Fembio Specials Bildhauerinnen und Keramikerinnen Hedwig Bollhagen
Fembio Special: Bildhauerinnen und Keramikerinnen
Hedwig Bollhagen
geboren am 10. November 1907 in Hannover
gestorben am 8. Juni 2001 in Marwitz bei Berlin
deutsche Keramikerin
115. Geburtstag am 10. November 2022
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Das blauweißgestreifte Service ist Legende, so wie seine Schöpferin auch. Die Keramik von Hedwig Bollhagen steht in Galerien und Museen, wird im Berliner KdW genauso verkauft wie in in einfachen Blumenläden. Ihre Werkstatt in Marwitz produziert sechs Jahre nach ihrem Tod weiter die bekannten, meist pastellfarben, geometrisch gemusterten Geschirrstücke.
Nördlich von Berlin fand die am 10. November 1907 geborene Hannoveranerin Anfang der 1930er Jahre den Ort ihres lebenslangen Wirkens. Beide Eltern stammten aus Kaufmannsfamilien. Als sie geboren wurde, schrieb der Vater an die Verwandtschaft: „Eine gesunde Martinsgans ist angekommen.“ Die Brüder Hans und Hermann begrüßten das Nesthäkchen. Als Hedwig erst drei Jahre alt war, starb ihr Vater. Die Mutter lenkte das Interesse der Tochter früh auf moderne Kunst. Andererseits begann ihre Liebe zu den „Pötten“, die sie auf einem Bauernmarkt sah. Mit 14 entdeckte sie in einem Hannoveraner Schaufenster Geschirr, das sich deutlich von dem sonst üblichen Kitsch unterschied – es kam aus einer Steingutfabrik in Velten-Vordamm bei Berlin, wo sie später ihre erste Stelle antrat.
Eine Freundin der Familie führte sie und andere Kinder in den Ferien an das Töpfern heran. Sie selbst kommentierte das einmal: „Es muss wohl eine angeborene Vorliebe gewesen sein, denn ich hatte schon immer gerne so getöpferte kleine Puppengeschirre gehabt. Da durfte eigentlich keiner mit spielen – außer ich selber.“
Nach dem Schulabschluss 1924 – sie absolvierte das Lyzeum in Hannover – musste sie feststellen, dass sie als Frau nicht so einfach in die Branche hineinkommen würde. In einer kleinen hessischen Dorftöpferei konnte sie einige Monate lernen und mitarbeiten. Später, ab 1925, besuchte sie fünf Semester die Fachhochschule Höhr-Grenzenhausen – bis heute ist der Ort im Westerwald mit verschiedenen Ausbildungs- und Forschungsstätten der Keramikstandort Deutschlands.
Schon zu Beginn der 20er Jahre kam sie in Kontakt mit Vertretern des Bauhauses, das neben anderen reformerischen Einflüssen ihre Formensprache prägte. Ihre „Wanderjahre“ verbrachte sie unter anderem in Velten-Vordamm bei Berlin, wohin sie 1927 zur Mitarbeit eingeladen worden war. Mit noch nicht einmal 20 Jahren war sie dort Leiterin der mehr als hundert „Malmädchen“. Mit dieser Aufgabe konnte sie sich nicht nur künstlerisch weiter erproben, sondern sie eignete sich auch organisatorische Fähigkeiten an. Hier wuchs ihr Interesse am gesamten Produktionsprozess und dessen Organisation. Ende der 20er genoss sie auch das kulturelle Leben in Berlin, besuchte Cafés, Konzerte und Galerien. Sie konnte an den Vormittagen im Zoo zeichnen, um dann in Velten manche Nacht in der Werkstatt durchzuarbeiten.
Bald erkannte sie, dass unter den damaligen schlechten Wirtschaftsbedingungen künstlerische Einzelstücke nur schwer zu verkaufen sein würden. Sie entschied sich deshalb, einfaches Geschirr herzustellen, erschwinglich für alle. Serienmäßig hergestellte, preiswerte und formschöne Gebrauchskeramik – das war ihre Vorstellung, an der sie fortan festhielt.
Die junge Frau erwarb 1934 eine Keramik-Werkstatt in Marwitz bei Berlin. Besser: Sie fand mit Dr. Heinrich Schild den Helfer, der den juristischen und finanziellen Teil in die Hände nahm. Allerdings war Schild nicht nur Bollhagens väterlicher Freund, sondern auch führender Funktionär des „Reichsstandes des deutschen Handwerks“ und NSDAP-Mitglied. Die vorherige jüdische Besitzerin der Marwitzer Werkstätten, Margarethe Heymann-Loebenstein, hatte - nach einer Denunziation und wachsendem Druck seitens des NS-Regimes - den Betrieb aufgegeben und sah keinen anderen Ausweg, als einem Verkauf deutlich unter Wert zuzustimmen. Sie emigrierte nach England, versuchte dort einen künstlerischen und wirtschaftlichen Neuanfang, konnte aber nicht an den früheren Erfolg in Deutschland anknüpfen.
Am 1. Mai 1934 begann in Marwitz die Produktion mit etwa 35 MitarbeiterInnen. Die Verbindungen von Schild sicherten während der Kriegsjahre das Bestehen und damit Aufträge. Doch auch Bollhagens Arbeiter wurden an die Front geholt, der Absatz ging zurück. Den Vereinnahmungsversuchen der Nazis widerstand HB, wie sie von ihren MitarbeiterInnen seitdem immer genannt wurde, und blieb eigenen Gestaltungsansprüchen treu. Umstritten ist heute, welchen Anteil die Weiterverwendung der Loebenstein-Entwürfe – von einzelnen Teilen sogar bis in die 1960er Jahre hinein – am Erfolg von Hedwig Bollhagen hat.
Ihr „künstlerisches Gegenüber“ und Freund war in den 1930er Jahren der Maler und Keramiker Charles Crodel. Die Nazis hatten ihn als Schöpfer „entarteter Kunst“ von der Hochschule Giebichenstein in Halle vertrieben. In Marwitz konnte er im Bereich der angewandten Künste weiter schöpferisch tätig sein. Gemeinsam erprobten Bollhagen und Crodel neue Techniken, seine Produktivität beflügelte sie. Crodel schuf seine Einzelstücke oft auf Formen, die HB zuvor entworfen hatte. Mit ihm verband Hedwig Bollhagen die wohl wichtigste Freundschaft ihres Lebens.
1946 verließ sie der bisherige Geschäftsführer Schild gen Westen, wo er übrigens bald wieder Funktionär regionaler Handwerksverbände und von 1953 bis 1961 Bundestagsabgeordneter (zunächst der Deutschen Partei, dann der CDU) war. HB sah sich nun immensen Problemen gegenüber: Es fehlte an Brennstoff und Material. Bis 1972 führte sie die Werkstätten allein, als privates Unternehmen. Sie verbrauchte in dieser Zeit ihre Lebensversicherung, um Löhne auszuzahlen. Hedwig Bollhagens Nachfolgerin als künstlerische Leiterin der Werkstatt, Heidi Manthey, meint zu dieser Zeit: „Das Geschäft hinkte.“ Andererseits wurde HB schnell zur bekanntesten Keramikerin des Landes, die in den 50er Jahren auch in Westeuropa ausstellte und ausgezeichnet wurde. Inzwischen gehörte auch die Denkmalpflege zum Angebot: von der Restaurierung des Klosters Chorin über das Rote Rathaus in Berlin bis hin zur Fassade des Anhalterbahnhofs reichten die Aufträge.
Mit dem Mauerbau 1961 begann eine Differenzierung der Keramik: Während in Westdeutschland Einzelstücke eine immer größere Rolle spielten, Funktionalität fast völlig in den Hintergrund trat, stellten Betriebe in der DDR weiter Tongefäße, Steingut oder Fayencen her. Gerade das Geschirr aus Marwitz wurde bald zur sogenannten Bückware, an die nur mit guten Beziehungen zu kommen war.
Mit der Verstaatlichung 1972 hätte HB eigentlich in Rente gehen können, aber sie arbeitete weiter. Es folgte ein vierjähriges Intermezzo der Zugehörigkeit zu einem Rheinsberger Hersteller. Das hieß zum Beispiel: Wochenlang nur Deckel zu herzustellen. Oder die Produktion in Tonnen abrechnen zu müssen, im Vergleich mit dem schweren Steingut aus Rheinsberg. 1976 wurden die Werkstätten Teil des Staatlichen Kunsthandels der DDR. Der wirtschaftliche Druck ließ nach, die gestalterische Freiheit war relativ groß. Überdies konnten zwei neue Öfen in Betrieb genommen werden. Heidi Manthey: „Das Geschäft hinkte jetzt besser.“ Probleme gab es immer wieder: Aus Tschechien erhielt man zwar Ton, aber nicht die erste Qualität, die ging in den Westen. Der dienstälteste Mitarbeiter, der gelernte Töpfer Günter Sens, heute in den 60ern, schätzte an seiner Chefin, dass sie in allen Fragen ansprechbar war. Auch an zwischenzeitlich eingesetzten Abteilungsleitern vorbei konnte nicht nur direkt mit ihr geredet, sondern auch gestritten werden.
Heidi Manthey erinnert sich an die Betriebsfeste als „die schönsten Feste, die ich je erlebt habe.“ Den MitarbeiterInnen brachte HB von ihren Westreisen HB-Zigaretten zu Weihnachten mit, oder auch gutes Werkzeug. Ein Pfefferkuchenhaus nach HB-Schnittmuster gehörte zum Weihnachtsfest.
1990 waren die Werkstätten Betriebsteil der Art Union GmbH, dem Nachfolger des DDR-Kunsthandels. Die Treuhandgesellschaft zahlte zwar die Löhne weiter – sonst aber nichts. Verschiedene „Freier“, so HB, standen vor der Tür, die wenigsten sagten ihr zu. Besonders schwer fiel es ihr, immer mehr MitarbeiterInnen entlassen zu müssen. Heute arbeiten noch 26 Frauen und Männer in Marwitz.
1992 gelang dann mit Wolfgang Scholz als Geschäftsführer die Reprivatisierung, und Hedwig Bollhagen wurde mit 85 Jahren die wohl älteste Unternehmerin Deutschlands. In einem Jahr wurde der Umsatz wieder verdoppelt. Teller und Tassen fanden ihren Platz auch im anspruchsvollen Manufactum-Katalog. Günter Sens bekennt allerdings, dass er sich die eigenen Produkte heute nicht mehr leisten kann.
Als sie in hohem Alter 1997 das Bundesverdienstkreuz erhielt und viele Ehrungen und Aufmerksamkeit erfuhr – unter anderem wurde ein überlebensgroßes Porträt von ihr auch auf der Expo in Hannover gezeigt – konnte sie den Rummel um ihre Persönlichkeit nicht verstehen. Sie bemerkte dazu, dass sie viel lieber zu einem Klassentreffen mit ihren alten Freundinnen nach Hannover ginge als zu einem Fernsehauftritt.
Der tägliche Rundgang durch den Betrieb, 6.15 Uhr bei Arbeitsbeginn, gehörte bis in die letzten Jahre zur Normalität der HB in Marwitz. „Wenn wir spät abends vom Tanz kamen“, so Sens, „brannte bei ihr immer noch Licht in der Werkstatt.“ In der Regel trug sie extra geschneiderte, hellblau karierte langärmlige einfache Kittel mit extra großen Taschen. Seit den 30er Jahren das Haar im Nacken zum strengen Knoten gebunden, so kannten sie ihre MitarbeiterInnen. Ende der 90er Jahre musste sie kürzer treten: Mehrere Knochenbrüche machten ihr zu schaffen, die Sehkraft ließ nach. 2001, als sie bereits bettlägerig war, versuchte sie immer noch, neue Dekors zu entwerfen und die Ausführung zu betreuen.
Am 8. Juni 2001 verstarb Hedwig Bollhagen in Marwitz. Beigesetzt ist sie in ihrem Geburtsort Hannover. Neben weiteren Ausstellungsorten besitzt auch das dortige Kestner-Museum Arbeiten von ihr.
(Text von 2006, aktualisiert am 13.2.2008)
Verfasserin: Ulrike Henning
Links
Gedenken an Hedwig Bollhagen. Rede auf der Trauerfeier für die Keramikerin Hedwig Bollhagen am 3. Juli 2001 in der Potsdamer Friedenskirche (2001).
Online verfügbar unter http://www.stk.brandenburg.de/sixcms/detail.php?id=11060&_siteid=16, zuletzt geprüft am 26.05.2021.
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (2009): Bollhagen, Hedwig. Biographische Angaben aus dem Handbuch »Wer war wer in der DDR?«.
Online verfügbar unter https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/hedwig-bollhagen, zuletzt geprüft am 26.05.2021. Huber, Wolfgang (2001):
Ansprache bei der Gedenkfeier für Hedwig Bollhagen, 03.07.2001.
Online verfügbar unter https://www.ekd.de/ansprache-bei-der-gedenkfeier-fuer-hedwig-bollhagen-45297.htm, zuletzt geprüft am 26.05.2021.
Werkstätten für Keramik - Hedwig Bollhagen, Marwitz: Hedwig-Bollhagen.de.
Online verfügbar unter http://www.hedwig-bollhagen.de/, zuletzt geprüft am 26.05.2021.
Literatur & Quellen
Quellen
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Everwien, Andrea (2008): Hedwig Bollhagen - die umstrittenen Anfänge. rbb, Kontraste, Sendung vom 7. Febr. 2008. Berlin.
Gorka-Reimus, Gudrun (2008): Hedwig Bollhagen. Ein Leben für die Keramik. Ausstellungskatalog. 2., überarb. Aufl. Bonn. Dt. Stiftung Denkmalschutz. (Monumente - Publikationen der Deutschen Stiftung Denkmalschutz) ISBN 9783936942859.
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Heger, Andreas (2005): Keramik zum Gebrauch. Hedwig Bollhagen und die HB-Werkstätten für Keramik. 1. Auflage. Kromsdorf. VDG Weimar - Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften; VDG. ISBN 9783958992863.
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Keisch, Christiane (1993): Hedwig Bollhagen. Zum 85. Geburtstag. Ausstellung im Kunstgewerbemuseum, Schloss Köpenick, 23.12.1992 bis 31.3.1993. Berlin. Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz. ISBN 388609409X.
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Mieder, Rosemarie; Schwarz, Gislinde: Margarethe Loebenstein und Hedwig Bollhagen. Eine alltägliche Geschichte aus dem Dritten Reich. DeutschlandRadio-Sendung vom 4. Januar 2008.
Schütter, Katharina und Heger, Andreas (Hg.) (1997): Hedwig Bollhagen wird neunzig. Vollendung des Einfachen ; eine Ausstellung des Fördervereins Ofen- und Keramikmuseum Velten e.V. 1997. Velten. Ofen- und Keramikmuseum. (Baustein, 5)
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Steckner, Cornelius (2003): Hedwig Bollhagen – Charles Crodel. Briefe und Zeichnungen. Großpösna. Müller. ISBN 3980880907.
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Weiterführende Literatur
Hudson-Wiedenmann, Ursula (2007): Ein fairer Preis? Zur Vorgeschichte der HB-Werkstätten in Marwitz – eine Erwiderung. In: Märkische Allgemeine vom 16.6.2007.
Jürgs, Britta (2002): Vom Salzstreuer bis zum Automobil. Designerinnen. Darin: Von den Haël-Werkstätten zur Greta Pottery. Grete Heymann-Marks. von Ursula Hudson-Wiedenmann. Berlin. AvivA. ISBN 3-932338-16-2.
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Leschonski, Antje (Hg.) (2010): Anna, Lily und Regine. Frauenporträts aus Brandenburg-Preußen. Berlin. vbb, Verl. für Berlin-Brandenburg. ISBN 9783942476164.
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Lokau, Walter, Faust, Solveig und Seydewitz, Nicole (Hg.) (2016): Marwitz. In der Werkstatt. Lehrlinge und Mitarbeiter Hedwig Bollhagens. Unter Mitarbeit von Ines Hübner, Brigitte Faber-Schmidt und Udo Arndt. Velten. Ofen- und Keramik Museum Hedwig Bollhagen. (Publikationen des Fördervereins des OKM Velten, 2) ISBN 9783981607659.
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Nollert, Angelika (Hg.) (2019): Hedwig Bollhagen und die HB-Werkstätten. Musterstücke und Serienobjekte = Hedwig Bollhagen and the HB-Werkstätten : sample pieces and series objects. Weiden, München, London, Köln. Internationales Keramik-Museum Zweigmuseum der Neuen Sammlung - The Design Museum; Koenig Books Ltd; König, Walther. ISBN 9783960986683.
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Ouwerkerk, Erik-Jan; Seydewitz, Nicole et al. (2019): HB erbt HB. Erik-Jan Ouwerkeerk ein niederländischer Photograph bei Hedwig Bollhagen, Deutschlands ältester Jungunternehmerin. [1. Auflage]. Velten. VV Veltener Verlagsgesellschaft. ISBN 9783982044507.
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Weber, Klaus und Sannwald, Daniela (Hg.) (1989): Keramik und Bauhaus. Ausstellungskatalog. Darin: Margarete Heymann-Marks. Berlin. Kupfergraben Verlagsgesellschaft. ISBN 3-89181-404-6.
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