Biographien Else Ury Else Ury (1877 - 1943) zum 140. Geburtstag, von Marianne Brentzel
Else Ury (1877 - 1943) zum 140. Geburtstag, von Marianne Brentzel
Die bekannteste Jugendbuchautorin der zwanziger Jahre hat kein Grab in Berlin. Nur ein Memoriam auf dem Grabstein der Eltern auf dem jüdischen Friedhof Weißensee erinnert an sie.
Else Ury
geb. in Berlin 1. Nov. 1877
deportiert von Berlin 12. Jan. 1943 und nicht zurück gekehrt.
Die amtlich registrierte Jüdin Else Sara Ury wird am 11. Januar 1943 offiziell über den Verlust der Staatsangehörigkeit und Einziehung des Vermögens zugunsten des Deutschen Reiches informiert. Die Gestapo hatte sie am 6. Januar in die Deportationssammelstelle in der Großen Hamburger Straße 26, früher Altenheim der jüdischen Gemeinde, gebracht.
Am 12. Januar wird Else Ury nach Auschwitz deportiert. 1100 Berliner Juden treffen am 13. Januar im Güterwaggon in Auschwitz ein. Zusammen mit circa 1000 Juden wird Else Ury direkt von der Rampe aus in die Gaskammer getrieben und ermordet.
Die Autorin der beliebten Nesthäkchen-Serie hatte bis 1933 ein typisches Berliner Frauenleben. In Geburtsanzeige in der angesehenen Vossischen Zeitung heißt es am 1. November 1877:
Durch die heut Nachmittag 4 Uhr erfolgte glückliche Geburt eines munteren Töchterchens wurden erfreut
Emil Ury und Frau Franziska, geborene Schlesinger.
Der Vater Emil Ury war Tabakfabrikant. Sein Vater, der Kleiderhändler Levin Elias Ury, kam 1828 aus Tangermünde und erhielt als Jude Stadtbürgerrecht vom preußischen König.
Elses Vater Emil Ury, 1835 geboren, soll ein witziger Redner bei allen Familienfesten gewesen sein. Als Tabakfabrikant war er weniger erfolgreich. Er heiratete Franziska Schlesinger, geboren 1847, eine literarisch gebildete Frau aus jüdischer Tradition.
Gut behütet wuchs Else Ury in einer großen Familie dicht beim Alexanderplatz auf. Die Familie wohnte in der Heiliggeiststraße, ganz nah bei der Heidereuter Gasse mit der alten, später von Bomben zerstörten Synagoge. Nördlich vom Alexanderplatz lag das Scheunenviertel, ein Ort, der zur Zeit ihrer Kindheit als Getto galt, als Unort, der nur mit einem gewissen Schaudern betreten werden konnte. Das Viertel lag ursprünglich vor den Toren Berlins, gut genug für die Scheunen mit dem Vieh für Berlins Märkte. Doch Berlin wuchs rasant und die armen Juden aus Osteuropa zogen ein, die Planjes, wie sie verächtlich – auch in der Familie Ury - genannt wurden. Mit ihnen hatte man keinen Kontakt, sie waren undeutsch, der Inbegriff des Fremden. Sie liefen mit Schläfenlocken, schwarzem Kaftan und Kippa umher, hatte zahllose Kinder, machten ›ungute‹ Geschäfte. Es war ein Armenviertel, auch ein Hurenviertel, eine Welt für sich, die ein deutscher Bürger, gleich welcher Konfession, nicht gern betrat. Zur Synagoge Heidereuter Gasse war es von Else Urys Zuhause nur ein Katzensprung und schon war man in der Stille der Gasse, wo die Gläubigen in den Bethäusern ein- und ausgingen. Wer hier groß wurde, auch als behütetes, kleines Mädchen, vergaß das nie.
Die Urys hatten vier Kinder. Ludwig wurde 1870, Hans 1873 geboren, Else 1877 und die jüngste Tochter Käthe 1881.
Else Ury ist also selbst kein Nesthäkchen, aber man kann annehmen, dass viele Elemente ihrer Bücher - eine Generation später angesiedelt - eigenen Erfahrungen entsprechen. Das Kinderfräulein, das die kleinen Mädchen in den ersten Jahren betreut, der große Haushalt mit Stubenmädchen und Köchin, die Etagenwohnung mit sechs beheizbaren Zimmern. Ein Luxus im aufstrebenden Berlin.
Die Urys gehören zu der Schicht wohlhabender, assimilierter jüdischer Bürger, für die Bildung und Kultur höchstes Ansehen genießen. Die Brüder Ludwig und Hans besuchen Gymnasien und werden Rechtsanwalt bzw. Arzt, die Töchter gehen auf das angesehene Mädchenlyzeum in der Ziegelstraße, die Luisenschule.
Der typische Aufstieg der Berliner Juden führte beruflich vom Kaufmann zum Akademiker, örtlich von Berlin-Mitte in den neuen Westen. So auch bei den Urys, die 1905 in die Kantstraße 30 Nähe Savignyplatz zogen. Dort lebten sie bis 1932, später nahmen sie eine Wohnung am Kaiserdamm 24, um Platz für die Arztpraxis und die Anwaltskanzlei der Brüder zu haben.
Else Ury ging zehn Jahre in das Mädchenlyzeum. Aus ihrem Abgangszeugnis erfahren wir, dass sie in Religion mit „Sehr gut“ benotet wurde. Dass ein jüdischer Religionsunterricht erteilt wurde, war nicht selbstverständlich.
Obwohl die Juden nach der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 gleichberechtigte Bürger waren, saß der Antisemitismus tief in den Köpfen der Menschen, gab es, je nach dem Auf und ab der wirtschaftlichen Lage, für rassistische Hetze einen Nährboden. Nicht nur der Hofprediger Stöcker verbreitete seine Thesen vom Juden, der das Unglück des deutschen Volkes wäre. Zahlreiche Verletzungen im Alltag eines jüdischen Mädchens im kaiserlichen Deutschland sind denkbar.
Else Urys Neffe erzählte: „Ich wußte als Junge gar nicht, dass ich ein Jude war.“ Dergleichen wird Else Ury schwerlich von sich haben sagen können.
Else Ury war als Kind noch mit den Gebräuchen der jüdischen Gemeinde und ihrer Feste vertraut. Der Vater, Emil Ury, gehörte aus alter Tradition zur Synagoge Heidereuter Gasse, einer orthodoxen Gemeinde, die jeder Reformbestrebung widerstand.
Nach der zehnten Klasse des Lyzeums 1894 lernte Else Ury, wie es üblich war, den Haushalt und wurde auf Bällen in die Gesellschaft eingeführt, um später ihrer Bestimmung gemäß verheiratet zu werden. Doch Else Ury hat nicht geheiratet. Ihre Bücher geben keine Erklärung für dieses Ausbrechen aus dem konventionellen Muster. In kaum einem ihrer 39 Bücher steht eine unverheiratete Frau im Mittelpunkt des Geschehens. Sie bleiben meist liebenswerte Randfiguren. Wenn Ury von ledigen Frauen erzählt, sind es tüchtige Dienstboten, nette alte Tanten, kluge Lehrerinnen und in den späteren Büchern sozial engagierte Fürsorgerinnen.
Die Gründe für Else Urys Ehelosigkeit sind unbekannt. Aber: Sie begann zu schreiben. Zuerst für das Feuilleton der Vossischen Zeitung. 1905 erscheint ihr erstes Buch: Was das Sonntagskind erlauscht. Vielleicht ist gerade der Titel dieser ersten Märchensammlung der Ursprung zu der verblüfften, tausendfach wiederholten Frage ihrer späteren Leserinnen: „Was, Else Ury war Jüdin?“
1906 folgt das Buch Studierte Mädel. Ein modernes Thema, die ersten Gymnasien und das Medizinstudium für Frauen. In dem Mädchenroman von 1906 zeigt sich auch Else Urys innere Verbundenheit mit der bürgerlichen Frauenbewegung. 1928 wird sie in einem heute vergessenen Roman noch deutlichere Worte finden. Dort heißt es: „Frauenfragen wurden Frauenbewegung, Frauenrecht. Neue Frauen, ein im Denken geschultes Geschlecht, luden die Lasten der einstigen Bahnbrecherinnen auf ihre jungen Schultern.“ Mit solchen Sätzen wurde Else Ury nicht bekannt. Doch gibt es diese verborgene Seite.
Circa 1908 beteiligt sich Else Ury an einem Märchenwettbewerb des Centralrats der Juden mit der Geschichte: Im Trödelkeller. In einem Sammelband preisgekrönter jüdischer Märchen ist der Text abgedruckt. Er erzählt in märchenhafter Weise von einem frommen Juden, dessen Familie ins Unglück gerät, weil sie die Gebote der Religion missachtet.
Die uns bisher bekannten Bücher Else Urys bieten keine Hinweise auf die jüdische Tradition der Autorin. Der Gott, der in den Gebeten angerufen wird, ist ein konfessionell neutraler Gott. Die christlichen Feste sind meist fröhliche Kinder- und Familienfeste, ihres speziell-religiösen Inhalts entkleidet. Wahrscheinlich hat Else Ury als literarisch erfahrene Frau bewusst entschieden, die Religionszugehörigkeit ihrer Heldinnen offen zu halten, und damit die Identifikation aller Kinder, gleich welcher Konfession, mit den Figuren ihrer Romane zu ermöglichen. Außerdem galten Backfischromane als „Schandfleck der deutschen Literatur“. Nur einmal hatte die Jugendschriftenwarte, die es sich zur Aufgabe machte, das gute Jugendbuch zu fördern, sie 1913 mit ihrer Märchensammlung Goldblondchen als lesenswert für die dritte Schulklasse erwähnt. Eine für Frauen damals seltene Auszeichnung.
Als der erste Weltkrieg beginnt, hat Else Ury bereits neun Bücher veröffentlicht und ist eine bekannte Jugendbuchautorin. Drei Verlage reißen sich um ihre Manuskripte. Bei der Illustrierten Mädchen-Zeitung Das Kränzchen ist sie Hausautorin der Fortsetzungsgeschichten. Sie schreibt im Geist der Zeit, patriotisch und kaisertreu. 1916 erscheint der Jugendroman Lieb Heimatland als Fortsetzungsgeschichte. Recht und Wahrheit sind immer auf der Seite der deutschen Soldaten, größer und stärker soll Deutschland aus diesem Krieg hervorgehen. Mit diesen Hoffnungen und ihrem Vertrauen auf den Kaiser steht Else Ury nicht allein. Die Mehrheit der Frauenverbände, einschließlich des Jüdischen Frauenbundes, schließt sich 1914 zum Nationalen Frauendienst zusammen, um die Arbeit an der „Heimatfront“ besser zu bewältigen. Frauen wie Gertrud Bäumer begrüßen den Krieg als „Vater einer neuen Ära der Frauentätigkeit“. In diesem Geist ist auch die Ury befangen, wie der Band der Nesthäkchenserie Nesthäkchen und der Weltkrieg belegt.
Mit der Großmutter feiert das Nesthäkchen begeistert die ersten Siege der kaiserlichen Armee und am Abend betet das Kind: „Lieber Gott, laß doch meine liebe Mutti bald wieder nach Berlin kommen, aber nicht die ollen Russen, und beschütze doch auch meinen Vater im Krieg… Bitte, hilf uns Deutschen doch, lieber Gott. Und wenn Du nicht helfen willst, dann bitte hilf den anderen auch nicht - bleibe wenigstens neutral.“
Derartige Gebete sind 1914 weder in den Kirchen noch in den Synagogen Berlins gesprochen worden. Trotz der patriotischen Begeisterung wahrt Else Ury eine ironische Distanz zu den Ereignissen. Eindrucksvoll ist die Geschichte der Deutsch-Polin Vera. Als das Mädchen ohne Deutschkenntnisse in die Schulklasse kommt, quält Annemarie Braun (so heißt das Nesthäkchen) sie mit der ganzen Macht ihrer privilegierten Stellung und verkündet: „Wer mit Vera spricht, verrät sein Vaterland.“ Als schließlich Veras Vater für Deutschland den „Heldentod“ stirbt, bereut Nesthäkchen ihr grausames Verhalten und schließt Freundschaft mit Vera. Mit sicherem Einfühlungsvermögen versteht es Ury, für die Verletzungen des Mädchens durch seine erzwungene Isolierung Verständnis zu erwecken und das ganze Ausmaß der kindlichen Grausamkeit ungeschminkt darzustellen. Vielleicht hat Else Ury sich schreibend ihrer eigenen Verletzungen als jüdischem Mädchen erinnert und hier ihre Erfahrung mit der Isolierung eines Kindes thematisiert?
Im Januar 1920 stirbt der Vater Emil Ury. Mit ihm stirbt ein Stück jüdischer Tradition in der Familie. Else Ury wohnte nach dem Tod des Vaters weiter zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Hans, der wie sie unverheiratet blieb. Sie lebten mitten in Berlin dicht beim Savignyplatz, im zweiten Stock. Das Haus in der Kantstraße 30, obwohl modernisiert und stark verändert, atmet noch heute den Duft von Behaglichkeit und Wohlhabenheit mit roten Plüschteppichen und goldverzierten Spiegeln im Treppenhaus. Hier ist die Atmosphäre vorstellbar, die auch die Nesthäkchen-Bände durchzieht: familiäre Zufriedenheit, Gemütlichkeit und Gastlichkeit, aber auch eine gewisse Enge, ohne jeden Funken Geist der Bohème. Den repräsentierte der weltstädtisch werdende, leicht verruchte Kurfürstendamm ganz in der Nähe. Obwohl Ury literarisch gebildet war und auch moderne Werke las, hatte sie keinen Kontakt zu diesem Berlin und wollte ihn wohl auch nicht haben.
Klaus Heymann, der jüngste Sohn ihrer Schwester Käthe, verbrachte viele Monate im Jahr bei der geliebten Tante, die für ihn wie eine zweite Mutter war. Von ihm, der 1936 ins Exil gehen musste und seitdem in London als Ernest K. Heyman lebt, wissen wir viele Details aus Else Urys Leben. Er ist der Alleinerbe des Ury-Nachlasses. Er berichtete auch, dass seine Tante den Haushalt mit Sparsamkeit und Pflichtbewusstsein führte. Erst nach der Erfüllung dieser Pflichten setzte sie sich in ihr hinteres Erkerzimmer zum Schreiben. Eine typische Frauenexistenz. Ihre eigene Schreibleistung bewertete sie nicht besonders hoch. Als ihr Neffe Klaus in den Ferien mal wieder in den Nesthäkchen-Bänden schmökern wollte, soll sie ihn ermahnt haben, als Gymnasiast jetzt anspruchsvollere Lektüre zu lesen und seine Zeit nicht mit der Lektüre von Mädchenbüchern zu vertun.
Der Erfolg der Nesthäkchen-Serie machte sie zu einer wohlhabenden Frau. Offensichtlich verstand sie sich gut auf den Umgang mit Geld, legte Wertpapierkonten an, kaufte Staatspapiere, regelte den Kauf eines Ferienhauses in Krummhübel. Eine emanzipierte Frau, würden wir heute anerkennend sagen. Sogar mit den Geldgeschäften kommt sie zurecht!
Das Haus im Riesengebirge sollte ein Ferienzuhause für die ganze Familie sein. 1926 war es endlich soweit. An der Hauswand wurden die Schriftzüge der Nesthäkchenbände angebracht. Haus Nesthäkchen war geboren. Hier feierte die Familie ihre Feste, hier standen die kleinen Leserinnen Schlange, um ihre Bücher signieren zu lassen. Hin und wieder lud Ury die Kinder auch zu Kakao und Kuchen in den Garten ein und erzählte ihnen eine ihrer neuesten Geschichten. Der Erzählband Für meine Nesthäkchenkinder soll so entstanden sein. Eine behagliche und friedliche Insel in einer von politischer Unruhe gezeichneten Welt.
Spürte niemand aus der Familie die Bedrohungen der nahen Zukunft? Der Bruder Hans, ein sensibler Mann, der unter Depressionen litt, soll Ende der zwanziger Jahre vorgeschlagen haben, mit der gesamten Familie in die Schweiz zu ziehen. Er ahnte wohl intensiver als die anderen, dass ihr Glück nicht von Dauer sein würde. Seine Schwester Else soll am heftigsten gegen eine Ausreise gesprochen haben. Sie vertraute auf die deutsche Kultur als ihre eigene und konnte sich nicht vorstellen, dass eine deutsche Regierung sich gegen sie kehren und sogar ihre Vernichtung planen würde.
Dr. Hans Ury nahm 1937 aus Verzweiflung über die politische Lage Tabletten und starb. Im Urnenfeld des Friedhofs Weißensee erinnert eine Gedenktafel an den Arzt.
1933 schrieb Else Ury ihr letztes Buch Jugend voraus.
38 Bücher hatte sie verfasst, Märchen- und Mädchenbücher, Serien und Einzelbände. Kleine und große Kinder hatte sie damit erfreut. Politische Probleme waren nicht ihre Sache gewesen. Nur in zugespitzen Situationen wie dem Ersten Weltkrieg hatte sie patriotische Töne angeschlagen. Den letzten Jugendroman schrieb sie über ein zentrales Thema der Zeit, die Arbeitslosigkeit, ganz im Sinne der neuen Machthaber.
Die oft zitierte Stelle ihrer Zustimmung zu Hitler lautet: „Und während Winter und Vorfrühling um die Herrschaft rangen, hielt der Vorfrühling in Deutschlands Staatsregierung seinen Einzug. Plötzlich war sie da, die allgemeine Erhebung Deutschlands. Die aufbauwilligen Deutschen schlossen sich unter Führung des Reichskanzlers Hitler zusammen. Mithelfen wollten sie alle, es aus seiner wirtschaftlichen Not zu befreien. Das ganze deutsche Volk einte sich, um dem Elend der Nachkriegsjahre ein Ende zu bereiten.“
Was kann Else Ury nur getrieben haben, den Plattheiten von der nationalen Erhebung Deutschlands Glauben zu schenken und sie für Knaben und Mädchen gefällig aufzubereiten? Unkenntnis über die Lage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kann es nicht gewesen sein.
Es gab eine Zeitlang Vermutungen, dass in das Buch Jugend voraus gegen Else Urys Willen hineinmanipuliert und es ohne ihr Zutun auf nationalsozialistischen Kurs gebracht worden wäre.
Klaus Heymanns Erinnerung beendet alle Zweifel an der Authentizität des Buches. Seine Tante zeigte ihm als Fünfzehnjährigen den Schluss des Buches und bat ihn um seine Meinung. Was er las, gefiel ihm nicht. Doch sie soll gesagt haben, sie müsse das so schreiben, sonst würde das Ganze nicht richtig enden, und sie wollte mit dieser nationalen Erhebung die Geschichte zu einem Abschluss bringen.“
Aus heutiger Sicht und in Kenntnis der Ermordung von Millionen europäischer Juden denken viele, es sei für eine Jüdin völlig abwegig, 1933 so ein Buch zu veröffentlichen und erwarten von den späteren Opfern des Völkermords mehr politische Weitsicht und Klarheit als von der Mehrheit der übrigen Deutschen. Doch Else Ury war vor allem eine Deutsche. Das war ihre Identität bis weit in die dreißiger Jahre hinein. Dass der Rassenwahn der Nazis sie bald zur verfemten Jüdin machen würde, ahnte sie nicht. Mit ihrem Bild von deutscher Geisteshaltung und deutscher Kultur war das gänzlich unvereinbar. Else Ury hat die Lage in Deutschland 1933 falsch eingeschätzt. Anders als die christlichen Deutschen hat sie diese Fehleinschätzung mit einem grausamen Tod bezahlen müssen.
Sie wird 1935 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, ihre Bücher werden verboten. 1937 nahm der Nationalsozialistische Lehrerbund eine Säuberung des Altbestandes der Schülerbüchereien vor. Unter der Rubrik „Verfasser jüdischer Abstammung“ stand auch Else Ury.
Die unsichtbaren Mauern wuchsen. Rassengesetze, antisemitische Erlasse und Verordnungen machten den Urys das Leben täglich schwerer. Doch bis 1938 empfand sie es nicht als so unerträglich, dass nur das Exil als Ausweg blieb.
Im April leistete sie sich noch eine Reise nach London. Sie hat den Aufenthalt dort sehr genossen und kein Wort über die Lage in Deutschland gesagt, wie ihr Neffe bezeugte. Warum blieb Else Ury 1938 nicht in London? Die britische Regierung nahm nur jüdische Emigranten auf, die einen Verwandten ersten Grades im Land hatten und für deren Auskommen Garantien abgeben werden konnten. So hätte sie mit 61 Jahren illegal in London leben müssen. Eine für sie unvorstellbare Situation. Der vielleicht wichtigste Grund aber war die 91 Jahre alte Mutter. Franziska Ury konnte ohne Else Urys Pflege nicht leben.
Und sicher gab es jenseits aller aktuellen Überlegungen bei Else Ury einen Grad des Hierhergehörens, der Verbundenheit mit der deutschen Kultur, der es ihr unmöglich machte, das Land zu verlassen. In das Jahr 1938 fällt ein Gespräch mit einem Beamten der Commerzbank in Halensee, der Else Ury geraten hatte, sie solle doch das Land verlassen, solange das noch möglich sei. Darauf soll sie geantwortet haben: „Wenn meine Glaubensgenossen bleiben, dann habe ich so viel Mut, Charakter und die feste Entschlossenheit, ihr Los zu teilen.“
Nach der Pogromnacht im November 1938 werden ihre Schwester Käthe mit ihrem Mann zur Tochter nach Amsterdam ziehen, Ludwig Ury zu seinem Sohn nach London.
Im Frühjahr 1939 muss sie mit ihrer Mutter in ein Judenhaus in Alt-Moabit, Solingerstraße 10 ziehen. Die Vorbereitungen für die Deportation der Berliner Juden laufen auf allen bürokratischen Ebenen.
Schon im August 1938 hatten alle jüdischen Bürger sich einen zweiten Vornamen zulegen müssen. Aus Else Ury wurde die amtlich registrierte Jüdin Else Sara Ury.
In den folgenden Jahren eignete sich das Deutsche Reich systematisch die Vermögen der deutschen Juden an. Reichs-Sühneleistung, Reichsfluchtsteuer. Hochtrabende Begriffe als Tarnnamen für staatlich organisierten Raub. Schließlich durften die jüdischen Menschen im Monat noch 700 RM für ihre persönlichen Bedürfnisse von ihrem Konto abheben, Wertpapiere und sonstige Konten wurden gesperrt, Schmuck, Radios, Pelze, Fahrräder und andere Wertgegenstände mussten abgeben werden, die Immobilien wurden enteignet. Auch Haus Nesthäkchen in Krummhübel sollte zwangsweise verkauft werden. 1940 stirbt ihre Mutter eines natürlichen Todes.
Else Ury lebte in dieser Zeit in der Welt der verfolgten Juden, wusste von den Deportationen. Für die Jahre 1941/42 liegt das Leben Else Urys fast völlig im Dunklen. Bekannt ist nur, dass sie im September 1942 mit Johanna Else Sara Ury ihr Testament unterschrieb und es beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg hinterlegte. Sie plante und regelte bis zuletzt alles, wie sie es ihr ganzes Leben getan hatte. Als Alleinerben setzte sie ihren Neffen Klaus Heymann ein. Im wesentlichen vererbte sie Dinge, die längst ihrer Verfügungsgewalt entzogen, enteignet, geraubt und verboten worden waren, auch „Honorare für Neuauflagen oder Übersetzungen meiner Bücher in andere Sprachen, soweit solche in Zukunft noch fällig werden.“
Klaus Heymann kam mit der britischen Armee nach Deutschland und konnte 1946 sein Erbe antreten. Er musste von der Ausrottung seiner gesamten Familie erfahren. Seine Eltern, seine Schwester mit Mann und dem sechsjährigen Peter waren über das KZ Westerbork in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert worden.
Das genaue Todesdatum Else Urys war lange Zeit unklar. Die Gedenkstätte Auschwitz hatte mir 1988 auf Anfrage lediglich geantwortet, dass es keine Häftlingsnummer unter dem Namen Ury gäbe und deshalb davon auszugehen sei, dass Else Ury entweder auf dem Transport gestorben oder direkt von der Rampe aus in die Gaskammer getrieben worden sei.
Forschungen, die nach 1990 möglich wurden besagen, dass Else Sara Ury auf der Transportliste von 1110 Berliner Juden stand, die am 12. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert wurden. Der Zug kam am 13. Januar in Auschwitz an. Die Koffer der Deportierten sind aufbewahrt. Ein Koffer trägt die Aufschrift: „Else Sara Ury. Berlin, Solinger-Str 10“. An diesem Tag, den 13. Januar 1943 wude Else Ury, zusammen mit mehr als tausend Berliner Juden in die Gaskammer getreieben und ermordet.
1992 erschien meine erste Else-Ury-Biografie: Nesthäkchen kommt ins KZ. Eine Annäheurng an Else Ury. Die Tatsache, dass Else Ury Jüdin war und in Auschwitz ermordet wurde, schockierte viele nichtsahnende Else-Ury-Fans. Die weitere Forschung konzentrierte sich vor allem auf die jüdischen Spuren in Else Urys Leben. Daraus wurde die gründlich überarbeitete neue Version der Biografie mit dem Titel: Mir kann doch nichts geschehen. Das Leben der Nesthäkchenautorin Else Ury.
Else Urys Bücher wurden in beiden Diktaturen des XX. Jahrhunderts in Deutschland verboten. In Nazideutschland aus rassistischen Gründen, in der DDR, weil angeblich dekadente Verhältnisse geschildert wurden. Doch Else Urys Beliebtheit überdauerte alle Anwürfe und Verbote. Einfachen Zuordnungen ist sie längst entwachsen.
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