Fembio Specials Frauen aus Wien Anita Pichler
Fembio Special: Frauen aus Wien
Anita Pichler
geboren am 28. Januar 1948 in Meran, Südtirol/Italien
gestorben am 6. April 1997 in Bozen, Südtirol/Italien
Südtiroler Schriftstellerin
75. Geburtstag am 28. Januar 2023
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen • Bildquellen
Biografie
Anita Pichler war die erste Südtiroler Schriftstellerin der Nachkriegszeit, die über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wurde. Viel gelobt, sorgte ihr Werk auch für Diskussionen. »Die Reaktionen sind völlig unterschiedlich: entweder die Leute mögen mein Buch und mögen die Art, wie ich schreibe, oder sie mögen es nicht. Zwischentöne habe ich eigentlich ganz wenig gehört«, sagte Anita Pichler in einem Zeitungsinterview nach Erscheinen ihrer Erzählung Die Zaunreiterin im Suhrkamp-Verlag (1986). Beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt hatte sie die Erzählung vorgestellt, und Marcel Reich Ranicki hatte es sich nicht nehmen lassen, den von ihr präsentierten Text als »Kunstgewerbe und Talmi« zu bezeichnen. Anita Pichler ließ sich dadurch nicht beirren, und sie sollte Recht behalten. Ihr war klar, dass ihre Texte weder herkömmlich noch gefällig waren – sie hatte weder das Eine noch das Andere jemals gesucht. »Ich habe gemerkt, dass herkömmliche Erzählmethoden für mich einfach nicht funktionieren.« Sowohl formal als auch von der Rezeption her hat Anita Pichler für eine Zäsur in der Südtiroler Literatur gesorgt.
In ihren Texten greift Anita Pichler Stoffe auf, die vordergründig historisch (Oswald von Wolkenstein) oder mythologisch sind (Fanessagen, die Zaunreiterin), holt die Themen aber in die Gegenwart und verflicht die Inhalte zu einer poetisch dichten Textur, die auf mehreren Ebenen gelesen werden kann. Sie fragt nach den »coincidences«, den Zufällen, »ohne die ein Weiterleben nicht gegeben ist«, sucht eine Sprache für Wahrnehmungsphänomene, den Vorgang des Sehens, für das Erzählen von Farben und Linien, schreibt eine punktgenaue Prosa, in der Poesie liegt, der anzumerken ist, dass kein Wort dem Zufall überlassen ist. »Im konkreten Erzählen, im knappen Skizzieren der Personen, im Andeuten von Situationen gelingen Anita Pichler suggestive Bilder, eigensinnige Passagen … Anita Pichler hat allerhand gewagt in ihrem ersten Buch«, schrieb DIE ZEIT über Die Zaunreiterin.
Im Mittelpunkt vieler Texte von Anita Pichler stehen Frauen. Die Frauenliteratur als Genre hielt sie für eine Erfindung des Marktes. In Südtirol hat Anita Pichler schreibenden Frauen, die bis zu Beginn der 1980er Jahre so gut wie nicht präsent waren, den Weg geebnet.
Das Leben von Anita Pichler war gekennzeichnet von Bewegung, vom Dazwischen, vom Leben an verschiedenen Orten, mit verschiedenen Sprachen, in unterschiedlichen politischen Systemen. Sesshaftigkeit ist eine Thematik, die in ihren Texten immer wieder vorkommt, wie die Abwesenheit auch. Das schmale Werk, das sie bei ihrem frühen Tod (sie starb mit 49 Jahren an Krebs) hinterlassen hat, wurde weit über Südtirol hinaus wahrgenommen.
Am 28. Januar 1948 als mittlere von drei Schwestern in eine Kaufmannsfamilie geboren, lebte sie abwechselnd in Schenna, einem Dorf unweit von Meran, und Sulden, einem Bergdorf am Fuße des Ortler.
Schon als 16-Jährige verließ sie Südtirol, um eine Oberschule in Triest zu besuchen, es folgte das Studium der Slawistik und Germanistik an der Ca’ Foscari in Venedig. Von 1974 bis 1976 war sie Redakteurin bei dem kleinen »aber damals sehr munteren« Verlag Marsilio in Venedig, 1978 zog sie mit einem Stipendium der Humboldt-Universität nach Ostberlin, wo sie enge Kontakte zur Kulturszene, den Kreis um Heiner Müller, pflegte. Als sich dann das Schreiben wieder in den Vordergrund geschoben hatte, beschloss sie, ihren Lebensmittelpunkt nach Venedig zu verlegen, weil ihr die Arbeit als Lektorin an der Universität Zeit zum Schreiben ließ.
1991 war sie die erste Stipendiatin des von der Erziehungsdirektion des Kantons Bern/Abteilung Kultur ausgeschriebenen Bernjahres und hielt sich als Stadtschreiberin in der zweisprachigen Stadt Biel/Bienne (CH) auf. Im Sommer 1995 war sie Dorfschreiberin in Villgraten in Osttirol, wo sie die Kulturwiese, eine Veranstaltungsreihe mit Ecken und Kanten, aufmerksam mitverfolgte. Anita Pichlers enger Bezug zur Bergwelt ging auf die Kindheit zurück. Jahr für Jahr kam sie zum anspruchsvollen Bergsteigen nach Sulden.
Im Februar 1995 erfuhr Anita Pichler, dass sie schwer krank war. Sie beschloss, für die Zeit ihrer Krankheit nach Bozen zu ziehen. Dort starb sie, von Freundinnen und Freunden gepflegt, am 6. April 1997. Soweit es ihre Kräfte zuließen, hatte sie in den letzten zwei Lebensjahren gearbeitet, unter anderem an der Übersetzung von Die Steine von Pantalica des sizilianischen Autors Vincenzo Consolo, erschienen 1996 bei Suhrkamp.
Ihren literarischen Nachlass stellte Anita Pichler dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek zur Verfügung, ihre Wohnung in Venedig der Literar-Mechana. Zu Nachlassverwalterinnen bestimmte sie Sabine Gruber und Renate Mumelter. Anita Pichlers Grab liegt am Fuß des Ortlers in Sulden.
(Text von 2013)
Verfasserin: Renate Mumelter
Zitate
Das Herz, das ich meine, ist die Luftwurzel im Auge, durch die ich die Welt einlasse, es ist die Luftwurzel im Auge, aus der die Welt mich nimmt. (Anita Pichler in Beider Augen Blick, gefunden hier)
Ihr schmales Werk ist zum besten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu zählen. (Hans Jürgen Balmes, gefunden hier)
Links
Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: Pichler, Anita, 1948-1997.
Pichler, Anita: Die Farbe. Gedicht.
Pichler, Anita: Molta. Literaturhaus am Inn.
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Literatur & Quellen
Werke
Consolo, Vincenzo (1996): Die Steine von Pantalica. Sizilianische Geschichten. Aus dem Italienischen von Anita Pichler. Frankfurt am Main. Suhrkamp. ISBN 3-518-40813-5.
Kitzmüller, Hans (1993): Über das Innehalten auf einem Feldweg. Ein poetischer Versuch in elf Bildern. Übersetzung: Anita Pichler. Graz , Wien u.a. Styria. ISBN 3-222-12214-8.
Marseiler, Sebastian (2000): In montanis. Landschaften der Euregio Tirol-Südtriol. Bildband mit Texten von Sebastian Marseiler & Anita Pichler. Text englisch, deutsch und italienisch. Lana (Bozen). Tappeiner. ISBN 88-7073-302-5.
Pichler, Anita (1986): Die Zaunreiterin. Erzählung. Frankfurt am Main. Suhrkamp. ISBN 3-518-02582-1.
Pichler, Anita (1989): Wie die Monate das Jahr. Erzählung. Frankfurt am Main. Suhrkamp. ISBN 3-518-40190-4.
Pichler, Anita (1990): Die Zaunreiterin. Erzählung. Frankfurt am Main. Suhrkamp. ISBN 3-518-38262-4.
Pichler, Anita (1992): Die Frauen aus Fanis. Fragmente zur ladinischen Überlieferung. Mit 24 doppelseitigen Zeichnungen von Markus Vallazza, Anmerkungen und einem Nachwort von Ulrike Kindl. Innsbruck. Haymon. ISBN 3-85218-116-X.
Pichler, Anita (1995): Beider Augen Blick. Neun Variationen über das Sehen. Innsbruck. Haymon. ISBN 3-85218-188-7.
Pichler, Anita (2004): Haga Zussa. Die Zaunreiterin. Erzählung. Mit einem Nachwort von Sabine Gruber und Renate Mumelter. Wien, Bozen. Folio (Transfer, 55). ISBN 3-85256-284-8.
Pichler, Anita (2007): Flatterlicht. Verstreute und unveröffentlichte Texte. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Helmut Luger. Wien. Folio (Transfer Europa). ISBN 978-3-85256-380-0.
Poetischer Laerm (2002). Vorgelesen von Helga Plankensteiner; Michael Lösch. Mit Texten von Norbert C. Kaser, Sepp Mall, Gerhard Kofler, Kurt Lanthaler, Christoph W. Bauer und Anita Pichler. Komponist: Benno Simma. Innsbruck. Skarabaeus. 1 Audio-CD (39 Min.) und Textheft (14 S.). ISBN 3-7082-3121-X.
Weiterführende Literatur
Anita Pichler (1948-1997) … ich will einfach erzählen … Ein Filmporträt von Evi Oberkofler und Edith Eisenstecken. 32 min. VHS/DVD (2002).
Bernardi, Rut; Locher, Elmar; Mall, Sepp (Hg.) (1999): Leteratura Literatur Letteratur. Texte aus Südtirol. In Memoriam Anita Pichler. Texte teils deutsch, teils italienisch, teils rätoromanisch. Bozen. Edition Sturzflüge. ISBN 3-900949-30-X.
Gruber, Sabine (Hg.) (1998): Es wird nie mehr Vogelbeersommer sein … In memoriam Anita Pichler (1948 - 1997). Mit Audio-CD. Teil 1: Bilder-Lebenslauf mit unveröffentlichten (oder schwer zugänglichen) Texten von Anita Pichler; Teil 2: 30 Autorinnen und Autoren, Künstlerinnen und Künstler (aus Italien, Österreich, Deutschland und der Schweiz) erinnern sich an Anita Pichler; Teil 3: CD mit Interview- und Lesungsausschnitten von und mit Anita Pichler. Wien u.a. Folio. ISBN 3-85256-088-8.
Gruber, Sabine; Mumelter, Renate (Hg.) (2002): Das Herz, das ich meine. Essays zu Anita Pichler. Wien. Folio (Transfer, 41). ISBN 3852562066.
Bildquellen
Südtiroler Bürgernetz
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