Johannespassion oder Braucht die Muttergottes einen Vormund?
Am Vorabend zu Karfreitag waren wir in der Marktkirche und erlebten Bachs Johannespassion in einer wunderbaren Aufführung mit dem Bachchor und Bachorchester Hannover unter Leitung von Jörg Straube.
Ich habe die beiden großen Bach-Passionen schon oft gehört - früher aus dem Radio, von der LP oder Musicassette, seit 2002 von meinem iPod. Die Musik kenne ich also recht gut, aber um den Text habe ich mich nie gekümmert. Was der Evangelist singt, verstehen wir meist recht gut, weniger die anderen SolistInnen oder den Chor. Dazu müssen wir den Text kennen oder mitlesen.
Zum Mitlesen hatte ich am Gründonnerstagabend zum ersten Mal Lust und Gelegenheit. Vieles wirkte auf mich grausig bis unfreiwillig komisch, von der „Marterstraße“ bis zu den „Lasterbeulen“, aber solche Drastik kennen wir ja schon aus den Kantaten: Meine Lieblingsstelle handelt vom Osterlamm, das „hoch an des Kreuzes Stamm in heißer Lieb gebraten“ wird (Kantate „Christ lag in Todesbanden“, BWV 4). Eine Stelle fand ich pragmalinguistisch sehr spannend und hätte Lust, sie mir mal vorzunehmen:
Pilatus aber schrieb eine Überschrift und satzte sie auf das Kreuz, und war geschrieben "Jesus von Nazareth, der Jüden König". Diese Überschrift lasen viele Juden, denn die Stätte war nahe bei der Stadt, da Jesus gekreuziget ist. Und es war geschrieben auf hebräische, griechische und lateinische Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Jüden zu Pilato: Schreibe nicht: der Jüden König, sondern dass er gesaget habe: Ich bin der Jüden König. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
Kein Wunder, dass die Hohenpriester sich über Pilatus' Überschrift auf dem Kreuz aufregten, bestätigt und anerkennt sie doch genau das - noch dazu vielsprachig und für alle sichtbar, wie mit einer breit angelegten Werbekampagne - was die Hohenpriester auf die Palme bringt und weswegen sie Jesus beseitigen lassen wollen. Auf ihren Protest antwortet Pilatus - ähnlich kryptisch wie Jahwe mit seinem „Ich bin, der ich bin“ - „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“. Mit anderen Worten: „Erklärungen sind unter meiner Würde.“
Die Textstelle aber, die feministisch-linguistisch am interessantesten ist, betrifft Jesu Anweisungen an seine Mutter - „Weib, siehe, das ist dein Sohn!“ - und an seinen Jünger Johannes: „Siehe, das ist deine Mutter!“
Derartige neue Verwandtschaften kreieren sonst nur Standesbeamte und Geistliche, wenn sie Mann und Weib und neuerdings auch gleichgeschlechtliche Paare durch die Zeremonie der Trauung zu Eheleuten erklären „bis dass der Tod euch scheidet!“
Man versteht, dass der Gekreuzigte sich kurz fassen muss, dennoch wirken seine Anweisungen etwas barsch, und vor allem ziemlich plötzlich.
Im Passionstext folgt danach ein Choral, der uns Jesu Worte auslegt:
Er nahm alles wohl in acht In der letzten Stunde Seine Mutter noch bedacht, Setzt ihr ein' Vormunde. O Mensch, mache Richtigkeit, Gott und Menschen liebe, Stirb darauf ohn alles Leid Und dich nicht betrübe!
Maria hat noch schnell einen Vormund verpasst bekommen, da der eigene Sohn dieser Aufgabe nun nicht mehr nachkommen kann.
Als ich das im Textheft las, war ich völlig platt. So hatte ich diese bekannte Geschichte noch nie gehört. Die heilige Muttergottes, verehrt von der ganzen Christenheit und seit Urzeiten um Hilfe angefleht von den Elenden dieser Welt - sie braucht einen männlichen Vormund?
In der Bibel ist von Vormundschaft auch nirgends die Rede. Dort heißt es nur: „Und von Stund an nahm sie der Jünger zu sich.“ (Joh 19,27). Die Vormundschaft des Jüngers über die Muttergottes ist also eine fromme Zutat des zeitgenössischen Textdichters, vielleicht sogar Bachs selbst.
Über Bachs Umgang mit seinen beiden Ehefrauen und vor allem seinen neun Töchtern habe ich vor bald 25 Jahren mit Swantje Koch-Kanz eine längere Abhandlung verfasst. (1) Anna Magdalena Bach, seine zweite Frau, gebar zwischen 1723 und 1733 zehn Kinder, von denen sieben starben. Zwischen seinen musikalischen Großtaten (die Johannespassion wurde 1724 uraufgeführt) fand Bach also noch die Zeit, seine Frau pausenlos zu schwängern. Sie kam aus den Schwangerschaften und der Trauer um die so bald versterbenden Kleinen einfach nicht mehr heraus.
Es passt zu diesen brutalen Tatsachen, dass in den Augen Bachs und seiner Zeitgenossen die Frau, selbst wenn sie als Mutter Gottes den höchsten Status erreicht hat, den eine Frau in diesem System erreichen kann, doch von Natur unmündig ist, so dass sie von der Wiege bis zur Bahre einen männlichen Vormund braucht.
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(1) Koch-Kanz, Swantje & Luise F. Pusch. 1988. "Die Töchter von Johann Sebastian Bach", in: Pusch, Luise F. Hg. 1988. Töchter berühmter Männer: Neun biographische Portraits. Frankfurt/M. Insel TB 979. S. 117-154. •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
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4 Kommentare
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09.04.2012 um 15:50 Uhr Gudrun Nositschka
Durch Vera Zingsem (Theologin) erfuhr ich vor Jahren, dass Martin Luther diese Stelle im Johannes geschönt übersetzt hat. Eigentlich muss es heißen: “Von Stund an nahm er (Johannes) sie (Maria) in sein Eigentum”. Was lernen wir daraus? Sowohl in der hebräischen Bibel als auch im NT sowie im Koran gelten Mädchen und Frauen als Eigentum von Männern (Väter, Ehemänner), bzw. stehen unter der Vormundschaft eines Verwandten (Brüder, Söhne), wenn ihre Eigentümer tot sind. Unsere heutigen Rechte als Frauen haben wir nicht diesen androzentrischen Religionen zu verdanken, sondern dem Durchhaltewillen vieler Frauen vor uns, sich von diesen Knebelungen zu lösen. Für mich ist nicht zu verstehen, dass es heute noch so viele Frauen in den Kirchen gibt, die bereit sind, in der Tradition des 10. Gebotes stehen zu bleiben und dafür auch noch Kirchensteuer zu zahlen. Ostern als ein Frühlingsfest in Verbindung mit Sonne und Mond und den bunten Eiern als Ausdruck des Lebens bleibt eine fröhliche Zeit.
09.04.2012 um 14:28 Uhr anne
dieser vormund marias kommt vor und nennt sich `zacharias`, von gott auserwählt für maria, die reine, auserwählte, einzig für den gottessohn geschwängerte und keusche frau in aller ewigkeit, amen! (nachzulesen in maria unter der vormundschaft zacharias und ihre wundertat im koran).
marias leid begann demnach schon mit der zwangerschaft - wie könnte sich eine frau über eine `vergewaltigung` freuen? vielleicht kam die lobpreisung auch daher, weil die verfasser der mythen und legenden um jesus christus das schlechte gewissen plagte? der `heilige geist` schwängerte maria, auch so kann mann tatsachen verdrehen und `zwangerschaften` schön-reden?
gestern habe ich in der zeitung ein trauriges bild gesehen, wie eine nonne in jerusalem und in gebückter haltung auf dem weg…. das kreuz trug, um jesus leiden bildhaft/körperlich `vorzutragen` - all das leid, das frauen unter den vertretern des christentums ertrugen und heute noch zu ertragen haben, wird anscheinend dabei vergessen, ist zweitrangig , denn frauen wurden zu `unmündigen` personen erklärt.
der papst bittet um gehorsam und verkündete sein `nein zu priesterinnen`- der ausschluß der frauen sei ausdruck des göttlichen auftrags. dabei sind es die frauen, die das rückgrat der kirche bilden und die meisten ehrenamtl. arbeiten verrichten, heisst es. auch diese frauen haben einen männlichen vormund… ich frage mich, wie verträgt sich feminismus mit katholizismus, wenn die botschaft lautet `ausschluß der frauen sei ausdruck des göttlichen auftrags?
ich würde meine beine in die hand nehmen und diesmal den göttlichen auftrag strikt befolgen und das weite suchen….
mary daly und der traum in grün (femmage von g. nositschka) “baum der erkenntnis/bei aller kritik meinte Mary Daly noch, dass die christliche frauenfeindlichkeit heilbar wäre und kämpfte für eine religiöse dimension der frauen in der kirche. bereits in ihrem zweiten buch `jenseits von gottvater, sohn & co`, hatte sie nicht mehr die hoffnung , dass das christentum zu reformieren und für frauen tragbar wäre, ein affront für ihren arbeitgeber, das jesuiten college in boston. der lebensfeindlichkeit des patriarchats setzte Mary Daly von nun an die weibliche spiritualität entgegen…zitatende
ich höre zwar gerne bach, aber keinesweg die gruseligen texte um die symbolischen geschehnisse, die keineswegs bewiesen sind, sondern der manntasie ihrer verfasser entstammten: `ruh wohl, ihr heiligen gebeine , herr unser herrscher etc.`
zu karfreitag gab`s im fernsehen die reinsten schlachtgetümmel, selten habe ich an einem `feiertag` so viele leichen, brutalitäten, heldentum, verbrechen, mord und totschlag, blutrünstigkeit zwecks unterhaltung gesehen - was geht bloß in den köpfen dieser medien-veranstalter vor?
http://www.bzw-weiterdenken.de/2010/01/mary-daly-und-ihr-traum-in-grun/
09.04.2012 um 10:09 Uhr Lena Vandrey
Die Sache mit dem Vormund für MARIA ist ein Fundstück! Es wäre interessant zu wissen, ob er in anderssprachigen Fassungen auch vorkommt, dieser Vormund.
Maria war zu Lebzeiten nicht weltberühmt und gar nicht so sehr beliebt, weil Sie sich erst NACH der Kreuzigung zum Christentum bekannte. Ihr Status war der einer MAGD, so wurde Sie auch genannt. Die Verhältnisse in Judäa hätten verlangt, dass Sie als Josephs Witwe wieder heiratet - hat Sie oder hat Sie es nicht getan? Von wem sind die jüngeren Brüder Jesu? Als Vormund hätte der nächstälteste Sohn, Jakobus? fungieren können. Für Christi Geschmack mischte Sie sich zu sehr in Seine Angelegenheiten ein: Weib, was habe Ich mit dir zu schaffen? SchlieBlich tat Er doch, was SIE wollte. Vermutlich war ER Ihr Vormund, was erklären könnte, dass Er noch schnell für Sein Mündel einen Nachfolger bestimmte. Frauen zu entmündigen, als dringende Pflicht im Angesicht des Todes! Zu dem Bild der Gesellschaft im damaligen Judäa passt der Vorgang durchaus, wie zu allen heutigen Orthodoxien.
Wer die Frauen hat, hat die Gesellschaft, soll Lenin gesagt haben. Eine Evidenz! oder JS.Bach hat von den Zuständen in seiner Gesellschaft diese Notwendigkeit abgeleitet.
Die Marien-Verehrung ist die Sache der Katholikinnen, Maria als Bindung an Gott, praktisch ohne Christus, während die Protestanten, also auch Bach, von Ihr nicht viel wissen wollen. Auch das könnte den Satz mit der Vormundschaft erklären.
In keiner Marien-Biographie findet sich eine Spur von dieser Sache. Dabei ist sie, für orientalische Verhältnisse, das Normalste von der Welt, und für die Bachschen Zeiten leider auch.
Ich habe die Matthäus-Passion in früheren Zeiten hundertmal gehört und mitgesungen, und wurde dafür gerügt: ich solle nicht in diesen religiösen Musiken schwelgen, sondern die Texte lesen; Kirchenmusik sei per spe frauenfeindlich, auBer den Motetten zu Marias Lob und Verehrung.
Wofür aber wurde Sie so sehr gelobt? Für Ihre Mutterschaft!!!
Neulich hätte mich eine Frau mit ihrem Kinderwagen beinahe überfahren…
Prost Ostern!!!...
09.04.2012 um 09:17 Uhr Dürr
Frohe Ostern, liebe Luise! Ich habe mich schon so ab etwa 7, 8 Jahren an gefragt, was denn an Ostern schön, froh oder lustig sein soll, mal von den Osterleckereien abgesehen. Die Klappern von Donnerstagabend an, Karfreitag nur Milch u.Brot zum Essen, Karfreite grosse Putzerei u.abends noch in die Kirche, stundenlang - ich habe es nie begriffen. Bis heute nicht. Und ich hatte Gott immer vorgeworfen, ein mieser, böser, brutaler u. herzloser Vater zu sein, denn die Sünden der Menschen hätte er ja so vergeben können, ohne dass er seinen Sohn auf solch bestialische Art hätte umbringen lassen müssen. Geht mir bis heute so!
Was aber Mariä Vormund betrifft, so kommt mir eine afrikanische Geschichte in den Sinn, die einer uns bei einem seiner raren Besuche erzählte: Er - ein Nachbarssohn - ging vor 50 Jahren nach Kenia u. übernahm dort eine Kaffeefarm. Ein besonders guter Arbeiter bat eines Tages um Urlaub, sein Vater sei gestorben. Dieser wohnte im Norden des Landes und er müsse als Aeltester seiner Mutter die Beerdigung regeln. Nach etwa 10 Tagen kehrte er zurück. Ein paar Wochen später verlangte dieser Arbeiter nochmals Urlaub, sein Vater sei gestorben. Wieviele Väter er denn habe, fragte der unbedarfte Ausländer empört. Das wisse er noch nicht, war die Antwort. Der Werner, so hiess der Nachbarsohn, liess den Arbeiter gehen, erkundigte sich aber bei Weissen in der Gegend, was das wohl wäre. Wenn der momentane Mann einer Frau, mit der er Kinder hatte, stirbt, übernimmt einer ihrer Brüder oder ein Bruder des Mannes formal die “Vaterstelle”. Dabei geht es nicht um Bevormundung der Frau, sondern darum, dass in der Gemeinde, gegenüber den (christl.) Behörden ein Mann spricht und die Rolle d.Mannes/Vaters übernimmt. Die Behörden wurden ja von den Kolonialherren christlich/westlich organisiert samt der Diskriminierung der Frauen. Und so haben sich die Einheimischen diesem System formal angepasst. Die Frau aber trug weiterhin die ganze Verantwortung für ihr Hab und Gut und - natürlich - die Kinder, woher auch immer diese stammten. Eine Ehe, wie man sie heute und bei uns kennt, ist in Kenias ländlichen Gegenden noch immer die Ausnahme. Normalerweise sagt die Frau, ob der Mann noch bleiben darf oder nicht, sie nimmt sich einen anderen oder schliesst sich einer Sippe an, wie SIE es will. Die “Väter” sind dann eben Männer der Sippe - wie auch immer.
Vielleicht war das damals in der jüdischen Gesellschaft ähnlich?
Der Rest dürfte die bekannte Verleumdung der Frauen durch die christlichen Kleriker gewesen sein, so, wie aus Maria Magdalena, einer reichen, adeligen Frau, die Jesus samt Jüngern durchgefüttert hat, eine Hure “geworden” ist…
Trotzdem: Nochmals schöne Ostertrage!
Dürr