten 15 Ehejahre der Tolstojs verliefen dramatisch – während Tolstoj mit seinen kirchenkritischen und sozialrevolutionären Ideen zum prominentesten Kritiker des zaristischen Regimes wurde, kämpfte Tolstaja gegen ihren größten Widersacher, Wladimir Tschertkow, den zwielichtigen Anführer der Tolstojaner, um sein Vermächtnis. Tschertkow bemächtigte sich seiner Tagebücher und brachte den greisen Dichter dazu, in einem hinter Sofjas Rücken verfassten Testament seine Werke der „Allgemeinheit“ zu vermachen und ihn, Tschertkow, als Nachlassverwalter einzusetzen. Die Auseinandersetzungen gipfelten in der heimlichen Abreise Tolstojs im Oktober 1910, die Nachricht von der „Flucht“ des Dichters ging um die Welt. Während der Reise erkrankte er schwer, lag mit hohem Fieber im Bahnwärterhäuschen von Astopowo, 150 km entfernt von Jasnaja Poljana, umringt von Hunderten seiner Anhänger, Kameraleuten und Journalisten. Dort starb er am 7. November 1910, seine Frau hatte man erst zu ihm gelassen, als er bereits das Bewusstsein verloren hatte. Sofja lebte noch 9 Jahre auf dem Landgut der Familie, das 1917 von der Roten Armee verschont wurde, widmete sich ganz dem Andenken an Tolstoj, publizierte mit großem Erfolg eine Briefsammlung, und schrieb ihre bis heute nur in Auszügen veröffentlichten Lebenserinnerungen. Ihr Roman Lied ohne Worte erschien erst 2010 zum ersten Mal – auf deutsch – eine kleine literarische Sensation. (Text von 2018)
Verfasserin: Andrea Schweers
Literatur & Quellen
Keller, Ursula & Natalja Sharandak. 2009. Sofja Andrejewna Tolstaja: Ein Leben an der Seite Tolstojs. Frankfurt a. M./ Leipzig. Insel.
Lew Tolstoj - Sofja Tolstaja: Eine Ehe in Briefen. Hrsg. und aus dem Russischen übersetzt von Ursula Keller, Natalja Sharandak. Insel Verlag, Berlin 2010
Rachmanowa, Alja. 1981 (1937). Tolstoi: Tragödie einer Ehe. Aus dem Russischen von Arnulf von Hoyer. Bergisch-Gladbach. Bastei-Lübbe TB 10144.
Stephan, Inge. 1989. Das Schicksal der begabten Frau: Im Schatten berühmter Männer. Stuttgart. Kreuz.
Tolstaja, Sofja Andrejewna. 1986 [1978]. Tagebücher 1862-1897 [= Dnevniki v dvuch tomach]. Aus dem Russ. von Johanna Renate Döring–Smirnov & Rosemarie Tietze. Frankfurt/M. Fischer TB 5654.
Tolstaja, Sofja Andrejewna. 2008. Eine Frage der Schuld. Aus dem Russ. von Alfred Frank. Zürich. Manesse.
• darin: Kurze Autobiografie der Gräfin Sofja Andrejewna Tolstaja mit Datum vom 28. Oktober 1913, übersetzt von Ursula Keller, S. 217–286.
• darin: Nachwort der Herausgeberin Ursula Keller, S. 299–315.
Tolstaja, Sofja Andrejewna. 2010. Lied ohne Worte. Aus dem Russ. von Ursula Keller, mit einem Nachwort von Natalja Sharandak. Zürich. Manesse.
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