Fembio Specials Frauen aus München Hedwig Reicher-Kindermann
Fembio Special: Frauen aus München
Hedwig Reicher-Kindermann
geboren am 15. Juli 1853 in München
gestorben am 2. Juni 1883 in Triest
deutsche Sängerin
140. Todestag am 2. Juni 2023
170. Geburtstag am 15. Juli 2023
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Seinen drei Töchtern – Franziska, Hedwig und Marie – sowie seinem Sohn war der berühmte Münchner Bariton August Kindermann ein so ungewöhnlich prägendes Vorbild, daß alle vier ebenfalls die Opernlaufbahn einschlugen.
Hedwig muß bei ihrem (autodidaktischen) Vater, dem ersten Wotan und Titurel, eine sehr sorgfältige, ihrem großen Stimmumfang entsprechende fundierte Ausbildung bekommen haben, denn ihre Karriere begann sehr früh und intensiv. Nach ersten Bühnenerfahrungen, die sie wie der Vater im Opernchor sammelte, debütierte sie schon 1871 an der renommierten Karlsruher Oper, sang aber auch im gleichen Jahr an der Münchner Hofoper die Gräfin im Wildschütz von Lortzing, dem Freund des Vaters. Da war sie erst achtzehn, kann aber bald schon in Berlin die Zauberflöten-Pamina und die Freischütz-Agathe übernehmen, 1875 dann interessanterweise den Orlowski in der bayerischen Erstaufführung der Fledermaus.
1876 das bedeutsame Gegengewicht: sie singt Wagner in Bayreuth - zunächst, zusammen mit den berühmten Schwestern Marie und Lilli Lehmann, die Grimgerde im ersten Ring-Zyklus, dann im zweiten zum ersten Mal - und dies muß eine wichtige persönliche Erfahrung für sie gewesen sein – die Erda. Hedwig ist etwas über zwanzig. Es bleiben ihr weniger als acht Jahre. Die Engagements am Hamburgischen Stadttheater (Orpheus) und ab 1878 an der Wiener Hofoper, wo sie sich u.a. mit dem italienischen Repertoire beschäftigt, erscheinen fast wie “Vorspiele”.
1880 geht sie nach Leipzig. Von dort hat der Schauspieler und Impresario Angelo Neumann Richard Wagner “Pläne für ein Wanderndes 'Wagner-Theater'” unterbreitet – eine Operntruppe aus den besten SängerInnen Deutschlands, einem Orchester und der ganzen Bühnenausstattung samt zugehörigem Personal, die für Tourneen in die musikalischen Zentren Deutschlands und umliegender Länder von Wagner das Alleinrecht auf die Aufführung des Ringes bekommen hat.
Durch ihre hochkarätigen Vorstellungen und Konzerte wird sie seine Werke weit herum verbreiten und die besuchten Städte ermuntern, von Wagner Aufführungsrechte für ihre Bühnen zu erwerben. Was allerdings für uns heutige nach einer “bloßen” Promotionstour klingt, bedeutete für die Mitwirkenden damals Arbeit mit hohem Engagement für die Sache Wagner und seine Musik sowie natürlich auch “Reklame in eigener Sache”.
Eigentliche Primadonna, aber auch gute Seele dieser Compagnie ist Hedwig Reicher-Kindermann. Ihr Repertoire umfaßt jetzt u.a. zusätzlich Wagners Waltraute, Ortrud, Isolde, Fricka und Brünnhilde. Nach zwei triumphalen Ring-Zyklen 1882 in London und einer schweren Erkrankung in Brüssel schließt sie sich doch wieder der höchst erfolgreichen Italientournee an.
Am 18. Mai in Triest besteht sie darauf, noch einmal die Erda zu singen. Nach der heiteren nächtlichen Nachfeier bekommt sie wieder Fieber, kann an den folgenden zwei Tagen die Brünnhilde in Walküre und Siegfried nicht singen, singt aber am Vorabend von Wagners Geburtstag in der Götterdämmerung und bricht danach zusammen. Die Truppe muß ohne sie weiter. Auf den Tag vier Monate nach Wagners Tod stirbt sie. Sie ist keine dreißig Jahre alt geworden.
Ein wenig “Privates” soll aber noch nachgetragen werden. Verheiratet war Hedwig Kindermann mit Emanuel Reicher, einem bekannten Schauspieler und (Film-)Regisseur, dessen drei Kinder (aus zweiter Ehe) wie sie und ihre Geschwister ebenfalls den Beruf des Vaters fortführten. Seine Tochter hatte er übrigens Hedwig genannt.
(Text von 2002)
Verfasserin: Swantje Koch-Kanz
Zitate
Clara Schumann an ihre Tochter Marie, Leipzig, 30. Januar 1881: Wir hatten vorgestern einen großen Genuß – Alceste mit der Reicher-Kindermann, eine höchst talentvolle Sängerin. Ach hätten wir doch solch Eine in Frankfurt! Ich habe den ganzen Abend geschwelgt in der herrlichen Musik und der vortrefflichen Aufführung ...
Angelo Neumann:
S. 232: ... Bei der Generalprobe des Rheingold konnte die Darstellung des Froh mich gesanglich nur wenig befriedigen. Die Kindermann, die die Fricka sang, schien dies zu bemerken und kam zu mir an den Regietisch heran, indem sie in ihrem ächt bairischen Dialekt sagte: “Gell, Direktor, der Froh g'fallt Ihnen net? Wissen's was, i übernehm die Stell, die kann i singen.” Es war die Stelle nach dem Gewitter. “Wie liebliche Luft wieder uns weht” u.s.w. ... Ich erfaßte den glücklichen Gedanken ... fragte ich sie noch, ob sie sich in der Stelle auch sicher fühle: “Aber!” sagte die geniale Künstlerin vorwurfsvoll.
S. 323: ... [Neumann bat sie, nach der Vorstellung gleich heim zu gehen und sich zu schonen für die nächsten drei Tage/ Aufführungen, sie aber hatte KollegInnen zu Münchner Bier eingeladen .. Neumann:] “... ja nicht im Freien sitzen und nicht zu lange bleiben.” Sie versprach es, indem sie mir, wie sie es sich angewöhnt hatte, gegen meinen Willen die Hand küßte; wie sie ja zeitlebens ein rührend dankbares und anhängliches Mitglied gewesen war.
S. 328f: Hedwig Reicher-Kindermann war die größte dramatische Sängerin der zweiten Hälfte ihres Jahrhunderts ... Ihre Brünnhilde, ihre Erda, Fricka, Ortrud, ihre Leonore und Eglantine und, nicht zu vergessen, ihre Carmen habe ich in den langen Jahrzehnten meiner Tätigkeit und Erfahrung von keiner Künstlerin vor oder nach ihr jemals auch nur annähernd mit so vollendeter Wirkung zur Geltung bringen sehn. Wer von ihr das Duett mit Telramund und ihre Anrufung der Götter, die Eglantine, den dritten und den letzten Akt der Carmen, die große Leonoren-Arie gehört hat, ihre Todesverkündigung an Siegmund, ihren Abschied von Wotan, das Erwachen in Siegfried, ihr Erscheinen mit Gunther vor Siegfried erlebt hat, wer bei ihrer Brünnhilde vom ersten Hojotoho in der Walküre an bis zum letzten seligen Scheidegruß in der Götterdämmerung zugegen gewesen, dem wird zeitlebens ein unverlöschlicher Eindruck erhalten geblieben sein, die leuchtende Erinnerung an ewige Gestalten, an eine Künstlerkraft der Nachgestaltung, wie sie in solcher Größe nur selten, hie und da einmal zur Erscheinung kommen kann.
Literatur & Quellen
Ehrlich, A. [1896]. Berühmte Sängerinnen der Vergangenheit und Gegenwart: Eine Sammlung von 91 Biographien und 90 Porträts. Leipzig. Payne.
Große Frauen der Weltgeschichte: Tausend berühmte Frauen in Wort und Bild. o.J. Wiesbaden. R. Löwit.
Kohut, Adolph. o.J. Die Gesangsköniginnen in den letzten drei Jahrhunderten. 2 Bde. Berlin. Kuhz.
Kutsch, K.J. & Leo Riemens. 1987. Großes Sängerlexikon. Zweiter Band: M-Z. Bern; Stuttgart. Francke.
Neumann, Angelo. 1907. Erinnerungen an Richard Wagner; mit vier Kunstblättern und zwei Faksimiles. 3. Auflage. Leipzig. L.Staackmann.
Schnoor, Hans. 1948. Dresden – 400 Jahre deutscher Musikkultur. Zum Jubiläum der Staatskapelle und zur Geschichte der Dresdner Oper. Dresden. Dresdner Verlags-Gesellschaft.
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