Fembio Specials Exilantinnen (1933-1945) Lu Märten
Fembio Special: Exilantinnen (1933-1945)
Lu Märten
Märten archive
(Louise Charlotte Märten [eigentlicher Name]; Luzifer [Pseudonym]; Raa Bonares [Pseudonym]; Allan Loeben [Pseudonym])
geboren am 24. September 1879 in Berlin-Charlottenburg
gestorben am 12. August 1970 in Berlin-Steglitz
deutsche Publizistin und sozialistische Theoretikerin
145. Geburtstag am 24. September 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Als Lu Märten 1970 mit 90 Jahren stirbt, blickt sie auf die Kaiserzeit, die Weimarer Republik und die Nazizeit zurück; sie hat zwei Weltkriege überstanden, war durch die SPD- und ab 1920 KPD-Mitgliedschaft publizistisch während der Nazi-Zeit auf dem Abstellgleis und nach 1945 im Westen als marxistisch und im Osten als zu wenig angepasst, zu unorthodox eingeschätzt, nie mehrheitsfähig. Trotzdem blieb sie Zeit ihres Lebens ihren Grundüberzeugungen treu. Ihre marxistische Literatur- und vor allem Kunsttheorie aus der Zeit schon vor dem ersten Weltkrieg und den 1920ern, ihre frauenemanzipatorischen, film- und kunstkritischen Publikationen vor 1933 und ihr dichterisches Werk mit früher Lyrik, einem Schauspiel in einem Akt, „Bergarbeiter“, und einigen erzählerischen Werken, gibt Zeugnis einer aufrechten Persönlichkeit, die sich nie unterkriegen lässt und nie anpasst. Ihr spätes Lehrstück „Bürgermeister Tschech und seine Tochter, Erinnerungen an den Vormärz 1844“ von 1947 zeigt den pädagogischen Impetus, den sie aktiv in die Steglitzer Bibliothek nach 1945 einbringt.
Der Vater Gottlieb Hermann Märten, ein ehemaliger Berufssoldat und Bahnbeamter, stirbt früh, und die verarmte Familie kann sich kaum über Wasser halten. Lu Märten hat mit 25 Jahren schon ihre drei Geschwister und die Mutter Emily Antonie Märten verloren. Sie leidet als Kind an einer schweren Nierenerkrankung, ein regelmäßiger Schulbesuch ist unmöglich. Ihr später reichhaltiges Wissen in Literatur, Philosophie und Geschichte, aber auch Kunstgeschichte, Volkswirtschaft und Ethnologie erwirbt sie autodidaktisch, unterstützt durch den Bruder Hermann, der auch früh verstirbt, und den langjährigen Verlobten Willi Engel. Durch Hermann, der ein Klavier ins Haus holt, beschäftigt sie sich auch intensiver mit Musik; so wie sie durch Hermann und Willi ihre ersten philosophischen Lektüreerlebnisse mit Spinoza vermittelt bekommt.
Kindheitserfahrung von Krankheit, Not und Tod sowie ihre frühe, kurzzeitige Hinwendung zur Apostolischen Kirche, die von Wales aus in Berlin eine Dependance errichtet hat, prägt ihr späteres Leben. Rechtlosigkeit, Ungleichbehandlung, Sektierertum und Populismus sind ihr fortan ein Gräuel.
Kontakten zur Bodenreformbewegung, zu Friedrich Naumanns Nationalsozialem Verein und dem jungen Theodor Heuss – mit dem sie eine längere tiefe Freundschaft verbindet – in ihren frühen dichterischen Jahren folgt der Schwenk zur SPD und weiter ins marxistische Lager. Einen emotionalen Eindruck über die Anfänge vermittelt ein längeres Zitat aus einem Brief, den Theodor Heuss am 6./7. Mai 1907 aus Berlin-Wilmersdorf an seine junge Verlobte Elly Knapp in Straßburg schreibt, über den kleinen Berliner Freundeskreis mit Gustav Stotz, dem Architekturfreund aus Stuttgart, der in Berlin zum Werkbund stößt, und Lu Märten:
Mein liebes Herz!
So was hab ich noch nie mitgemacht. Seit gestern ist hier der reine Hochsommer, furchtbar heiß und schwül. Die plötzliche Änderung hat allen guten Schaffensabsichten den Boden weggezogen. So bin ich heut den ganzen Nachmittag mit Lu im Wald herumgezogen und herumgelegen. Die Luft war zwischen den Kiefern schon ganz zitterig vor Wärme.Weil man sich selber meist das unerschöpflichste Thema ist, haben wir wieder allerhand über Lu, Stotzle, mich geredet. Es ist ganz merkwürdig. Man lebt so nebeneinander und miteinander und schließlich aneinander vorbei, aus Ungeschick oder Diskretion. Lu sagt, daß ihr Verhältnis zu Stotz ein fast rein intellektuelles gewesen, mit Musik und sachlichen Gesprächen: sie bedeutete ihm durch ihren Ernst, Gradheit, Wissen ein Ausruhen und Sichererwerden, er ihr die Möglichkeit, fröhlich und jung zu sein. Und weil er so auf sie eingehen kann, jenseits der Reflexion zu kommen. Und das Merkwürdige: während ich auf Lu eifersüchtig war, daß ihr Einfluß mir Stotzle entwand, war er eifersüchtig auf mich, daß Lu mich mehr liebe als ihn, und lief weg, wenn ich manchmal draußen war. Ich bin zu harmlos, um so was zu merken, und war erstaunt, als Lu mir dies heute vortrug. Ohne eine Ahnung, wie gefährlich nahe Lu und ich uns in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft gekommen waren, […].
Beruflich ist Lu als Journalistin im linken Spektrum der Publizistik des Kaiserreiches und der Weimarer Republik tätig. Die lebenslange Freundschaft mit dem Kunsthistoriker Martin Wackernagel wirkt prägend. Von 1914 bis 1928 ist Lu mit dem Künstler Wilhelm Repsold verheiratet, der sie auch später in dunkelster Zeit unterstützt. Dass der Bücherverbrennung 1933 auch ihre Schriften zum Opfer fallen und sie in den Jahren der Nazi-Diktatur nur mühsam in Publikations-Nischen ihr Dasein fristen kann, lassen ihr Engagement für die Idee einer Gesellschaft, die das Schöne, Ästhetische als Grundnahrungsmittel, als Daseinsvorsorge begreift, nie erlahmen.
Ihr wichtigstes Werk „Wesen und Veränderung der Formen/Künste“ von 1924 mit seinen Vorstufen darf als eine der interessantesten produktionsästhetischen Studien gelten, die als Extremposition im Werkbund einerseits Bauhaus-Ideen vordenkt – sie publiziert ihre Ideen früh im Umfeld von Walther Gropius –, andererseits die Grundlagen einer sozial- und bildungspolitischen ästhetischen Gesellschaftsutopie darstellt.
Es wird vermutet, dass Lu Märten von 1923 bis zu ihrem Tod durchgehend in der Albrechtstraße 72c in Steglitz gelebt hat.
(Text von 2024 aus dem Buch “...Immer Luise”; mit freundlicher Genehmigung des Verfassers).
Verfasserin: Siegfried Carl
Lu Märten, von Marianne Goch (1995)
Zitate
Ihren marxistischen Kritikern hielt sie entgegen: »Der historische Materialismus ist kein Zahnstocher, mit dem man nur gerade bis auf die kritischen Schäden gelangt, sondern ein Wurzelinstrument.«
Von Kunst reden kann doch für uns nicht heißen, von Wilde oder Shakespeare in erster Linie handeln, sondern vom Geist des Volkes.
Aus Nachahmung, Spiel und Mitteilung entsteht Kunst.
Die höchste Kunst grüßen wir erschüttert da, wo die Form dem Inhalt so nahe kommt, dass sie anders nicht mehr zu denken ist.
Unter der Herrschaft des Kapitalismus ist Kunst und geistige Arbeit eine Ware geworden wie jede andere.
Die Musik steht jenseits aller verstandesgemäßen Bedingtheit oder Möglichkeit.
Was die Musik des Wilden ausdrücken kann, ist das Gleiche, was die Musik unserer Tage ausdrückt. Gefühle ohne Begriffe.
(alle Zitate außer dem ersten aus: Knischek, Stefan (2006): Lebensweisheiten berühmter Philosophinnen. »Freiheit ist das höchste Gut«. Baden-Baden: Humboldt (Humboldt-Paperback Information & Wissen, 4072). ISBN 3-89994-072-5.)
Links
Google Buchsuche: Lu Märten.
Online verfügbar unter http://www.google.de/search?tbs=bks%3A1&q=Lu+Märten, zuletzt geprüft am 17.09.2019.
International institute of social history: Lu Märten Papers. Correspondence with prominent persons.
Online verfügbar unter http://hdl.handle.net/10622/ARCH00849, zuletzt geprüft am 17.09.2019.
Kambas, Chryssoula (1987): Märten, Lu. In: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 641-643.
Online verfügbar unter https://www.deutsche-biographie.de/sfz55568.html#ndbcontent, zuletzt geprüft am 17.09.2019.
Kuni, Verena (2002): Die Künstlerin als Arbeiterin (an) der Gesellschaft. Lu Märtens zeitgemässe Betrachtungen zur Ökonomie der namenlosen Genialität. Buchbesprechung, in: querelles-net, Nr. 6 (2002).
Online verfügbar unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/viewArticle/114/116, zuletzt geprüft am 17.09.2019.
Literaturarchiv der Akademie der Künste: Lu Märten Archiv.
Online verfügbar unter https://archiv.adk.de/bigobjekt/24878, zuletzt geprüft am 17.09.2019.
Literatur & Quellen
Dehning, Sonja (2000): Lu Märten – Torso. Das Buch eines Kindes (1909).
In: Dehning, Sonja: Tanz der Feder. Künstlerische Produktivität in Romanen von Autorinnen um 1900. Würzburg. Königshausen & Neumann (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, 317). ISBN 3-8260-1824-9. S. 181–217.
(Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Märten, Lu (1909): Bergarbeiter. Schauspiel in einem Akt. Stuttgart. Dietz.
(WorldCat-Suche)
Märten, Lu (1914): Die Künstlerin. Eine Monographie. Herausgegeben von Chryssoula Kambas. Bielefeld. Aisthesis. 1914. ISBN 3-89528-298-7.
(Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Märten, Lu (1914): Die wirtschaftliche Lage der Künstler. München. G. Müller.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Märten, Lu (1921): Historisch-Materialistisches über Wesen und Veränderung der Künste. (Eine pragmatische Einl.). Berlin. Junge Garde. (Internationale Jugendbibliothek, Nr. 15)
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Märten, Lu (1924): Wesen und Veränderung der Formen und Künste. Resultate historisch-materialistischer Untersuchungen. Frankfurt am Main. Taifun-Verlag.
(Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Märten, Lu (1948): Bürgermeister Tschech und seine Tochter. Erinnerungen an den Vormärz (1844). Berlin. Grosser.
(Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Märten, Lu (1982): Formen für den Alltag. Schriften, Aufsätze, Vorträge. Dresden. Verlag der Kunst. (Fundus-Bücher, 79)
(Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Quellen
Brinker-Gabler, Gisela, Ludwig, Karola und Wöffen, Angela (Hg.) (1986): Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen. 1800 – 1945. München. Deutscher Taschenbuch-Verlag. (dtv, 3282) ISBN 3-423-03282-0.
(Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Budke, Petra (1995): Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk. 1. Aufl. Berlin. Orlanda-Frauenverlag. ISBN 3-929823-22-5.
Mehr dazu unter http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/95_0217.html / http://www.bsz-bw.de/rekla/show.php?mode=source&eid=IFB_99-B09_498
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Geisel, Beatrix: Unterdrückte Sozialismuskritik. Lu Märten, eine frühe feministische Dissidentin. In: Feministische Studien, 1/1991. . S. 28–45.
Geisel, Beatrix (1989): »Nach Zwecken zerteilt«. Lu Märten – ein »weibliches« Rezeptionsschicksal. Unveröffentlichte Rezeptionsanalyse.
Kambas, Chryssoula (1988): Die Werkstatt als Utopie. Lu Märtens literarische Arbeit und Formästhetik seit 1900. Tübingen. Niemeyer. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 19) ISBN 3-484-35019-9.
Mehr dazu unter http://www.gbv.de/dms/hbz/toc/ht003121471.pdf
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Märten, Lu (1982): Formen für den Alltag. Schriften, Aufsätze, Vorträge. Dresden. Verlag der Kunst. (Fundus-Bücher, 79)
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